KAPITEL 7
Joe Jensen rief Tracy an, als sie gerade von Dr. Kramers Büro zurück in die Innenstadt fuhr. »Erst die schlechte oder erst die gute Nachricht?«
Nach ihrer Unterhaltung mit Dr. Kramer hatte Tracy von schlechten Nachrichten erst einmal genug. »Eine gute Nachricht wäre mir lieber.«
»Die Videoabteilung konnte den Subaru nicht weiter verfolgen, nachdem er die Kreuzung verlassen hatte. Das mag daran liegen, dass da fast nur Wohngebiete sind und wenig Kameras.«
»Wenn das die gute Nachricht ist, will ich die schlechte gar nicht wissen.«
»Pass auf, jetzt wird es gut: Die Polizei erhielt einen Anruf von einer Frau, die dort in der Nachbarschaft wohnt.«
»Sie haben den Wagen gefunden?«, fragte Tracy.
»Einen schwarzen Subaru mit Beschädigungen am Kühler und am Frontscheinwerfer.«
»Wo?«
»Ein leer stehendes Grundstück hinter dem Haus der Frau, nicht weit von der Kreuzung entfernt.«
Eine halbe Stunde später fuhren Tracy und Kins zu der angegebenen Adresse an der Renton Avenue South. An der Straße wurden gerade irgendwelche Reparaturarbeiten vorgenommen, sie war von orangefarbenen Kegeln und Arbeitern in gelben Jacken und weißen Mützen gesäumt. Kins fuhr an den Straßenrand, wo er hinter einem Streifenwagen hielt, der auf einer abschüssigen Einfahrt parkte. Er stieg aus dem Auto und ließ seine Dienstmarke aufblitzen, um den übereifrigen Arbeiter zu beruhigen, der angelaufen kam, um ihnen zu sagen, sie dürften hier nicht stehen bleiben.
»Sie fahren einen Prius?«, fragte der Mann ungläubig.
Sie hatten den Wagen, den Kins liebevoll die Toyota-Nähmaschine nannte, aus dem Fahrzeugpool bekommen.
»Unser Beitrag zum Umweltschutz«, sagte Kins.
Tracy zog ihre Handschuhe an und auf dem Weg zum kleinen, einstöckigen Schindelhaus ihre Jacke fester um sich. Das Haus war typisch für diese Gegend, ebenso die Betonstufen, die zur Haustür führten. Oben angekommen, drehte Tracy sich um – Kins war nicht mitgekommen, er stand immer noch an der untersten Stufe. »Alles in Ordnung?«
»Lass mir noch eine Sekunde«, bat er. »Ich habe gerade gesessen und es ist kalt – ganz schlechte Mischung.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht machte er sich an den Aufstieg. Tracy wartete auf ihn, um dann mit ihm gemeinsam den in Haustürnähe wartenden uniformierten Beamten anzusprechen. Der wirkte halb erfroren, hatte die Hände tief in den Taschen seiner blauen Uniformjacke vergraben, den Kragen hochgeklappt, sodass er das Kinn darin verstecken konnte, und eine Basecap der Polizei von Seattle tief in die Stirn gezogen. Kins machte einen Bogen um ein Kinderfahrrad, das im Vorgarten lag.
»Mein Partner ist hinten und unterhält sich mit der Besitzerin«, begrüßte sie der Beamte, jedes Wort ein kleines Wölkchen, als rauche der Mann eine Zigarette. Er führte sie einen Betonpfad entlang zu einem Holztor am Ende des Grundstücks. »Als wir hier eintrafen, fiel mir ein, dass wir beim Morgenappell gebeten worden waren, nach einem Auto Ausschau zu halten. Ein schwarzer Subaru, richtig? Sieht so aus, als wäre er in einen Unfall verwickelt gewesen.«
Der Beamte zog an einem Strick, woraufhin das Tor leise knarrend aufschwang. Auf dem Grundstück hatte sich allerhand Müll angesammelt, aber darum herum war das Gras gemäht worden. Hier standen zwei ältere Wagen, die allem Anschein nach schon ein paar Jahre nicht mehr gefahren worden waren, ein Wohnmobil und diverse verrostete Bootsanhänger. Und ganz hinten, von ein paar Bäumen und Büschen teilweise verdeckt, stand ein schwarzer Subaru.
Neben dem Auto unterhielt sich Joe Jensen mit einer Frau in schwarzen Jeans, die sie sich in die Stiefel gestopft hatte. Dazu trug sie eine bis über die Knie reichende Daunenjacke. Jensen hatte sich wieder die schwarze Wollmütze aufgesetzt.
Tracy und Kins stellten sich vor.
»Ich habe es heute Morgen gesehen und dachte, es gehört einem von den Nachbarn«, erklärte die Frau aufgeregt, aber auch ein wenig verärgert. So ganz geheuer schien ihr all die Aufmerksamkeit nicht zu sein. »Mein Mann nimmt fünfzig Dollar im Monat, wenn man hier ein Auto oder einen Anhänger abstellen will, und hundert Dollar für das Wohnmobil. Ich bin dann heute Morgen, nachdem ich meine Tochter zur Schule gebracht hatte, rumgelaufen und habe bei den Nachbarn geklopft und mich erkundigt, ob irgendwer weiß, wem dieser Wagen gehört. Niemand wusste etwas, also habe ich angerufen, um ihn abschleppen zu lassen. Die sagten, das müsste ich im Voraus bezahlen.« Bei ihr klang das so, als hätte jemand eine ihrer Nieren von ihr verlangt. »Das ist nicht mein Auto. Glücklicherweise hatte es jemand als gestohlen gemeldet.«
Glücklicherweise, dachte Tracy.
Jensen sah Tracy und Kins an und verdrehte diskret die Augen. Wahrscheinlich hatte er sich die Tirade bereits anhören müssen, womöglich mehr als einmal. Die drei entschuldigten sich bei der Frau und gingen hinüber zum Fahrzeug.
»Wissen wir, wann das Auto als gestohlen gemeldet wurde?«, erkundigte sich Tracy bei Jensen. Sie spürte, wie sich die Kälte in ihre Wangen biss.
»Sieben Uhr heute Morgen. Der Besitzer sagt, der Wagen hätte nicht an seinem Platz gestanden, als er morgens damit losfahren wollte.« Jensen hielt das auf der Straße gefundene Scheinwerferglas in seinem durchsichtigen Beweismittelbeutel an den beschädigten linken Frontscheinwerfer des Subaru. »Passt. Das ist der Wagen, den wir suchen.« Auf der Beifahrerseite war die Windschutzscheibe geborsten und glich einem Spinnennetz, die Kühlerhaube war eingedellt. »Mein erster Eindruck – der Fahrer hat den Jungen erwischt, der landete auf der Kühlerhaube, knallte gegen die Windschutzscheibe und wurde nach vorn geschleudert. Deswegen lag er so weit von der Kreuzung entfernt.«
Ohne den Wagen zu berühren, warf Tracy einen Blick durch sämtliche Fenster. »Der Airbag ist aufgegangen.«
»Das ist gut«, meinte Jensen. »Wenn DNA des Fahrers darauf zu finden ist, wissen wir vielleicht, wer das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Aufpralls gefahren hat – falls dessen Daten irgendwo im System zu finden sind. Ich habe angerufen, um den Wagen in die Fahrzeuguntersuchungsstelle der Kriminaltechnik schaffen zu lassen, und wir bemühen uns um einen Durchsuchungsbeschluss für das Fahrzeug.« Die Untersuchungsstelle gehörte zum Kriminallabor der Washington State Patrol und befand sich direkt neben dessen Gebäude. »Möchtet ihr, dass ich die Spurensicherung hinzuziehe?«
Die Spurensicherung würde den Wagen untersuchen, wenn der Fall eindeutig in den Zuständigkeitsbereich der Mordkommission fiel. Tracy erinnerte sich daran, wie ablehnend sich Nolasco am Morgen in dieser Frage geäußert hatte, und beschloss, sie erst einmal nicht hinzuzuziehen. »Nein. Kümmert ihr euch drum, aber sagt mir bitte Bescheid, sobald ihr den Durchsuchungsbeschluss habt und in den Wagen könnt.«
»Wird gemacht.«
»Lebt der Besitzer hier in der Gegend?« Tracy ging davon aus, dass der Fahrer des Wagens von der Existenz dieses Grundstücks gewusst haben musste.
Jensen schüttelte den Kopf. »Laut Fahrzeugzulassungsstelle wohnt er in einem Apartment in Bremerton. »
»Bremerton?«, hakte Kins nach. »Was zum Henker hat das Auto dann hier zu suchen?«
»Ich nehme mal an, es hat etwas damit zu tun, dass das Fahrzeug gestohlen wurde«, sagte Jensen.
Bremerton war eine westlich von Seattle gelegene Stadt, die man entweder per Fähre über den Puget Sound erreichte, was ungefähr eine Stunde dauerte, oder über die Tacoma Narrows Brücke, die im Süden der Stadt lag. Das dauerte dann ungefähr anderthalb Stunden.
»Was macht der Fahrer in Bremerton?«, fragte Tracy.
»Er ist bei den Streitkräften«, sagte Jensen.
»Na wunderbar.« Tracy schüttelte den Kopf.
Bremerton beherbergte nämlich außerdem eine der größten Marinewerften der USA.
Tracy und Kins hätten die Abfahrt der Fähre um ein Haar verpasst, weil die Verkehrsbehörde mehrere zum Fährterminal führende Straßen gesperrt hatte, was Kins Anlass zu einer Tirade über eine seiner größten Hasskappen gab: die Verkehrspolitik. Ursprünglich hatte sich das Bauvorhaben, das nun schon so lange zu großen Behinderungen führte, ganz einfach angehört: Der Verkehr auf einer der Hauptverkehrsadern der Stadt sollte zukünftig durch einen Tunnel statt wie bisher über eine Hochstraße geführt werden. Es mussten also ein Tunnel gebohrt und eine Hochstraße abgerissen werden. So weit, so gut. Nur war leider wieder einmal alles nicht so glattgegangen, wie erhofft, und jede Menge Verzögerungen, Gerichtsverfahren und laufend steigende Kosten hatten vielen Bürgern den Spaß an dem Unternehmen gründlich verdorben.
So auch Kins. »Die werden nicht rechtzeitig fertig und wir Steuerzahler dürfen das Doppelte blechen – so haben wenigstens alle was davon«, höhnte er bei jeder halbwegs passenden Gelegenheit.
Sie stellten den Wagen auf dem Parkdeck ab und gingen nach oben in die Kantine der Fähre, denn immerhin sollte die Überfahrt eine Stunde dauern. »Ich hole mir einen Kaffee, willst du auch was?«, wollte Kins wissen.
Tracy lehnte ab. Sie suchte sich einen freien Tisch und beobachtete durchs Fenster, wie die Skyline von Seattle langsam verschwand, während sich das Schiff mit leise und gleichmäßig stampfenden Maschinen seinen Weg durch die schiefergrauen Wellen des Puget Sound bahnte. Tracy fuhr ihren Laptop hoch und rief die Informationen auf, die sie über den Besitzer des Subaru in den Datenbanken der Verkehrsbehörde, des Militärs und der Strafverfolgungsbehörden zusammengetragen hatten. Der Mann hieß Laszlo Gutierrez Trejo. Er hatte zweimal einen Strafzettel wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit kassiert, aber keinen Eintrag im Strafregister. Er war seit fünf Jahren bei der Marine, wo er den Rang eines Logistikspezialisten, kurz LS, bekleidete, ein Begriff, mit dem Tracy nichts anfangen konnte, weswegen sie ihn gegoogelt hatte. Wenn sie es richtig verstanden hatte, betreute ein Logistikspezialist die Vorratskammern auf einem Schiff oder arbeitete an Land in den Lagerhäusern von Militärbasen.
Sie hatte bei Trejo angerufen und einen Termin ausgemacht, angeblich, weil sie noch zusätzliche Informationen zu seinem gestohlenen Auto brauchten. Da er eigenen Angaben zufolge nur diesen einen Wagen besaß, konnte er selbst nicht in die Stadt kommen, weswegen Tracy und Kins nun unterwegs nach Bremerton waren. Trejo wohnte ungefähr vier Meilen nördlich des Marinestützpunkts Kitsap in einer Wohnanlage der Navy, die sich Jackson Park nannte.
Kins brachte nicht nur seinen Kaffee mit an den Tisch, sondern hatte sich auch gleich noch einen reichlich mit Zwiebeln und Relish dekorierten Hotdog besorgt.
Tracy zog spöttisch die Brauen hoch. »Ich dachte, du machst Diät.«
»Das ist mein Abendessen.«
»Und die Zwiebeln waren jetzt unbedingt notwendig?«
»Ich liebe Zwiebeln auf einem Hotdog.«
»Aber die Zwiebeln lieben dich nicht. Ich kann nur hoffen, du hast Pfefferminzbonbons dabei.«
»Sei doch ein bisschen nett zu mir, du sprichst mit einem verurteilten Mann!«
Tracy stöhnte. »Eine simple Hüftoperation, mehr nicht. Hast du echt solche Angst oder willst du mich nur nerven?«
»Natürlich habe ich Angst. Die geben mir eine Narkose, wer weiß, ob ich wieder aufwache.«
»Die können das, Kins, die haben das schon tausend Mal gemacht.«
»Genau das hat der Arzt auch gesagt. Und weißt du, was? Mir ist es egal, wie oft alles gut gelaufen ist. Mich interessieren die Male, bei denen es schiefging.«
»Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Du bist jung und gesund, also hör auf, so viel zu hirnen.«
Kins legte seinen Hotdog ab. »Ich habe drei Kinder, Tracy. Drei Kinder, die ich alle erst noch durchs College bringen muss. Wenn der Letzte von ihnen seinen Abschluss macht, bin ich dreiundfünfzig – falls keiner ein Graduiertenstudium dranhängt! Weißt du, was so ein College heutzutage kostet? Ich spreche hier von mehreren Hunderttausend Dollar.«
Tracy konnte nicht anders, sie stellte blitzschnell im Kopf ihre eigene Rechnung auf. Wenn Dan und sie jetzt ein Kind bekämen, dann wäre sie Mitte sechzig, wenn das Kind mit dem College durch wäre. Die Götter mochten wissen, was so ein Studium dann kostete.
Kins biss in seinen Hotdog und wischte sich mit der Serviette Senf aus dem Mundwinkel. »Und was hältst du von unserem Mann? Diesem Laszlo?«
»Ich finde, wenn er es war, war er an dem Abend ziemlich spät ziemlich weit weg von zu Hause.«
»Dann kannst du dir vorstellen, dass er die Wahrheit sagt und der Wagen wirklich gestohlen wurde?«
»Hören wir uns an, was er zu sagen hat. Ich bin erst einmal ganz offen.«
»Notieren die auf dem Stützpunkt nicht, wann die Leute kommen und gehen?«
»Er wohnt nicht auf dem Stützpunkt. Er wohnt in einem Apartmentkomplex.«
Kins runzelte die Stirn. »Du hast gesagt, er wohnt in einem Haus, das der Navy gehört.«
»Ja, aber nicht auf dem Stützpunkt. Deswegen können wir auch mit ihm reden, ohne vorher einen Eiertanz aufführen zu müssen. Ein Segen! Hattest du etwa noch nie mit der Navy zu tun?«
»Nein.« Kins kaute hingebungsvoll seinen Hotdog. »Du?«
»Und ob, ein Mal. Einbruch in einem Wohnhaus. Ein Mann, der bei der Navy war, hatte seine Exfreundin ausgeraubt und das NCIS wurde hinzugezogen.« NCIS stand für Navy Criminal Investigation Services, die Ermittlungsbehörde, die sich mit der Aufklärung von Straftaten im Bereich der Marine befasste. Die Ermittler waren Zivilisten, das Navy- Äquivalent zu Detectives. »Es war der reine Albtraum, bis wir überhaupt mit dem Mann reden durften. Letztendlich fanden sie dann aber doch, der Fall gehöre nicht in ihren Zuständigkeitsbereich, und zogen sich zurück.«
»Ich habe gehört, dass sie ganz schön schwierig sein können.«
»Die besten Leute aus den Strafermittlungseinheiten sind nach dem elften September dort abgezogen und zu den Antiterroreinheiten versetzt worden, heißt es. Der Rest ist lange nicht so gut und auch nicht so kooperativ wie die Leute vorher. Aber Laszlo wohnt in einem Bereich, für den zivile Stellen zuständig sind. Wir können also mit ihm reden, ohne uns vorher die Genehmigung des NCIS zu holen.«
Eine Stunde und fünfzehn Minuten nach der Abfahrt legte die Fähre mit einem leichten Ruck am Fährterminal von Bremerton an. Die Sonne war verblasst, Dämmerung und Wolkendecke ließen Häuser und Straßen fast ebenso grau aussehen wie das Wasser. Außerdem war die Temperatur empfindlich gefallen und betrug gerade mal um die drei Grad. Tracy und Kins saßen in ihrem Auto und warteten darauf, vom Schiff fahren zu können.
»Und wie gefällt es dir so, am Rande der Welt zu wohnen?«, wollte Kins wissen.
»Was bist du doch für ein Snob!« Kins wohnte in Madison Park, in der Nähe der Uni. »Redmond ist ziemlich weit vom Ende der Welt entfernt.«
»Fehlt dir West Seattle?«
»Mir fehlt der kurze Arbeitsweg. Und der Blick natürlich.« Vom Haus in West Seattle bis zum Büro waren es mit dem Auto gerade mal fünfzehn bis zwanzig Minuten gewesen und einen Blick wie den von der Terrasse über die Elliot Bay bis hin zur Skyline von Seattle bekam man so schnell nicht wieder. »Manchmal brauche ich jetzt morgens eine Stunde ins Büro. Aber das Haus ist total gemütlich, und wenn ich erst mal da bin, kommt mir die Arbeit meilenweit entfernt vor.«
Ein Mitarbeiter der Fährlinie dirigierte die Wagen vom Schiff. »Dan und du – sprecht ihr über Kinder?«, fragte Kins.
Die Frage kam unerwartet. Tracy stellte sich dumm. »Ab und an mal. Warum?«
Er zuckte die Achseln. »Du hast gesagt, du willst Kinder.«
»Irgendwann mal.«
»Und versucht ihr es?«
Sie lachte. »Das ist mir jetzt ein bisschen zu persönlich.«
»Sich an einen neuen Partner gewöhnen zu müssen auch – worauf ich mich mit nur einer guten Hüfte nicht freuen würde.«
»Ich geh nirgendwo hin, Kins. Du schon.«
»Meine Frau hat ihren Beruf auch nicht aufgegeben, nachdem wir geheiratet haben. Aber wenn man Kinder hat, ändert sich einiges.«
Tracy schüttelte den Kopf. Sie wusste, warum ihr Partner so gereizt war. Er fürchtete sich vor der Operation und der erzwungenen Ruhezeit danach. »Du kriegst neun Monate vorher Bescheid, dann kannst du dich schon mal dran gewöhnen.«
»Aber jetzt bist du doch nicht etwa schwanger?«
»Nein«, sagte sie. »Bin ich nicht.« Der Wagen vor ihnen bewegte sich. »Fahr zu, sonst hängen wir morgen noch auf dieser Fähre.«
»Dann fütter mal die Eichhörnchen«, sagte Kins in Anspielung auf den Mangel an Pferdestärken beim Prius.
Auf den ersten Blick machte Jackson Park eigentlich gar keinen so schlechten Eindruck. Die Wohnanlage grenzte im Osten an die Ostrich Bay, im Westen an den Kitsap Golf- und Country-Club und bot, wie so oft in der Nähe von Militärstützpunkten, auf den ersten Blick alles, was die Angehörigen der Navy und ihre Familien benötigten: Kindertagesstätte, Grundschule, Krankenhaus, eine Tankstelle mit angeschlossenem kleinen Supermarkt und Sportplätze für Tennis und Basketball. Tracy entdeckte auf ihrem Weg durch das Labyrinth an Straßen nicht einen Fetzen Papier. Die Rasenflächen wirkten wie mit der Nagelschere gepflegt und die schmucken Häuser mit ihren Holzverkleidungen sahen selbst im fahlen Dämmerlicht frisch gestrichen aus. Es handelte sich um ein- und zweistöckige Gebäude, die alle nach dem gleichen Muster entworfen worden waren. Schilder wiesen den Weg zu Parkplätzen in Carports oder auf Stellflächen jenseits der breiten, abschüssigen Rasenflächen vor den Häusern. Bei einem solchen Arrangement konnte schon einmal ein Auto gestohlen werden, ohne dass jemand es mitbekam, fand Tracy.
»Wie in dem Film mit Jim Carrey«, stellte Kins angesichts dieser makellosen Welt fest. »Wo sie alle in einer Filmkulisse wohnen.«
»Die Truman Show?«
»Genau. Irgendwie unheimlich, wie perfekt hier alles ist.«
Unheimlich und verlassen. Zum Teil wohl auch, weil es so bitterkalt geworden war, aber trotzdem war es seltsam, durch einen Stadtteil zu fahren, in dem nicht eine Menschenseele herumlief, herumfuhr oder wenigstens das Hündchen ausführte. Vielleicht war der Subaru ja wirklich gestohlen worden. An einem Abend wie diesem hier hatte das bestimmt niemand mitbekommen.
Laszlo Trejo wohnte im Erdgeschoss eines Hauses direkt neben einem eingezäunten Basketballplatz. Kins stellte ihr Auto auf dem für Besucher ausgewiesenen Parkplatz ab, dann folgten sie einem mit Straßenlaternen gut ausgeleuchteten, von Bäumen gesäumten Fußweg zum Haus. Drei Stufen führten hoch zur Erdgeschosswohnung. Kins klopfte und einen Moment später wurde die Tür von einer Frau lateinamerikanischer Herkunft geöffnet, die Ende zwanzig sein mochte und ihnen zur Begrüßung zulächelte.
»Sie müssen die Polizisten aus Seattle sein«, sagte sie mit dem Hauch eines mexikanischen Akzents in der Stimme, ehe sie Tracy und Kins in den Flur bat und die Tür hinter ihnen schloss. »Laz ist gerade erst nach Hause gekommen.« Sie führte sie in ein ordentliches, wenn auch sparsam möbliertes Wohnzimmer, dessen weiße Stühle und das ebenfalls weiße Sofa aussahen wie mit der Wohnung gemietet. »Ich hole ihn.«
Ans Wohnzimmer schloss sich ein Stück Linoleumboden mit einem Küchentisch darauf an. Tracy trat an den Kamin, auf dessen Sims ein paar gerahmte Fotografien standen, die Trejo und seine Frau bei ihrer Hochzeit zeigten. Sie trug ein weißes Kleid, er eine ebenfalls weiße, strahlend saubere Marineuniform. Die Wohnung war warm und roch, wie Tracys Wohnung früher gerochen hatte, wenn sie mal ein paar Tage nicht dazu gekommen war, Rogers Katzenklo sauber zu machen.
»Sind Sie die Polizisten aus Seattle?«
Laszlo Trejo betrat das Wohnzimmer vom Flur aus. Er trug die blaugrau gefleckte Tarnhose der Navy, die er sich in die schwarzen Stiefel gesteckt hatte, und das dazu passende Hemd. Er mochte ein Meter siebzig groß sein, nicht viel größer als seine Frau, hatte dichtes, schwarzes Haar und hielt eine Dose in der Hand, die Tracy anfangs für eine Bierdose hielt. Als er daraus trank, wurde allerdings schnell klar, dass es sich um einen Energydrink handelte.
»Haben Sie mein Auto gefunden?« Trejos Akzent war deutlicher als der seiner Frau. Der Mann sah nicht so aus und hörte sich auch nicht so an, als hätte er irgendetwas zu verbergen oder fühle sich durch den Besuch zweier Polizisten auch nur im Geringsten eingeschüchtert.
»Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Mr Trejo«, begann Kins.
»Ich habe bereits mit einer Polizistin gesprochen. Der habe ich alles gesagt, was ich weiß.« Das klang nicht besonders freundlich, allerdings auch nicht direkt feindselig.
»War das eine Beamtin aus Bremerton?«
»Ja.«
»Ihr Auto wurde in Seattle gefunden«, sagte Kins.
»Das hat sie mir bereits am Telefon gesagt.« Trejo deutete auf Tracy.
»Wann haben Sie Ihren Wagen das letzte Mal gesehen?« Tracy wollte möglichst rasch auf den Punkt kommen, um Trejo nicht die Gelegenheit zu geben, die Gesprächsrichtung zu bestimmen.
Inzwischen war klar, dass sie nicht hier waren, um ihm einfach nur die Autoschlüssel zu überreichen. Trejo setzte sich auf einen der weißen Stühle. »Montagabend. Ich kam von der Arbeit nach Hause und stellte das Auto im Carport ab.« Er nippte an seinem Drink, spielte mit der Dose.
Tracy und Kins setzten sich auf die Couch, vor der ein kleiner Tisch stand. Je mehr Trejo sagte, desto stärker bekam Tracy das Gefühl, dass er sich seine Worte genau zurechtgelegt hatte. Das würde auch seinen anfänglichen Versuch erklären, das Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken. Er schien sich zunehmend unwohl zu fühlen, seitdem ihm das nicht gelungen war und er seinem Skript nicht mehr folgen konnte. Statt Blickkontakt herzustellen, sah er auf den Boden und drückte die Aludose mit dem Energydrink zusammen, bis es knackte.
»Wann sind Sie von der Arbeit nach Hause gekommen?«, wollte Tracy wissen.
»Ich glaube, das war gegen sechs.«
»In welchem Carport haben Sie geparkt?«
»Dem gleich da vorn auf dem Hügel.« Er deutete vage in eine Richtung.
»Können Sie den von hier aus sehen?«
Trejo schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Und Sie sind nicht noch einmal ausgegangen?«, fragte Tracy weiter.
»An dem Abend nicht.«
»Ihre Frau hat den Wagen nicht noch einmal weggefahren?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Und wann fiel Ihnen auf, dass er verschwunden war?«
»Am nächsten Morgen, als ich zur Arbeit fahren wollte und mein Auto nicht da war.« Er zuckte die Achseln. »Das habe ich doch alles schon der Frau erzählt, die meine Anzeige aufgenommen hat.« Jetzt klang er wieder wie ein Schauspieler, der seinen Text abliest.
»Wir haben den Bericht noch nicht lesen können«, erklärte Kins.
»Wie wurde das Auto also gestohlen?«, fuhr Tracy fort. »Sie hatten den Schlüssel, richtig?«
»Ja, aber ich habe eins von diesen Schlüsselverstecken unter der hinteren Stoßstange. Vielleicht haben sie das gefunden.«
»Wer wusste von diesem versteckten Schlüssel?« Tracy war skeptisch, wollte sich das aber nicht anmerken lassen.
»Ich weiß nicht«, sagte Trejo. »Vielleicht hat es ja jemand gesehen.«
»Was taten Sie, als Sie merkten, dass der Wagen nicht da war?«, fragte Tracy.
»Ich bin hierher zurückgekommen und habe meine Frau gefragt, wo er ist«, sagte er, jetzt wieder deutlich im Text. »Sie sagte, sie hätte keine Ahnung. Also habe ich die Polizei angerufen und den Diebstahl gemeldet.«
»Und was hat die Polizei unternommen?«
Trejo runzelte die Stirn. Er wirkte langsam irritiert, genau wie Tracy beabsichtigt hatte. »Sie haben eine Beamtin geschickt. Sie hat mir dieselben Fragen gestellt wie Sie eben und gesagt, sie würde einen Bericht schreiben. Dann sagte sie noch, sie würden sich wieder melden. Und danach war mir nicht klar, wie ich nun zur Arbeit kommen sollte.«
»Sie haben nur dieses eine Auto?«, wollte Tracy wissen.
»Das sagte ich doch bereits am Telefon.« Trejo stellte die Dose auf dem Couchtisch ab und beugte sich zu Kins vor. »Darf ich Sie jetzt mal was fragen? Haben Sie mein Auto jetzt gefunden oder nicht?«
»Kennen Sie jemanden in Seattle, Mr Trejo?«, mischte Tracy sich ein.
Er warf ihr einen Blick zu. »Ob ich da jemanden kenne? Was soll das heißen?«
»Haben Sie Freunde in Seattle? Oder jemanden aus der Familie, der dort wohnt?«
»Nein.« Trejo griff nach seiner Dose und nippte daran. Auch diese Geste fand Tracy nicht locker, sondern eher gespielt. Als wolle er sich von ihr und der Frage distanzieren.
»Wo sind Sie zu Hause?« Sie ließ nicht locker
»Hier.«
»Ich meine, wo sind Sie aufgewachsen?«
»Ich stamme aus der Gegend von San Diego. Was hat das …«
»Sie sind seit fünf Jahren in der Navy?«
»Fast sechs.«
»Und haben nie in Seattle gelebt?«
»Nein, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Was machen Sie in Bremerton?«
»Ich bin Logistikspezialist für das FLC.«
»Was heißt FLC?«
»Fleet Logistic Center – das Logistikzentrum der Flotte.«
»Was machen Sie da? Was genau ist Ihr Job?«
»Wenn ich an Bord bin, arbeite ich im Lagerraum. Wenn das Schiff im Dock liegt, arbeite ich im Warenlager. Was hat das mit meinem Auto zu tun?«
»Sie bestellen Teile, halten die Inventur auf Stand, solche Sachen?« Tracy ließ sich nicht beirren.
»Genau.«
»Und waren Sie auch schon einmal in Übersee?«
Er nickte. »Ich habe in Kuwait und im Irak gearbeitet.«
»In Versorgungslagern?«
»Genau. Ach ja, Afghanistan. Da war ich auch.«
»Welches Schiff?«
»Die USS Stennis.«
»Was für ein Schiff ist das?«
»Ein Flugzeugträger. Ein nukleargetriebener Flugzeugträger.«
»Wann waren Sie in Afghanistan?«
»Das letzte Mal? Zweitausenddreizehn. Was hat das alles mit meinem Auto zu tun?«
Tracy hoffte weiterhin, Trejo von seinem Skript loseisen zu können, indem sie einfach nicht lockerließ. »Und im Nahen Osten? Wann waren Sie da das letzte Mal?«
»Zweitausendzwölf.«
»Wie lange sind Sie jetzt wieder auf dem Stützpunkt in Bremerton?«
»Vier Monate.«
»Und wo war das Schiff davor?«
»Thailand.« Trejo warf Kins einen hilfesuchenden Blick zu. »Haben Sie meinen Wagen jetzt gefunden? Kann ich ihn abholen?«
»Ihr Wagen wurde in Seattle gefunden, Mr Trejo«, warf Kins ein.
»Das hatte ich mir jetzt fast schon gedacht.« Das kam nicht ohne einen gewissen Sarkasmus. »Kann ich ihn abholen?«
»Sie haben keine Ahnung, wie er nach Seattle gekommen sein könnte?«, fragte Tracy.
»Wie ich bereits mehrfach sagte: Jemand muss ihn gestohlen haben.«
»Wurden hier in der Gegend schon öfter Autos gestohlen?«
Trejo zuckte die Achseln. »Davon weiß ich nichts. Danach sollten Sie die Polizei fragen. Wann kann ich mein Auto wiederhaben?«
»Das dürfte noch ein bisschen dauern.«
»Warum?« Inzwischen zeigte sich Trejo deutlich verärgert. »Ich brauche dieses Auto, um zur Arbeit zu kommen.«
»Ihr Wagen war an einem Unfall mit Fahrerflucht beteiligt, Mr Trejo.« Tracy ließ Trejo nicht aus den Augen. War diese Information neu für ihn? Der Mann ließ sich nichts anmerken.
»Ein Zusammenstoß mit einem anderen Auto? Mann! Wie schlimm ist der Schaden?«
»Ein Zusammenstoß mit einem Fußgänger. Mit Ihrem Auto wurde ein zwölfjähriger Junge getötet, Mr Trejo.«
Trejo, der den Blick nach wie vor unverwandt auf den Boden gerichtet hielt, sagte einen Augenblick lang nichts. Das konnte eine durchaus normale Reaktion sein. »Das ist ja schrecklich!«, meinte er schließlich und nippte an seinem Drink.
»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Tracy.
Trejo stellte die Dose auf den Tisch. Tracy wartete, bis er sie ansah.
»Wie kam es zu der Schnittwunde an Ihrer Stirn?«