KAPITEL 11
Gleich als Erstes am Mittwochmorgen traf Tracy bei der Dienststelle des kriminaltechnischen Labors der Washington State Patrol ein, in der Kraftfahrzeuge kriminaltechnisch untersucht werden konnten. Sie hatte wieder nur wenig geschlafen, weil sie trotz Spätschicht schon früh auf gewesen war, um sich mit Joe Jensen zu treffen. Hierbei war sie sogar schneller als Kins gewesen, der sich gerade auch ziemlich übernahm, aber erst einmal seine Kinder zur Schule bringen musste, wie er ihr per Handy mitgeteilt hatte. Sie bekamen Überstundenzulage, wenn sie doppelte Schichten arbeiteten, was Tracy nett gefunden hatte, solange sie noch jung und ungebunden gewesen war. Inzwischen war ihr eine Runde Schlaf mehr wert als das Geld und sie wusste, Kins ging es ebenso.
Bei ihrer Ankunft waren die Kriminaltechniker gerade mit dem Subaru beschäftigt. Jensen begrüßte sie, hatte aber kein Lächeln für sie übrig. Im Gegenteil: Er schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. »Jemand hat dieses Auto innen und außen gründlich sauber gemacht.«
»Soll das heißen, sie finden keine Fingerabdrücke?«
»Sie finden Fingerabdrücke, aber nicht da, wo man sie erwarten würde.« Jensen ging mit ihr zum Auto. »Zum Beispiel ist der Türgriff außen an der Fahrerseite sauber.«
»Was ist mit dem Airbag?«, wollte Tracy wissen.
»Nichts.«
»Nichts, weil ihn jemand sauber gemacht hat, oder nichts, weil dort nichts von der DNA des Fahrers hängen blieb?«
»Jemand hat den Airbag sauber gemacht. Wir haben Isopropylalkohol festgestellt und der kommt in ungefähr jedem auf dem Markt erhältlichen Desinfektionstuch vor.«
Tracy stieß einen leisen Pfiff aus. »Wurden solche Tücher im Auto gefunden?«
»Nein.« Jensen schüttelte den Kopf.
»Dann wissen wir, dass es vorsätzlich geschah.«
»Und gut durchdacht war. Weswegen ich den Airbag trotzdem weiter untersuchen lasse und außerdem noch das Blut auf dem Vordersitz, auch wenn das Wochen dauern wird.«
»Ihr habt im Auto Blut gefunden?«, fragte Tracy.
»Auf der Fahrerseite. Es ist ein Stoffsitz. Auch der ist sauber gemacht worden, man hat aber nicht alles erwischt.«
Tracy ging zur offenen Fahrertür und sah sich den Sitz an. »Kins und ich haben uns gestern Abend mit dem Besitzer des Wagens unterhalten. Er hatte an der Stirn gleich unter dem Haaransatz eine Schnittwunde.«
»Hat er auch gesagt, wo er die herhat?«
»Er sagt, er ist in seiner Küche gegen die Kante einer Schranktür gelaufen. Das Problem ist nur, es ist sein Auto.« Tracy dachte laut nach. »Er kann sich jede Menge Ausreden einfallen lassen, wie sein Blut auf den Sitz kommt.«
»Vielleicht.« Jensen grinste verschmitzt. »Aber das hier, das kriegt er vielleicht nicht so leicht erklärt.« Er hielt einen versiegelten Beweismittelbeutel mit einem Kassenbon hoch, der aussah, als wäre er zusammengeknüllt gewesen und dann wieder glatt gestrichen worden. »Das haben wir hinten zwischen dem Sitz und einer der Türen gefunden. Der Bon stammt aus einem Lebensmittelladen in Renton.« Jensen reichte die Quittung an Tracy weiter. »Gekauft wurden zwei Dosen Red Bull. Montagabend, 20.38 Uhr.«
»Die meisten dieser Läden haben inzwischen Videokameras«, sagte Tracy.
»Wenn das bei dem hier auch so ist, kriegen wir vielleicht ein Bild vom Autobesitzer und …«
Tracy unterbrach Jensen, um dessen Gedanken zu Ende zu führen: »Und wenn Trejo auf den Videos in dem Lebensmittelladen auftaucht, dann wird das Blut in dem Wagen gleich ziemlich relevant.«
Tracy holte Kins beim Polizeipräsidium ab, um mit ihm gemeinsam zum kleinen Supermarkt zu fahren, der sich in Renton gleich hinter einer Auffahrt zur Interstate 5 befand. Die Wand des Ladens zum Parkplatz hin zierten Graffiti und alte, zerfetzte Poster, die längst vergessene Konzerte ankündigten, an der Vorderseite waren die Stuckverzierungen und Aluminiumrahmen um Türen und Fenster fast schwarz vom Ruß der vielen, vielen Autos, die auf dem Freeway am Laden vorbeifuhren.
Über dem Gebäude schwebend wies eine grüne Werbetafel mit einem weißen Pfeil Autofahrern den Weg zur Ausgabestelle für Marihuana auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Hier kriegt jeder, was er braucht«, kommentierte Kins das Schild. »Auf der einen Straßenseite Gras, gleich gegenüber Cheetos, tiefgefrorene Burritos und literweise Cola.«
»Und Energydrinks«, ergänzte Tracy.
»Auf jeden Fall Energydrinks.«
Kins zog die Glastür auf und beide Detectives sahen sich um, als es daraufhin leise summte. Tracy entdeckte an der Innenseite des Türrahmens eine zerkratzte Messlatte, anhand derer sich die Größe der Kunden feststellen ließ. Oben an der Decke hing in einer Ecke eine einsame, auf die Tür und den Tresen des Kassierers gerichtete Kamera.
Im Laden roch es nach einem dieser Luftreiniger mit Vanilleduft, die sich manche Leute gern in ihr Auto hängten. Sämtliche Regale entlang der Gänge waren überladen, an den Gangenden stapelten sich zusätzlich noch Kartons. Die rückwärtige Wand wurde von großen, aufrecht stehenden Kühleinheiten voller Tiefkühlkost, Softdrinks und Alkohol dominiert. Kins und Tracy suchten sich einen Weg nach vorn zum Tresen mit der Kasse, die sich in einer kleinen Kabine befand, in der auch Zigaretten und Zeitschriften ausgestellt waren. Dort zeigte Kins einem dunkelhäutigen jungen Mann in hellblauem Arbeitskittel und Turban seine Dienstmarke. »Sind Sie Archie?«
Man brauchte keinen richterlichen Beschluss, um an die Videoaufnahmen dieser Überwachungskamera zu kommen, es sei denn, der Ladeninhaber verweigerte die Herausgabe, was Tracy in all ihren Jahren beim Dezernat für Gewaltverbrechen allerdings noch nie passiert war. Größere Sorgen bereitete ihr die Frage, ob das Band nicht längst überspielt war, denn die Videos liefen normalerweise in einer vierundzwanzigstündigen Schleife. Tracy hatte sich sofort nach dem Treffen mit Jensen im Laden gemeldet und nach Kameras gefragt, woraufhin ihr der Besitzer versichert hatte, sie hätten ein Überwachungssystem, allerdings nicht gerade das neueste. Er würde sich das Band ansehen und feststellen, ob die entsprechende Stelle überspielt war. Um das Ganze zu beschleunigen, hatte ihm Tracy die auf dem Kassenbon vermerkte Uhrzeit genannt.
»Archie ist hinten.« Der junge Mann deutete auf eine Schwingtür mit der Aufschrift »Nur für Mitarbeiter«. »Er wartet in seinem Büro auf Sie. Durch die Tür und gleich das erste Zimmer links. Sie können es nicht verfehlen.«
Der Lagerraum hinter der Schwingtür wirkte womöglich noch voller und chaotischer als der Laden selbst und roch schwach nach verdorbenen Lebensmitteln. Im Zimmer gleich links hinter der Tür saß ein Mann in hellblauem Arbeitskittel vor einem kleinen Fernseher. Auch er trug einen Turban und telefonierte gerade mit seinem Handy. Als Kins klopfte, drehte er sich um, musterte die beiden Detectives über den Rand seiner Lesebrille hinweg und winkte ihnen, näher zu kommen. »Sie sind hier«, sagte er ins Telefon. »Genau. Okay, ich rufe an.« Er beendete den Anruf und legte das Telefon hin, um Tracy und Kins die Hand schütteln zu können.
»Sind Sie Archie?«, erkundigte sich Kins erneut.
Der Mann nickte und fuhr sich durch den dichten, mit einzelnen grauen Strähnen durchsetzten Bart. »Ich habe gerade mit meinem Anwalt telefoniert.«
»Gibt es denn ein Problem?«, wollte Tracy wissen.
»Nein. Ich wollte nur sicher sein, dass Sie wirklich keinen Durchsuchungsbeschluss brauchen. Ich will keinen Ärger.« Er sprach mit einem deutlichen Akzent. »Mein Anwalt sagt, ein Beschluss ist nicht notwendig.«
»Haben Sie denn das Video?«, fragte Kins.
Archie deutete mit dem Kinn auf den Fernseher. »Ich habe das Band gerade durchgesehen. Dass auf den Kassenbons die Uhrzeit steht, hat mir eine Menge Zeit erspart.«
»Haben Sie es auf dem Computer?«, erkundigte sich Tracy.
»Nein.« Archie stand auf und ging zu dem Tisch, auf dem der kleine Fernseher und ein Videogerät standen. »So modern sind wir hier nicht.«
»Die Aufnahmen sind nicht digitalisiert?« Kins mochte es kaum glauben.
»Digi- was?«
»Ist das das Band?« Tracy zeigte auf die halb aus dem Schlitz des Videogeräts ragende VCR-Kassette.
»Ja.«
»Können Sie es für uns abspielen?«
»Selbstverständlich.«
Archie setzte sich, drehte seinen Stuhl wieder so, dass er den Fernseher vor sich hatte, und schob das Band in den Rekorder. Mit hocherhobenem Kinn, damit er durch die Brille sehen konnte, tastete er nach den Knöpfen auf der Fernbedienung, um dann zufrieden den Stuhl zurückrollen zu lassen, aufzustehen und zur Seite zu treten. Jetzt konnten auch Tracy und Kins den Bildschirm sehen. Das Bild war schwarz-weiß und eindeutig nicht von der besten Qualität. Da es ohne Ton lief, hörten sie nur das Summen und Surren des Bandes, was sich ganz danach anhörte, als hätte die altmodische Maschine schwer zu kämpfen und das Band könnte jeden Moment reißen. Auf dem Bildschirm betrat ein Mann in weißem Hemd mit einer Baseballkappe auf dem Kopf den Laden und steuerte zielstrebig die Kühlschränke hinten im Raum an. Tracy machte sich nicht die Mühe, das Band zu stoppen und seine Größe am Lineal in der Tür abzulesen. Das könnten sie später tun. Noch war nicht erkennbar, ob es sich bei dem Mann um Trejo handelte.
Er öffnete die Tür eines Kühlschranks, zögerte kurz, schloss sie wieder und öffnete die Tür daneben, nahm zwei Dosen aus dem Schrank und ging zur Kasse. Sobald er sich dem Tresen näherte, wurde das Bild besser. Nicht perfekt, aber gut genug. Tracy und Kins wussten Bescheid.