KAPITEL 13
Leah Battles bückte sich, bis ihr Kopf tiefer war als der Lauf der Pistole, ließ die Hände hochschnellen, griff mit beiden Händen nach der Waffe und rammte dem Angreifer ihr Knie in den Schritt. Dann wich sie zurück, während sie dem Mann gleichzeitig mit einem Ruck die Handgelenke verdrehte, ihm die Waffe entriss und damit auf seine Stirn zielte.
»Ganz nett«, kommentierte ihr Lehrer mit deutlich britischem Akzent. »Aber Sie haben gezögert.«
Battles musste sich auf die Zunge beißen, um ruhig zu bleiben. Bei diesem Typen gab es immer irgendein »aber«.
»Von einem können Sie ganz sicher ausgehen«, fuhr der Lehrer an den ganzen Kurs gewandt fort, »sobald Sie ihn angreifen, wird Ihr Gegner schießen. Wenn Sie also zögern, wenn Sie es nicht sofort schaffen, sich unter den Lauf der Waffe fallen zu lassen, dann sind Sie tot.« Er begleitete seine Worte mit einem lauten Klatschen. »Also: Es muss Ihnen immer ernst sein und Sie müssen entsprechend schnell handeln. Verstanden, Lee?« Lee war Battles Spitzname.
Battles nickte. Sie trainierte seit drei Jahren Krav Maga, hatte Level vier erreicht und hätte nicht zögern dürfen. Sie hätte es besser wissen müssen. »Verstanden.«
Klar hätte sie einen Grund für ihr Zögern finden können, zum Beispiel ihren harten Arbeitstag und den Mandanten, der wegen irgendwelcher Jugendstraftaten jetzt vor dem Militärgericht stand, aber das wäre eine Ausrede gewesen. Und Ausreden ließ Battles weder bei sich noch bei anderen gelten. Das Gesetz, hatte sie sagen hören, sei eine eifersüchtige Herrin. Schwachsinn! Das Gesetz war eine fordernde Schlampe, die einen nie in Ruhe ließ, aber das hatte Leah gewusst, als sie sich für den Beruf einer Strafverteidigerin entschied. Ihr Job nahm jede Menge Zeit in Anspruch, was oft genug auch körperlich anstrengend war. Mehr noch empfand sie an manchen Tagen jedoch die mentale Anstrengung, die das Recht ihr abverlangte. Manchmal, wenn sie nachts wach lag, träumte sie von einem anderen Beruf, von Aufgaben, die sich am Feierabend im Büro einsperren ließen, damit man selbst in Ruhe unbehelligt nach Hause gehen konnte. Im Halbschlaf fand sie diese Art Lebensstil in höchstem Maße erstrebenswert, dabei war ihr schon klar, wie schnell sie sich dabei langweilen würde. Sie liebte juristische Auseinandersetzungen, liebte das Zusammenspiel zwischen Strategie und Taktik, das sie manchmal an Schach erinnerte, ein Spiel, das sie ausgezeichnet beherrschte: Ich mache einen Zug, du konterst mit einem Gegenzug. Ich mache einen Zug und du kannst nicht kontern? Dann gewinne ich. Das galt im Grunde auch für Gerichtsverfahren, und die liebte Battles an ihrem Job am meisten. Wie denn auch nicht? Warum Anwalt werden, wenn man seine Fälle nicht vor Gericht verhandeln wollte? Sicher, manche Fälle nervten und verhinderten, dass man sich voll und ganz auch auf anderes konzentrieren konnte. Zum Beispiel auf das Training hier. Oder eine gottverdammte Beziehung! Aber Recht und Gesetz waren beständig, was mehr war, als sie von den Männern behaupten konnte, mit denen sie in letzter Zeit ausgegangen war.
Der tägliche mentale Stress, den Recht und Gesetz ihr zumuteten, war einer der Gründe, warum sie sich so gern beim Krav Maga körperlich verausgabte und warum sie sich große Mühe gab, das Training in dieser Gruppe in ihren Stundenplan zu integrieren. Sie hatte wenig übrig für Staatsanwälte, die sie mit irgendwelchem Schwachsinn vom Training abhielten. Solche Leute mussten bei ihr mit einer Revanche rechnen.
Auf Krav Maga war Battles mehr oder weniger zufällig während ihrer Zeit an der Naval School of Justice gestoßen, der für die juristische Ausbildung von Militärangehörigen zuständigen Institution, auf die sie nach einem dreijährigen Jurastudium gewechselt war. Sie hatte sich dazu entschieden, weil sie einerseits ihrem Land dienen und andererseits richtige Fälle bearbeiten wollte, Straffälle, nicht irgendeinen Mist, bei dem es nur um Geld ging. Die oberste Militärstaatsanwaltschaft der Navy hatte ihr dazu die Möglichkeit geboten. Sie diente ihrem Land als Anwältin der Navy, und sie verhandelte vor Gericht. Okay, ein paar ihrer Fälle mochten Kleinkram sein, aber sie stand trotzdem Geschworenen gegenüber, trug ihre Argumente vor und nahm Zeugen ins Kreuzverhör. Das boten einem die großen Anwaltsfirmen nicht, die einem jede Menge Geld versprachen, bei denen man jedoch nur herzlich wenig Erfahrung sammeln konnte.
Krav Maga war ein bisschen wie ihr Job: keine gewöhnliche Sportart, mit der man sich fit halten wollte, sondern eine ernsthafte Angelegenheit. Man trainierte das Überleben, übte Fausthiebe an den Hals, Tritte in den Schritt, In-Gewahrsam-Nahme. Krav Maga war von den israelischen Streitkräften entwickelt worden, und wer es lehrte, predigte erst einmal Konfliktvermeidung. Wenn sich eine Konfrontation trotz allem nicht aufhalten ließ, dann, so ging das Credo weiter, musste sie bis zum Ende durchgestanden werden, und entsprechend galt es zu kämpfen. Mit anderen Worten: nach Frieden streben, Frieden schließen, und wenn das keine Option war, ordentlich zuschlagen.
Damit konnte sie sich gut von der Arbeit ablenken.
»Noch mal«, sagte der Trainer.
Battles nahm ihre Position erneut ein und ihr Trainingspartner hob die Spielzeugpistole. Sie wollte gerade zuschlagen, als sie über das emsige Stöhnen und Grunzen der anderen Trainingsteilnehmer hinweg ihr Handy hörte. Nicht ihr persönliches Handy – sie käme nicht auf die Idee, das zum Training mitzunehmen –, sondern das Handy, das sie bei sich tragen musste, wenn sie als Offizier vom Dienst fungierte und rund um die Uhr erreichbar sein musste. Der Trainer nahm Rücksicht auf ihre besondere Lage. Battles entschuldigte sich und eilte zu den kleinen Fächern am anderen Ende der Halle, wo sie ihre Sporttasche mit dem Handy darin verstaut hatte.
»Lieutenant Battles!«, meldete sie sich.
Während sie sich anhörte, was der Anrufer zu sagen hatte, fand sie sich sofort in einem vertrauten Widerspruch gefangen. Natürlich hätte sie das Training gern bis zum Schluss mitgemacht, andererseits konnte sie einfach nicht Nein sagen, wenn es um eine spannende Auseinandersetzung ging. Und der Fall, der ihr da eben dargestellt worden war, schien eine zünftige Rauferei zu versprechen.
Tracy hielt auf dem Kies vor einem Maschendrahtzaun nicht weit von der Kreuzung entfernt, auf der D’Andre Miller überfahren worden war. Wie nah der Junge seinem Zuhause gewesen war, wie dicht davor, in Sicherheit und noch am Leben zu sein.
Sie stieg aus dem Auto und öffnete das Tor zu dem Gehweg aus Betonplatten, der ein ordentliches, aber karges, mit blutroter Fingerhirse überwuchertes Grundstück in zwei Hälften teilte. Zwei Stufen führten zu einer Veranda und einer braun gestrichenen Haustür hinter einem Fliegengitter. Als Tracy an dem Gitter zog, musste sie feststellen, dass es verschlossen war, und da sie neben der Tür keine Klingel entdecken konnte, klopfte sie. Bei der Frau, die daraufhin an die Haustür kam, ohne aber das Fliegengitter zu öffnen, handelte es sich nicht um Shaniqua Miller.
»Guten Abend«, sagte Tracy. »Ich möchte zu Shaniqua Miller. Ist sie zu Hause?«
»Worum geht es?« Die Frau musterte Tracy durch runde, drahtumrandete Brillengläser hindurch. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, geglättete, auf Kinnlänge gekürzte Haare rahmten ihr Gesicht. Sie wirkte jugendlich und sah Shaniqua Miller sehr ähnlich, wahrscheinlich war sie die Schwester oder Mutter.
»Ich bin Detective Tracy Crosswhite, ich arbeite am Fall D’Andre Miller. Sind Sie seine Tante?«
»Seine Großmutter.« Der Rücken der Frau wurde steif, aber ihre Stimme blieb leise. »Ist es denn wichtig? Shaniqua bringt gerade die Jungen zu Bett.«
»Ja, es ist wichtig«, sagte Tracy. »Ich werde sie auch nicht lange stören.«
Die Großmutter wirkte nicht gerade überzeugt. Mit gerunzelter Stirn drehte sie sich um und ging, allerdings ohne Tracy ins Haus zu bitten oder die Gittertür geöffnet zu haben. Tracy hörte sie nach ihrer Tochter rufen. »Shaniqua?« Der Rest kam so leise, dass Tracy nichts mehr verstand.
Sandy Clarridge, Polizeichef von Seattle, hatte allgemein wissen lassen, er wünsche eine Beteiligung seiner Polizei an dem Fall, und zwar nicht einfach nur in Form des für die Opferunterstützung zuständigen Teams. Er wollte, dass ein Detective die Familie über jede Entwicklung bei den Ermittlungen informierte, nach Möglichkeit persönlich. Sein Wunsch war zu Tracys Captain, Johnny Nolasco, und letztendlich auch zu Tracy durchgesickert, was erklärte, warum sie jetzt vor diesem Haus stand.
»Wer?«, hörte sie eine Stimme fragen.
»Einer von den Detectives.«
»Was will er?«
»Sie. Sie will mit dir reden.«
Eine Pause. »Hat sie gesagt, warum?«
»Nein. Nur dass sie mit dir reden will. Sagte, es sei wichtig.«
»Einen Moment noch.«
Die ältere Frau kehrte an die Tür zurück. »Sie kommt gleich.«
Da standen sie nun, und da sie nicht wussten, was sie zueinander sagen sollten, sagten sie gar nichts.
Shaniqua Miller kam aus dem rückwärtigen Teil des Hauses nach vorn an die Tür. Sie trug Jeans und ein T-Shirt und schob als Erstes den Riegel der Gittertür auf, um sie zu öffnen. Sie trug eine Goldkette mit einem Kreuz daran um den Hals und wirkte müde und ausgelaugt, die Augen verquollen. Ihre Haare, geglättet wie die ihrer Mutter, wurden von einer Haarspange zurückgehalten, was ihre hohen Wangenknochen und ausdrucksvollen Augen betonte. »Kann ich etwas für Sie tun?«, wollte sie wissen.
»Ms Miller, wir haben uns neulich Abend kennengelernt.«
Miller reagierte nicht sofort. Als versuche sie, sich zu erinnern, ohne es eigentlich wirklich zu wollen.
»Ich bin Tracy Crosswhite, eine der Detectives, die den Fall Ihres Sohnes bearbeiten.«
»Ja«, sagte sie Frau leise. »Ich erinnere mich. Sie waren an dem Abend, als mein Sohn überfahren wurde, auf der Straße.«
»Genau. Ich wollte Sie wissen lassen, dass wir heute Abend den Mann verhaftet haben, der den Wagen fuhr, mit dem Ihr Sohn überfahren wurde.«
Miller starrte sie an. Sie sagte nichts und sie gab nichts preis. Sie zeigte keine Wut, keine Trauer, weder Freude noch Genugtuung. Langsam wanderte ihre Hand nach oben, bis ihre Finger das Kreuz um ihren Hals gefunden hatten. »Sind Sie sicher?«
»Wir haben sein Auto eindeutig als den Wagen identifiziert, der Ihren Sohn überfahren hat«, sagte Tracy. »Und wir haben ein Video, das diesen Mann in einem Laden nicht weit von der Kreuzung zeigt, und zwar kurz vor dem Unfall.«
»Was hat er gesagt?« Shaniquas Finger spielten mit dem Kreuz.
»Anfangs hat er behauptet, der Wagen sei ihm gestohlen worden und er sei nicht in Seattle gewesen. Als wir ihm dann heute Abend die Beweise zeigten, hat er sich entschieden, gar nichts mehr zu sagen, und hat einen Anwalt verlangt.«
Obwohl die Beweise eine deutliche Sprache sprachen, hatte Trejo weiterhin behauptet, nicht der Mann auf dem Video zu sein. Dann war er still geworden. Normalerweise brachten Kins und Tracy einen Verdächtigen schon zum Reden, besonders, wenn sie seine Geschichte mit Videobeweisen widerlegen konnten. Vielleicht sagten die Verdächtigen nicht immer die Wahrheit, aber sie versuchten doch in der Regel wenigstens, die Beweismittel zu erklären. Vielleicht hatte Trejo erkannt, dass er das Video nicht wegerklären konnte, und von daher besser gar nichts mehr sagte.
»Wer ist der Mann?«, wollte Shaniqua Miller wissen.
»Er gehört den Streitkräften an.«
»Armee?«
»Navy. Er ist auf dem Marinestützpunkt Kitsap in Bremerton stationiert.«
»Und was geschieht jetzt?«
Jetzt würde Tracy zum Polizeipräsidium zurückkehren, wo Trejo bis zu seiner offiziellen Verhaftung festgehalten wurde. »Er wird zur Erledigung der Formalitäten ins Gefängnis des King County überstellt und morgen Nachmittag zum ersten Mal dem Richter vorgeführt. Wir hätten Sie gern dabei … wenn Sie das schaffen.«
Miller antwortete nicht sofort. Sie sah an Tracy vorbei, ohne den Blick auf etwas Bestimmtes zu richten. Nach einem kurzen Moment war sie wieder da. »Wann?«
»Vierzehn Uhr.«
Sie seufzte. »Ich muss arbeiten. Das kann ich mir nicht aussuchen, ich habe noch zwei weitere Söhne.«
»Bei der Anhörung geht es dem Gericht darum, festzustellen, ob ein hinreichender Tatverdacht besteht und man den Verdächtigen von daher in Haft behalten kann. Darum, ob der Verdächtige ein Schuldeingeständnis abgibt oder nicht, geht es erst bei der offiziellen Anklageerhebung, die frühestens in zwei Wochen sein wird.« Weiter mochte Tracy nicht in die Einzelheiten gehen, sie war sich sicher, dass Shaniqua an einer detaillierten Darstellung des Prozedere in einem Strafverfahren kein Interesse hatte. »Soll ich bei Ihrem Arbeitgeber anrufen und die Situation erklären?«
»Meinen Lohn bekomme ich dann trotzdem nicht.«
Tracy nickte.
»Wann war es noch gleich?«, fragte Shaniqua.
»Vierzehn Uhr.« Tracy erklärte ihr noch, wo im ersten Stock des Gefängnisses das Kreisgericht tagte, und gab ihr eine ihrer eigenen Visitenkarten sowie die Karte der für die Opferbetreuung zuständigen Kollegen. »Sie können mich anrufen oder die auf dieser Karte angegebene Nummer. Es wurde jemand damit beauftragt, Sie auf dem Laufenden zu halten und Ihnen während der Anhörung alles zu erklären. Diese Leute können Ihnen auch alle Fragen beantworten, die Sie in Bezug auf den weiteren Verlauf und die Anklageerhebung haben.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Shaniqua zog sich zurück und schloss leise und langsam die Tür.
Leah Battles klickte ihre Fahrradschuhe in die Pedale ihres Rades und strampelte los, erst nach Süden, auf der Westflake Avenue, und dann nach einem kleinen Schlenker weiter auf der Fifth. Sie lebte in einem Apartment am Pioneer Square, am südlichen Ende der Stadt. Nicht auf dem Stützpunkt wohnen zu müssen, gehörte zu den Vorteilen des Offizierslebens, brachte aber heute Abend noch einen weiteren Vorteil für sie: Laszlo Trejo hatte am Telefon gesagt, man halte ihn in einer Arrestzelle der Polizei von Seattle fest, wolle ihn aber zur Erledigung der Formalitäten einer regulären Festnahme ins Kreisgefängnis überstellen. Beides, das Polizeipräsidium und auch das Gefängnis des King County, lag zwischen der Halle, in der ihr Training stattfand, und ihrer Wohnung. Sie brauchte also nicht einmal einen Umweg einzulegen, um Trejo zu besuchen und sich weitere Informationen zu besorgen.
Battles wusste, dass der verantwortliche Offizier sie höchstwahrscheinlich nicht gleich automatisch zu Trejos Verteidigerin bestimmen würde, wenn sie ihn jetzt als diensthabender Offizier betreute. Als Diensthabender war man dazu da, Angehörigen der Streitkräfte unmittelbar nach einer Verhaftung als Rechtsbeistand zur Seite zu stehen. Wer als Verteidiger einem Verfahren zugeordnet wurde, befasste sich nicht mit der eigentlichen Verhaftung. Besonders dann nicht, wenn das vermutete Verbrechen außerhalb des Stützpunkts stattgefunden hatte. Ein solcher Verteidiger wurde meistens erst zehn bis vierzehn Tage nach einer Verhaftung bestimmt. Um die Überstellung in die Untersuchungshaft kümmerte sich die örtliche Polizeidienststelle. Der Verdächtige benachrichtigte den diensthabenden Offizier, der wiederum die Kommandoleitung benachrichtigte, und von da an lief alles über höchst offizielle Kanäle. Wenn es notwendig erschien, ermittelte das NCIS, und wenn die Marine sich für zuständig erklärte, wurde Anzeige erstattet. Erst dann konnte Battles als Verteidigerin hinzugezogen werden, wenn man ihr den Fall denn übertrug. Was allerdings seit der Ausstrahlung der Dokumentation »The Invisible War« immer häufiger vorkam, bei der es um Übergriffe auf weibliche Militärangehörige sämtlicher Streitkräfte gegangen war. Durch den öffentlichen Aufschrei waren die befehlshabenden Offiziere aller Militärstützpunkte unter erheblichen Druck geraten, denn im Kongress bestand man darauf, dass sie ihre Probleme schnellstmöglich in den Griff bekamen. Seitdem war man in Bezug auf die Verfolgung von Straftaten ziemlich aggressiv geworden, und zwar bei allen Streitkräften, zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Die Navy bildete da keine Ausnahme.
Bei diesem Fall ging es nicht um sexuelle Gewalt, er hörte sich aber trotzdem schwerwiegend an und konnte dem Ansehen der Navy schaden. Ein Unfall mit Fahrerflucht, bei dem ein Zwölfjähriger ums Leben gekommen war, war eine tragische Angelegenheit, und feige war so ein Verhalten auch noch, wenn es denn nachgewiesen werden konnte. Das Defense Service Office, die für die Verteidigung von Angehörigen der Streitkräfte zuständige Stelle, durfte besonders im Licht des momentan herrschenden Klimas als unterbesetzt gelten und Battles war dort die dienstälteste Verteidigerin. Deswegen standen ihre Chancen, trotz ihres Engagements als Offizier vom Dienst zu Trejos Verteidigerin bestellt zu werden, vielleicht gar nicht mal so schlecht. Vielleicht war es sogar ganz gut, wenn sie schon bis zu einem gewissen Grad in die Sache involviert war, was zu bewerkstelligen ihr nicht schwerfallen dürfte.
Battles wollte diesen Fall.
Sie wollte ihn sogar sehr.
Abends um halb neun stellte der Verkehr auf den Straßen von Seattle kein Problem mehr dar. Die Temperatur dagegen schon. Es war weiterhin klirrend kalt und ihr schweißgetränktes Hemd ließ Battles die Kälte noch deutlicher empfinden. Beim Polizeipräsidium angekommen waren ihre Wangen ganz taub vor Kälte und sie zitterte in ihren Sportsachen. Sie stieg vom Rad und kettete es im kleinen Innenhof vor dem Gebäude an, eine Maßnahme, bei der sie sich nicht ganz wohlfühlte. Lieber hätte sie das Rad mitgenommen. In ihrer ersten Woche in Seattle hatte sie ihr Rad an ein Geländer vor ihrem Wohnhaus angekettet und eines Morgens nach dem Aufwachen lediglich noch Kette und Schloss vorgefunden. Jetzt kam das Rad bei ihr zu Hause mit in den Fahrstuhl und wer sich darüber beschwerte, konnte die Treppe nehmen.
Nachdem sie rasch noch Radschuhe gegen Flip-Flops getauscht hatte – in Socken, ein schwerwiegender Mode-Fauxpas, selbst im liberalen Seattle –, stieß sie die Tür auf und steuerte den uniformierten Beamten an, der hinter einer Wand aus kugelsicherem Plexiglas auf Besucher wartete. Er sah aus wie Mitte dreißig, ungefähr Battles’ Alter also, trug sein Haar militärisch kurz geschoren und hatte unter seiner Uniform eine kugelsichere Weste an, was seine Brust aufgebläht aussehen ließ. Als er Battles näher kommen sah, ließ er seinen Blick langsam an ihrem Körper entlangwandern.
»Guten Abend. Ich bin hier, um mit Laszlo Trejo zu sprechen«, sagte sie zur Begrüßung. »Soweit ich weiß, wurde er heute Abend verhaftet und wird hier festgehalten.«
»Davon weiß ich nichts«, erwiderte der Beamte. »Wenn er verhaftet wurde, müssen Sie warten, bis er drüben im Gefängnis offiziell in Haft genommen wurde. Aber die Besuchszeit ist längst vorbei.« Er grinste wie ein pubertierender Jüngling, der gerade seine erste nackte Frau gesehen hat. »Wie es aussieht, werden Sie ihn frühestens morgen sprechen können.«
Battles fischte ihren Ausweis aus dem Rucksack und hielt ihn gegen die Scheibe. »Trotz meiner offiziellen Aufmachung handelt es sich hier nicht um einen Freundschaftsbesuch, bei dem ich über die diesjährige Lachssaison plaudern möchte. Mr Trejo hat angerufen und um rechtlichen Beistand gebeten. Ich bin sein rechtlicher Beistand und ich möchte mit ihm reden, ehe irgendjemand anderes das tut.«
»Sie sind Offizier der Navy!« Der Beamte besah sich den Ausweis mit weit aufgerissenen Augen. »Lieutenant Battles?«
»Richtig. Außerdem bin ich Anwältin.« Sie strahlte ihn an.
»Nun, Lieutenant, wenn die Formalitäten seiner Inhaftierung noch nicht erledigt sind, werden Sie wohl warten müssen, ehe Sie mit ihm sprechen können.« Auch der Beamte lächelte jetzt breiter. »Und was die Lachse betrifft: Bei denen sind dieses Jahr mehr unterwegs als letztes. Ich habe diese Woche ein paar fette gefangen.«
Im Interesse des Mannes konnte Battles nur hoffen, dass dies nicht sein bester Anmachspruch war. »Ach ja? Ich darf keinen Lachs essen, mir wird schlecht davon.«
»Muss echt hart sein für jemanden, der hier lebt.«
»Und wie. Bei jeder Einladung landet ein großes Stück Fisch auf meinem Teller und ich muss es an meine Begleiter weiterreichen.«
»Ihre Begleiter wissen das bestimmt sehr zu schätzen.« Der Beamte grinste immer noch.
»Tun sie!« Battles nickte. »Bis sie mitkriegen, dass sie außer dem Fisch nichts weiter von mir erwarten dürfen.«
Schachmatt. Spiel zu Ende.
»Ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn Sie jetzt nach Ihrem Telefon griffen, oben anriefen und herausfänden, wo mein Mandant ist.«
Der Beamte, dem das Grinsen vergangen war, lehnte sich zurück und deutete auf eine Reihe Stühle. »Setzen Sie sich doch, Lieutenant. Es könnte eine lange Nacht werden.«
Während Battles wartete, beantwortete sie E-Mails auf ihrem Handy. Nach ein paar Minuten hörten sie die Fahrstuhltür aufgehen und eine Frau kam um die Ecke. Sie warf ihr einen verwunderten Blick zu, um dann den Mann hinter Glas anzusehen. Wahrscheinlich hatte sie keinen Fahrradkurier erwartet, sondern einen properen Anwalt in Anzug und Krawatte, womöglich noch mit Weste. Der Uniformierte deutete wortlos mit dem Kinn auf Battles, womit letzte Zweifel ausgeräumt waren und die Frau auf sie zukam.
Die Marine führte Battles großzügig mit einem Meter achtundsechzig in ihren Unterlagen. Diese Frau war fast einen Kopf größer, einen Großteil ihrer Körperlänge machten die Beine aus. Sie hatte die blonden Haare und blauen Augen dieser Beach-Volleyballerinnen bei den Olympischen Spielen, die mit den schlecht sitzenden Hosen. Niemand hatte Battles je als langbeinig beschrieben oder wäre auf die Idee gekommen, sie könnte ihre Tage am Strand verbringen. Sie hatte das dunkle Haar und den dunklen Teint ihres Vaters, besonders im Sommer, und sie war an der Ostküste aufgewachsen.
Der Frau aus dem Fahrstuhl stand dick und deutlich »Cop« auf der Stirn geschrieben – okay, Dienstmarke und Pistole am Gürtel waren wohl ebenso deutliche Hinweise, plus die Tatsache, dass sie sich hier im Polizeipräsidium befanden. Aber weder Pistole noch Dienstmarke fielen einem hier als Erstes ins Auge, sondern der selbstbewusste Gang und die ganze Haltung.
»Laszlo Trejo sind Sie wohl nicht«, sagte Battles.
»Ich bin Detective Tracy Crosswhite. Kann ich Ihnen helfen?«
»Können Sie, wenn Sie es fertigkriegen, den Fähnrich zur See Trejo herbeizuschaffen und mir einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem ich mit ihm reden kann.«
Crosswhite wirkte mäßig belustigt. »Und Sie sind?«
»Leah Battles. Ich bin Anwältin, Rechtsoffizier am Marinestützpunkt Kitsap in Bremerton. Tut mir leid, aber ich hatte keine Zeit, mich in meine Ausgehuniform zu stürzen, ehe ich herkam. Damit hätte ich mir aber wohl einige Umstände erspart.«
»Können Sie sich ausweisen?« Crosswhite klang skeptisch.
Battles warf einen Blick auf den Beamten hinter dem Schreibtisch, aber der grinste nur. Verärgert wühlte sie in ihrem Rucksack und klaubte ihren Ausweis noch einmal hervor. »Kriegen Sie hier öfter mal Leute, die behaupten, Rechtsoffizier zu sein und mit ihren Mandanten sprechen zu wollen?«
»Nein.« Crosswhite nahm ihr die Legitimierung aus der Hand. »Weil wir normalerweise niemanden mit den Verdächtigen sprechen lassen. Das Gefängnis übrigens auch nicht, nicht nach der Besuchszeit.«
Netter Versuch. Battles mochte diese Frau, mit der konnte man sich am Schachbrett bestimmt ein feines Duell liefern. »Als Anwältin kann ich einen Mandanten sehen, wann ich will.«
Kein Kommentar, während sich Crosswhite den Ausweis genauer ansah. »Hier steht Virginia. Sind Sie denn auch im Staat Washington zugelassen?«
»Ich habe eine Zulassung für die Navy der Vereinigten Staaten, eine sozusagen weltweit tätige Anwaltsfirma. Wobei ich zurzeit auf dem Marinestützpunkt Kitsap in Bremerton stationiert bin, ebenso wie Laszlo Trejo, weswegen er mich angerufen hat. Und weil er mich angerufen hat, bin ich jetzt hier und würde mich gern mit ihm unterhalten.«
Crosswhite ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Macht die Navy Zuständigkeit geltend?«
»Das weiß ich nicht. Was ich weiß, ist, dass Mr Trejo den diensthabenden Offizier angerufen hat, nämlich mich. Er hat angegeben, verhaftet worden zu sein, und um einen Anwalt gebeten. Dieser Anwalt bin ich.«
»Dann sind Sie ja ziemlich rasch von Bremerton hier rübergekommen.«
»Ich schwimme schnell.«
Der Spruch entlockte Crosswhite ein Lächeln. Sie gab den Ausweis zurück. »Sie hätten sich Zeit lassen können. Sie werden Mr Trejo sehen, sobald alle Formalitäten der Inhaftierung erledigt sind.«
»Aber wenn ich mir Zeit gelassen hätte, wäre mir der Spaß entgangen, den wir zwei gerade miteinander haben. Ich bin neugierig, Detective, ich frage mich, was Mr Trejo eigentlich hier im Präsidium zu suchen hatte.« Trejo hatte ihr erzählt, dass er nach Seattle gekommen war, um sein Auto abzuholen. Man hatte ihm gesagt, die Polizei hätte ihre Arbeit daran beendet.
»Das werden Sie ihn selbst fragen müssen.«
»Sie haben ihn doch nicht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierhergelockt, oder? Um ihn vom Stützpunkt loszueisen, damit Sie ihn verhaften können?«
»Mr Trejo wohnt nicht auf dem Stützpunkt«, erklärte Tracy. »Ich brauchte ihm also keine falschen Tatsachen vorzuspiegeln, um ihn verhaften zu können. Auch in dieser Sache gilt, was ich gerade sagte: Fragen Sie ihn danach, wenn Sie ihn sehen.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Er hat gebeten, einen Anwalt sprechen zu dürfen«, rief Battles ihr nach. »Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie Ihre Kampfgefährten über dieses Detail informierten.«
Crosswhite antwortete nicht. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie Richtung Fahrstuhl. Der Uniformierte hinter Glas lehnte sich mit selbstzufriedenem Lächeln zurück.
Auch Battles lächelte. Gegen einen temperamentvollen, witzigen Gegner hatte sie nichts einzuwenden, im Gegenteil, so etwas gefiel ihr. Ein Wettkampf weckte das Beste in ihr und nach dem kurzen Schlagabtausch mit dieser Crosswhite war sie noch heißer auf diesen Fall als vorher.
Dabei war sie auch vorher schon ziemlich heiß darauf gewesen.
Tracy ließ ihr Schlüsselbund in die Holzschale auf dem antiken Bauerntisch fallen, den Dan und sie bei einer Haushaltsauflösung in der Nähe der kanadischen Grenze gekauft hatten. Neben der Schale stand ein gerahmtes Hochzeitsbild von ihnen beiden und hinter dem Tisch ließen zwei große Fenster jede Menge Licht ins Zimmer, allerdings nicht zu dieser frühen Morgenstunde. Die Fenster zeigten nach Osten, auf die Pferdeweide und die mit Bäumen gesäumten Hügel dahinter, und brauchten eigentlich keine Gardinen. Tracy hatte trotzdem welche haben wollen, als Mordermittlerin verbrachte sie einen großen Teil ihrer Zeit mit der Suche nach kranken, verdorbenen Subjekten, was sie entsprechend vorsichtig machte. Dan empfand da anders und hatte als Kompromiss Bewegungsmelder installiert, die Flutlichter aufflammen ließen. Eine Regelung, die beide Seiten anfangs fair und richtig gefunden hatten, bis dann klar war, wie oft die Lichter angingen. Die Bewegungsmelder reagierten auf sämtliche Tiere, die über das Grundstück liefen: Eichhörnchen, Waschbären, Rehe, Rex und Sherlock, selbst Roger, nachdem der sich das erste Mal ins Freie getraut hatte.
»Tracy?«
Dan kam in langer Pyjamahose und einem T-Shirt seiner Alma Mater, der Universität von Boston, aus dem Schlafzimmer, begleitet von Sherlock und Rex, die Tracy schwanzwedelnd begrüßten. Im Schlafzimmer lief der Fernseher – ganz falsch, wenn man den gängigen Ehetipps glaubte, aber in diesem Haus hatte sich einfach kein anderer Platz für das Gerät finden lassen. Dan hielt eine Zahnbürste in der Hand und hatte den Mund voller Zahnpasta.
»Ich habe nicht …«, nuschelte er. »Moment!« Er verschwand und Tracy hörte Wasser rauschen, dann tauchte er ohne die Zahnbürste wieder auf. »Ich habe dich gar nicht reinkommen hören.«
Tracy streichelte die Köpfe der Hunde. »Wir haben in dieser Fahrerfluchtsache jemanden verhaftet und mussten noch die Formalitäten erledigen und die Anhörung zur Feststellung eines hinreichenden Anfangsverdachts morgen vorbereiten.« Sie gab Dan einen Kuss und drängte sich an ihm vorbei in die Küche.
»Wen habt ihr verhaftet? Diesen Typen von der Navy?«, fragte Dan.
»Ja.« Sie holte sich ein Glas aus dem Schrank, um es an der Spüle zu füllen.
»Den hattest du ja gleich in Verdacht.«
Tracy schluckte zwei Schmerztabletten und trank ihr Glas leer. »Nachdem wir das Video hatten, war alles ziemlich klar.«
»Hast du Kopfweh?« Dan lehnte sich an den Türrahmen.
»Nein, meine Schulter tut weh.« Tracy hatte sich vor etwa zwei Jahren eine schwere Schulterverletzung zugezogen, als sich ein Stalker Zutritt zu ihrem Haus verschafft und sie von hinten angegriffen hatte. Laut Orthopäde war dabei die Rotatorenmanschette teilweise ausgerissen worden. Wenn sie das Problem mit Physiotherapie nicht in den Griff bekam, stand ihr eine Operation mit anschließender sechsmonatiger Rekonvaleszenz bevor. Oder sie wurde wie Kins und futterte Ibuprofen, bis die Schmerzen auch damit nicht mehr zu ertragen waren.
»Was hat er gesagt, als ihr ihm das Video gezeigt habt?«
»Da wollte er einen Anruf tätigen.« Sie ging ins Schlafzimmer, wo sie sich aufs Bett setzte und sich abmühte, aus den Stiefeln zu kommen.
»Ich nehme mal an, der Anruf ging an einen Anwalt?« Dan half, indem er sich erst ein Bein und dann das andere seiner Liebsten schnappte und die Stiefel festhielt.
»An einen Offizier der obersten Militärstaatsanwaltschaft aus Bremerton.« Tracy streifte sich die Jeans von den Hüften.
»Echt?« Dan klang überrascht.
»Ja, warum?« Sie ging zum Schrank, um ihre Hose an einen Haken zu hängen.
»Die Militärstaatsanwaltschaft mischt sich normalerweise nicht so früh schon ein, besonders nicht deren Verteidiger. Sie müssen normalerweise erst den Befehlsweg einhalten und klarstellen, ob das Militär überhaupt Zuständigkeit geltend macht. Steht das denn an?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe sie gefragt, sie wusste es auch nicht.« Tracy zog sich Hemd und BH aus und schlüpfte in eins von Dans T-Shirts, das ein Bild von Rex und Sherlock zierte, darunter der Spruch: Wir sind nicht stur, wir haben einfach nur mehr Ahnung. »Jemand von der obersten Militärstaatsanwaltschaft hat ihn im Gefängnis aufgesucht, sobald er offiziell in Haft genommen worden war.«
»Dann wollen sie wohl Zuständigkeit geltend machen. Wenn sie es nicht tun, wird er sich schuldig bekennen. Ihr habt das Video, was soll er da groß sagen?«
»Im Moment sagt er gar nichts, er äußert sich nicht mal zum Video. Dabei dachte ich, er versucht bestimmt, es zu erklären. Vielleicht kann er das nicht. Ich habe echt keine Ahnung.« Sie putzte sich im Bad die Zähne und kam ins Schlafzimmer zurück.
»Hast du Hunger? Soll ich dir was zu essen machen?«, fragte Dan.
»Danke, aber ich habe mir einen Salat geholt und am Schreibtisch gegessen.« Kins hatte auch einen Salat ordern wollen, dann aber doch noch einmal die Speisekarte des Lieferdienstes aufgeschlagen und sich für ein Pastrami-Sandwich entschieden. »Jetzt bin ich einfach nur müde.«
Dan lehnte sich an den Pfosten der Schlafzimmertür. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Warum?« Sie schlug die Daunendecke zurück.
»Dr. Kramer hat angerufen, um sich zu erkundigen, wie es dir geht. Er hat eine Nachricht für dich auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.«
Tracy erstarrte.
»Du nimmst Clomid?«, fragte Dan.
Tracy hatte ihm nichts von dem Medikament erzählt. Ihrer Darstellung zufolge hatte Dr. Kramer ihnen einfach nur empfohlen, es weiterhin zu versuchen. Sie hatte so gehofft, dank Clomid schwanger zu werden und Dan nicht beichten zu müssen, dass sie zu alt, dass sie das Problem war.
»Wird das jetzt eins von deinen berühmten Kreuzverhören? Willst du die Zeugin zum Reden bringen, damit du sie dann mit den Fragen bombardieren kannst, die dich wirklich interessieren?«, fuhr sie ihn an.
»Bitte nicht, lass das.« Dan blieb gelassen, als er sie fest ansah. »Wir hatten das besprochen. Wir hatten ausgemacht, Entscheidungen gemeinsam zu treffen.«
»Ja, hatten wir.«
»Und trotzdem schließt du mich aus?«
Tracy seufzte. »Meine Chancen, schwanger zu werden, sind sehr gering, Dan. Entweder die Fruchtbarkeitspille oder ein Spenderei – das waren die beiden Möglichkeiten.«
»Was hat das damit zu tun, dass du mich von den Entscheidungen ausschließt?«
»Okay, das hätte ich nicht tun sollen. Tut mir leid. Okay?« Sie kletterte auf ihrer Seite ins Bett.
»Warum hast du es dann getan?«
»Können wir ein andermal darüber reden?«
»Nein. Du hast mir deine Entscheidung verheimlicht. Ich habe das Recht zu erfahren, warum.«
»Ich habe gar nichts verheimlicht.«
»Du hast es mir nicht gesagt.«
»Ich muss früh bei der Arbeit sein, um die Anhörung zur Feststellung eines begründeten Tatverdachts vorzubereiten.« Tracy warf die Kissen, die sie nicht brauchte, auf den Boden.
»Ich muss eine eidesstattliche Aussage aufnehmen.«
»Dann lass uns zu Bett gehen und später darüber reden.«
Dan drückte sich am Türrahmen ab. »Clomid hat Nebenwirkungen. Darüber haben wir gesprochen.«
»Was – willst du behaupten, meine Laune wäre eine Zumutung?«
»Hatte ich eigentlich nicht vor, könnte ich jetzt aber wohl tun.«
»Sehr clever.« Sie schnappte sich ein Kissen, sprang aus dem Bett und drängte sich an ihm vorbei, fest entschlossen, lieber auf der Couch im Wohnzimmer zu übernachten.
»Hey! Tu jetzt nicht so, als wäre das meine Schuld. Du hättest mich einbeziehen müssen. Das ist auch mein Kind.«
Tracy wusste genau, wie recht er hatte, nur leider hatte sie den Dickkopf ihres Vaters geerbt. »Über ein Kind wirst du dir so schnell keine Gedanken zu machen brauchen, wie es aussieht.« Sie schnappte sich eine Wolldecke und steuerte die Couch an.
»Was soll das heißen?«
Sie drehte sich um. »Das heißt, ich kann nicht schwanger werden«, fauchte sie. »Okay? Das heißt, ich bin das Problem.«
Dan schwieg einen Moment lang und Tracy fragte sich, was er gerade dachte. Hatte er sein Herz sehr an den Traum von eigenen Kindern gehängt? Bereute er, sie geheiratet zu haben?
»Das Baby ist mir doch egal«, sagte er schließlich leise. »Du bist mir nicht egal. Deine Gesundheit ist mir nicht egal.«
Tracy seufzte. »Der Arzt sagt, die Nebenwirkungen sind minimal. Stimmungsschwankungen und Hitzewellen. Mir geht es prima. Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe. Das hätte ich tun sollen.«
Dan holte tief Luft. Als er dann sprach, blieb er ganz ruhig. Er blieb immer ruhig. Manchmal wünschte sich Tracy, er würde schreien und mit Gegenständen werfen, einfach nur, damit sie sauer auf ihn sein konnte. »Sag mir nur, warum du es nicht getan hast.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was?«
Sie wusste, was sie jetzt gleich sagen würde, war kindisch, und auch das machte ihr zu schaffen. Aber Dan und sie, sie hatten zusammen ein Baby haben wollen. »Du bist damals so aufgekratzt von deinem Arzttermin zurückgekommen, hast die Faust in die Luft gereckt und – ich wollte dich nicht enttäuschen. Ich wollte nicht der Grund sein, weswegen wir kein Baby machen können.«
Dan atmete hörbar aus. Er kam zu ihr, nahm ihr das Kissen aus der Hand und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich war so aufgekratzt, weil ich dachte, du willst unbedingt ein Kind.«
»Du denn nicht?«
»Natürlich will ich eins. Aber nicht, wenn es auf Kosten deiner Gesundheit geht. Du bist das Allerwichtigste für mich, Tracy. Nicht irgendein Kind, das ich noch gar nicht kenne. Es tut mir leid, dass ich bei der Sache mit der Vasektomie so überreagiert habe. Ich habe doch nur so angegeben, weil ich dachte, ein bisschen mehr Enthusiasmus von meiner Seite macht dich glücklich.« Er lächelte. Tracy schaffte es nicht, dieses Lächeln zu erwidern. »Komm schon! Wir sind nun mal körperlich total verschieden! Mick Jagger hat gerade mit dreiundsiebzig sein achtes Kind gekriegt.«
»Und deswegen soll ich mich jetzt besser fühlen?«
»Was hat der Arzt denn nun genau gesagt?«
»Ich nehme vierzehn Tage lang Clomid. Wenn das nicht funktioniert, suchen wir nach einem Spenderei. Oder wir adoptieren.«
»Okay, also …«
Sie entzog sich seiner Umarmung. »Ich möchte kein Kind von jemand anderem, Dan. Ich möchte unser Kind. Ich möchte unser Baby.« Himmel, jetzt jammerte sie ihm auch noch die Ohren voll!
Dan nickte. »Okay«, sagte er leise. »Dann versuchen wir es einfach weiter und wenn es nicht funktioniert, dann reden wir über diese Entscheidung.« Lächelnd nahm er sie in die Arme, woraufhin sie in Tränen ausbrach. »Hey! Ist doch alles in Ordnung!«
»Nein, ist es nicht.« Tracy wischte sich über die Augen, es wurde ihr plötzlich alles zu viel. »Das ist nicht das Leben, wie ich es mir vorgestellt habe, Dan. So sollte es nicht sein. Ich wollte drei Kinder haben, Mutter sein, im Elternbeirat aktiv und zu Fußballspielen gehen, den Kids bei den Hausaufgaben helfen. Mich mit ihnen abends an den Tisch setzen und essen.« Sie atmete tief durch, schüttelte den Kopf. »Was ist aus meinem Leben geworden? Was zum Teufel ist bloß aus meinem Leben geworden?«
So standen sie einen Moment lang schweigend zusammen, bis Tracy klar wurde, wie sehr sie Dan mit ihren Worten verletzt hatte. »Dan, damit meine ich nicht …«
Er zuckte die Achseln. »Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest sagen, dein Leben hätte sich doch eigentlich ganz gut entwickelt.«
Ihr war ganz schlecht und schwindelig, was nichts mit den Nebenwirkungen der Pille zu tun hatte. »Es tut mir leid! So habe ich es nicht gemeint.«
Er ließ sie los und trat zurück. »Glaubst du etwa, so hätte ich mich nach meiner Scheidung nicht auch gefühlt? Ich hätte mich nicht gefragt, was bloß aus meinem Leben geworden ist? Ich hatte eine Frau, einen guten Job in einer erfolgreichen Kanzlei, wo ich die Arbeit machen konnte, an der ich Freude hatte. Ich fuhr einen BMW und hatte Saisonkarten für die Red Sox … und ein Boot. Und dann – auf einmal alles futsch. Glaubst du, ich hätte mich nicht gefragt, was da schiefgelaufen ist?«
Sie ging wieder auf ihn zu. »Aber du hattest doch keine Schuld!«
»Vielleicht ja doch.«
»Sie hat dich betrogen.«
»Ja, aber vielleicht auch nur, weil ich so oft nicht da war.«
»Manchmal frage ich mich das auch«, gestand sie.
»Was?«
»Ob ich nicht hätte da sein müssen. Wenn ich Sarah nach Hause gebracht hätte …«
Er schüttelte den Kopf. »Ein Psychopath hat Sarah umgebracht, Tracy. Er hat sie gestalkt und er hat dich gestalkt. Und so schrecklich das auch klingt, ich würde manchmal gern glauben, dass Gott dich meinetwegen verschont hat. Für mich.«
Wieder flossen bei Tracy die dicken Tränen. Weil Dan es einfach immer schaffte, das Richtige zu sagen. Selbst damals, als sie beide noch klein gewesen waren, als sie als Freunde in Cedar Grove aufwuchsen, hatte Dan immer einen Weg gefunden, genau das zu sagen, was Tracy hören musste. Das war ein Talent, das sie selbst nicht besaß, die Fähigkeit, Dinge in die richtige Perspektive zu rücken, irgendetwas Hilfreiches zu finden. Wenn nicht gleich positiv, dann doch wenigstens optimistisch. »Mit dir lässt sich echt schwer streiten, weißt du das?«, sagte sie nach langem Schweigen.