KAPITEL 20
Battles hörte zu, wie Brian Cho die Präliminarien schnell und effizient abwickelte, was unter anderem deswegen möglich war, weil es ihm sein erster Zeuge, Joe Jensen, leicht machte. Joe hatte schon unzählige Male bei Gericht ausgesagt, war mit dem Prozedere vertraut und von daher gelassen. Überhaupt hatte sich im Saal eine eher entspannte Atmosphäre eingestellt und Battles beschloss, mit Widersprüchen sparsam zu sein. Rivas würde diese Zeugenaussagen im Wesentlichen zulassen, Einsprüche konnte sie sich also größtenteils schenken.
Battles hatte Jensen bereits getroffen und auch befragt, wusste also, was kommen würde. Als Zeuge vermittelte der Beamte mit seiner entschiedenen, aber bodenständigen Ausdrucksweise den Eindruck von Selbstbewusstsein und Ehrlichkeit und seine tiefe Stimme, das von grauen Strähnen durchsetzte rote Haar und der Anzug, den er trug, verliehen ihm eine gewisse Autorität. Es war, als hätte Cho einen Pfadfinderführer in den Zeugenstand berufen.
Die einführenden Fragen waren schnell beantwortet: Es ging um Jensens Funktion innerhalb der TCI, die Tatsache, dass er am Abend des Unfalls Rufbereitschaft gehabt hatte, und wann er am Unfallort eingetroffen war. Anschließend nickte Cho seiner Assistentin Clark zu, die daraufhin mithilfe ihres Laptops das körnige Schwarz-Weiß-Foto einer leeren Kreuzung auf zwei im Raum stehende große Flachbildfernseher zauberte. Es wurde klargestellt, dass es sich hier um die Kreuzung handelte, auf der sich der Unfall ereignet hatte, und Jensen beantwortete noch weitere grundlegende Fragen. Danach bat ihn Cho, auf dem Bild zu zeigen, wo bei seinem Eintreffen die Fahrzeuge der Polizei und Rettungskräfte gestanden hatten und was sonst noch auf der Kreuzung zu sehen gewesen war.
So brachte er Jensen auf subtile Art dazu, die Lage des Unfallopfers zu zeigen und auch die anderen Dinge zu erwähnen, die sie auf der Kreuzung gefunden hatten, wie zum Beispiel D’Andres Schuhe und seine Flip-Flops.
»In der Nähe der Leiche lag ein Basketball im Rinnstein«, erklärte Jensen. »Auf der Straße lagen zwei Badesandalen der Marke Nike und ein Stück weiter entfernt ein Paar roter Basketballschuhe derselben Marke, die an den Schnürsenkeln zusammengebunden waren.«
Als im Zuschauerraum eine Frau leise stöhnte, wandte Battles weder den Kopf, noch reagierte sie anderweitig. Sie hatte mit emotionalen Reaktionen auf einige dieser Zeugenaussagen gerechnet und Trejo strikt angewiesen, sich durch Rufe und andere Lautäußerungen nicht aus dem Takt bringen zu lassen. Jensens Aussage ging ans Herz, vielleicht ließ sich Trejo ja dadurch doch noch zur Annahme des letzten ihm angebotenen Deals bewegen. Ihr Mandant hatte sich, seit er sich gesetzt hatte, nicht einmal gerührt und noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Langsam fragte sich Battles, ob er Medikamente genommen hatte.
Jensen sagte aus, die Leiche habe neun Meter fünfundsiebzig von der Kreuzung entfernt gelegen. Das war wichtig, betonte er, weil es seine Arbeitshypothese stützte, der zufolge das Opfer auf dem Zebrastreifen von einem fahrenden Fahrzeug getroffen worden war, das beim Eintreffen auf der Kreuzung an der Henderson Street auf der Renton Avenue von Süden her kommend nach Norden unterwegs gewesen war. »Der Unfallverlauf scheint so gewesen zu sein, dass das Opfer auf der Kühlerhaube landete, gegen die Windschutzscheibe prallte und nach vorn geschleudert wurde.«
»Was taten Sie, nachdem Sie sich einen ersten Überblick verschafft hatten?«, fragte Cho.
Jensen berichtete von der Suche nach Reifenspuren und dass keine gefunden worden waren.
»Was hat das Fehlen von Reifenspuren Ihrer Erfahrung nach zu bedeuten?«
An dieser Stelle hätte Battles gern Widerspruch eingelegt, was aber nicht ging, denn bei einer Anhörung nach Paragraf 32 waren nur bestimmte Einsprüche gestattet. Also schwieg sie, obwohl Cho Jensen gerade ganz klar zum Spekulieren aufforderte. Sie wusste, dass Rivas jedem Experten aus dem Ermittlerteam bei der Untersuchung große Freiheiten einräumen würde.
»Wenn es einen Zusammenstoß gegeben hat, entweder mit einem anderen Fahrzeug oder wie in diesem Fall mit einem Fußgänger, finden wir normalerweise Reifenspuren, die zeigen, dass der Fahrer des betreffenden Fahrzeugs versucht hat, anzuhalten oder auszuweichen. Wenn keine Reifenspuren zu sehen sind, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass der Zusammenstoß beabsichtigt war. Es könnte aber auch bedeuten, dass der betreffende Fahrer den Fußgänger nicht gesehen hat. Vielleicht war es zu dunkel oder der Fahrer war abgelenkt oder eingeschlafen oder er stand unter Drogen- oder Alkoholeinfluss.«
Wieder ließ Trejo keine Emotionen erkennen.
Cho ließ sich erläutern, dass die Ampel an der Kreuzung einwandfrei funktionierte und dass es in den umliegenden Geschäften keine Überwachungskameras gab, auf deren Bändern man die Kreuzung hätte sehen können. Nach weiteren Kameras befragt, erklärte Jensen: »Wir fanden im Verlauf unserer Ermittlungen heraus, dass sich westlich der Kreuzung in ungefähr neunzig Metern Entfernung eine Kamera befindet, die der Verkehrsüberwachung dient. Dafür ist das Straßenverkehrsamt des Staates Washington zuständig. Wir haben uns eine Kopie des für den Unfallhergang relevanten Videos besorgt.«
»Ehe wir zu diesem Video kommen – haben Sie am Tatort noch weitere relevante Dinge gefunden?«, fragte Cho.
Jensen beschrieb das von der Streifenbeamtin gefundene Autoteil und Cho ließ sich von Clark eine versiegelte, durchsichtige Beweismitteltüte reichen, die er an Jensen weitergab. Jensen bestätigte, dass er das Glasstück darin von den Leuten im kriminaltechnischen Labor der Washington State Patrol hatte untersuchen lassen, die ihm eine Seriennummer hatten nennen und erklären können, dass es von einem Subaru stammte. Er hatte es danach einem Subaru-Händler vorgelegt, der es eindeutig einem schwarzen Fahrzeug zuordnen konnte. »Es stammte vom Frontscheinwerfer und Blinker an der Beifahrerseite des Fahrzeugs.«
Jensen sagte weiterhin aus, dass es nun, wo sie Fahrzeugtyp und Farbe des gesuchten Autos kannten, viel einfacher gewesen war, den Subaru auf dem Video der Verkehrsüberwachung zu finden.
So hatte Cho die Voraussetzungen dafür geschaffen, dieses Video im Gerichtssaal zeigen zu können. Rivas und Battles hatten es beide schon gesehen und wussten, dass es den Aufprall selbst nicht zeigte und von daher für die Zuschauer nicht belastend sein würde. Cho bat Jensen, den Inhalt kurz zusammenzufassen, wobei Battles hinter sich jemanden leise und unterdrückt schluchzen hörte. Dann lief das Video. Cho ließ es anhalten, sobald das schwarze Fahrzeug im Bildrahmen auftauchte. Der Mann holte aus dieser Vorführung wirklich raus, was er konnte.
»Der Film ist schwarz-weiß«, erläuterte Jensen, »aber wir können aus diesem Sichtwinkel erkennen, wie die Ampel von Rot, dem Licht oben, zum unteren Licht, nämlich Grün, wechselt und somit dem Verkehr auf der South Henderson Street freie Fahrt gibt.«
Auf dem Bildschirm fuhr der schwarze Wagen weiter über die Kreuzung, ohne langsamer zu werden. Den Zusammenstoß mit D’Andre Miller sah man aufgrund des Aufnahmewinkels nicht.
Cho wartete einen Moment, ehe er fragte: »Konnten Sie feststellen, wie schnell der Wagen fuhr, den wir gerade sahen?«
»Ja.«
»Würden Sie uns bitte erklären, wie Sie das machen?«
»Das ist Physik. Das Video besteht aus dreißig Einzelbildern pro Sekunde. Wir haben die Distanz zwischen dem Wohnhaus an der südöstlichen Ecke der Kreuzung und dem der nordöstlichen Ecke am nächstgelegenen Restaurant gemessen.«
»Wie weit war das?«
»Das waren fast neunundfünfzig Meter. Der Wagen brauchte für die Strecke zwischen den beiden Punkten fünfundsiebzig Einzelbilder oder zwei Komma zwei fünf Sekunden. Teilt man die Meter durch die Sekunden, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass der Wagen dreiundzwanzig Komma vier Meter pro Sekunde fuhr. Wir wissen, dass ein Kilometer tausend Meter hat und eine Stunde dreitausendsechshundert Sekunden. Wenn man die erste Zahl durch die zweite teilt, kommt man auf den Umrechnungsfaktor null Komma zwei sieben sieben Meter pro Sekunde, gleich ein Kilometer pro Stunde. Um dreiundzwanzig Meter pro Sekunde in Kilometer pro Stunde umzurechnen, haben wir die dreiundzwanzig Meter durch null Komma zwei sieben sieben geteilt und kamen so zu dem Ergebnis, dass der Wagen mit einer Geschwindigkeit von knapp dreiundachtzig Stundenkilometern fuhr.«
Mit seiner nächsten Frage ließ Cho sich Zeit: »Detective, welche Höchstgeschwindigkeit darf auf der Renton Avenue South an dieser Kreuzung gefahren werden?«
»Fünfzig Stundenkilometer.«
Auch diese Antwort ließ Cho einen Moment unkommentiert im Raum stehen. Trejo starrte weiterhin die Wand an.
Jensen sagte aus, wie Streifenpolizisten den Subaru auf einem Grundstück versteckt entdeckt hatten und wie er selbst mithilfe des auf der Straße gefundenen Autoteils die Identität des Fahrzeugs hatte bestätigen können.
»Ließen Sie das Auto abschleppen?«, fragte Cho.
»Ja. Und ich beantragte einen Durchsuchungsbeschluss, um das Wageninnere untersuchen zu dürfen.«
Jensen beschrieb nun ausführlich die Durchsuchung des Autos. Er sagte aus, dass das auf dem Stoffsitz an der Fahrerseite entdeckte Blut von Trejo stammte, erklärte, wo Trejos Fingerabdrücke gefunden worden waren, und erläuterte den DNA-Nachweis. Cho stellte den Antrag, den Bericht der TCI als Beweis zuzulassen, und befragte Jensen anschließend dazu, wie jemand versucht hatte, den Wagen mit einem Desinfektionstuch zu reinigen.
»Zogen Sie Schlüsse aus dieser Tatsache? Und wenn ja, welche?«
»Warum wischt jemand einen Airbag ab, der aufgegangen ist? Meiner Meinung nach war das der Versuch, DNA zu vernichten, die beweisen könnte, wer den Wagen fuhr, als der Airbag aufging. Aus demselben Grund hat man auch versucht, das Blut abzuwischen.«
»Fanden Sie sonst noch etwas im Auto?«
»Ja. Wir fanden auf dem Rücksitz einen Kassenbon mit Datumsangabe. Er war am Abend des Unfalls in einem Laden in Renton ausgestellt worden und bestätigte den Einkauf zweier Dosen des Energydrinks Red Bull.«
Cho überprüfte Datum und Zeit des Einkaufs, ließ sich bestätigen, dass es sich bei der vorliegenden Quittung in ihrem versiegelten Beweismittelbeutel um den Bon handelte, von dem Jensen gerade gesprochen hatte, und nahm die Quittung zu den Beweisen.
»Wir haben Nummernschilder und Fahrzeugregistrierung des Subaru durch unseren Computer laufen lassen«, fuhr Jensen fort. »So erfuhren wir, dass der Wagen am Morgen nach dem Unfall von seinem Besitzer als gestohlen gemeldet worden war.«
»Was hat so etwas Ihrer Erfahrung nach zu bedeuten?«
Jensen verzog das Gesicht und sah kurz zur Seite. »Es stellen sich einem schon ein bisschen die Nackenhaare auf – so ein Zufall aber auch.«
»Und wer war laut Zulassung Besitzer des Fahrzeugs?«
Jensen sah hinüber zu Battles und Trejo. »Laszlo Trejo.«