KAPITEL 22
Es brannte Leah Battles auf den Nägeln, Joe Jensen ins Kreuzverhör zu nehmen. Wobei sie nicht klarstellen wollte, was der Mann wusste, sondern eher, was er nicht wusste. Sie wollte dokumentieren, dass Jensen keine Ahnung hatte, ob D’Andre Miller die Straße am Zebrastreifen überquert hatte oder nicht, ob er nach links und rechts geschaut hatte, ehe er die Straße überquerte, ob der Basketball ihn abgelenkt hatte. Laut Terry O’Neal aus dem Gemeindezentrum hatte der Junge einen ziemlich erfolgreichen Abend gehabt und das erste Mal richtig mitspielen dürfen. Vielleicht war er mit dem Kopf noch ganz in den Wolken gewesen und einfach so auf sie Straße gelaufen, ohne zu gucken. Vielleicht hatte er mit den Kopfhörern, die man ebenfalls auf der Straße gefunden hatte, laute Musik gehört. Es war dunkel gewesen und er hatte dunkle Kleidung getragen. Es gab so einige Dinge, mit denen sie bei einem Kreuzverhör punkten konnte. Nur würde das keinen Richter davon abhalten, einen hinreichenden Anfangsverdacht zu erkennen, und Cho wusste hinterher, wo Battles seine Zeugen anzugreifen gedachte, und konnte seine Taktik beim Militärgerichtsverfahren danach ausrichten. So schwer das Schweigen ihr fiel, in diesem Fall war es einfach besser, sich zurückzuhalten.
»Keine Fragen«, sagte sie also, woraufhin Rivas Jensen entließ und eine kurze Pause verkündete.
Nach der Pause trat Tracy Crosswhite in den Zeugenstand, an diesem Morgen in einem blauen Kostüm, wie eine Anwältin, aber dennoch vom Auftreten her unverwechselbar Polizistin. Sie wirkte nicht im Geringsten gehemmt oder eingeschüchtert. Battles hatte sich in Vorbereitung auf die Verhandlung näher mit dieser Crosswhite befasst und dabei festgestellt, dass sie einige Gemeinsamkeiten hatten. Battles war wie Crosswhite in einer Kleinstadt aufgewachsen, wenn auch an der Ostküste. Ihre Eltern hatten nicht gerade viel Geld gehabt – jedenfalls nicht genug, um das Leben ihres Kindes grundlegend zu verändern. Was Battles erreichen wollte, hatte sie aus eigener Kraft stemmen müssen. Schach hatte für ein Collegestipendium gesorgt und für das Selbstvertrauen, das sie auch an Crosswhite wahrnahm. Crosswhite spielte nicht Schach, nahm jedoch sehr erfolgreich an Schießwettbewerben teil, was auf ihr Auftreten abfärbte. Diese Art Selbstvertrauen bekam man nicht, indem man lediglich jeden Tag aufstand und ins Büro fuhr, das wusste Battles genau. Solches Selbstvertrauen erwuchs einem im Wettbewerb, wenn man riskierte, auch mal zu verlieren und dann doch gewann.
Nachdem Crosswhite den Eid geleistet hatte, nahm sich Cho für die weiteren vorbereitenden Schritte nur wenig Zeit: Crosswhites Rang und Namen, ihr Hintergrund und ihre Anwesenheit bei dem Unfall mit Fahrerflucht.
»Dann war Ihr erster Eindruck derselbe wie der von Detective Jensen?«, wollte Cho wissen, wobei er Battles spöttisch musterte. Er machte sich lustig darüber, dass sie nicht versucht hatte, Crosswhite während der Zeugenaussage von Jensen aus dem Saal weisen zu lassen. Vielleicht wollte er ja auch, dass sie gegen seine Frage Widerspruch einlegte. Sie ignorierte ihn einfach.
»Es schien mir ein Unfall mit Fahrerflucht zu sein«, bestätigte Crosswhite.
In ihrer weiteren Aussage ging sie auf das Treffen mit Detective Jensen am Morgen nach dem Unfall ein, bei dem sie und ihre Kollegen von dem Video der Verkehrsbehörde erfahren hatten, auf dem der Subaru zu sehen war, und erzählte, wie sie diese Informationen noch während des Morgenappells an die Besatzungen der Streifenwagen hatten weitergeben können.
Cho ging sofort zum nächsten Punkt über.
»Können Sie uns berichten, was Sie als Nächstes getan haben?«
»Ich erhielt noch im Laufe desselben Tages im Büro einen Anruf von Detective Jensen. Eine Frau hatte auf einem Grundstück hinter ihrem Haus einen Wagen entdeckt, der der Beschreibung nach der sein konnte, den wir suchten.«
»Und Sie sind dann zu diesem Grundstück gefahren? Erzählen Sie uns davon.«
Nachdem auch dieser Punkt abgehakt war, ging Cho noch einmal auf das am Unfallort gefundene Autoteil ein und darauf, wie das Auto identifiziert und seinem Halter Laszlo Trejo zugeordnet worden war, der es genau an diesem Morgen als gestohlen gemeldet hatte. »Wie reagierten Sie, ganz spontan, auf diese Information?«, wollte er wissen. »Was hielten Sie davon?«
»Nach allem, was wir inzwischen herausgefunden hatten, fragte ich mich schon, ob der Wagen wirklich gestohlen worden war. Mir kam das zu glatt vor, ich fand, man sollte dem nachgehen.«
Battles machte sich eine Notiz. Bei einem Militärgerichtsverfahren würde sie sich diese Crosswhite im Kreuzverhör vorknöpfen und durchblicken lassen, dass ihre und Jensens Ermittlungen von Anfang an mit Vorurteilen belastet waren und sie in einer bestimmten Richtung ermittelt hatten, weil sie Trejo schon vor dem allerersten Gespräch mit dem Mann für einen Lügner gehalten hatten.
Cho ging methodisch das Treffen zwischen Trejo und Crosswhite sowie deren Partner Kinsington Rowe durch. »Was sagte er zu Ihnen? Was war seiner Meinung nach mit seinem Auto passiert?«
»Er wiederholte auch uns gegenüber, sein Auto sei gestohlen worden, er habe den Diebstahl bei der Polizei in Bremerton angezeigt.«
»Ist Ihnen bei dieser Unterhaltung irgendetwas von Bedeutung aufgefallen?«
»Mr Trejo trank Red Bull, einen Energydrink. Aus einer Dose. Und er trug einen Verband um die Stirn, er hatte dort eine Schnittverletzung.«
Crosswhite erklärte, Trejo habe ihr und ihrem Partner gesagt, die Wunde stamme von einem Zusammenstoß mit der Ecke einer Küchenschranktür. Später, mit dem Blut in seinem Auto konfrontiert, habe er ausgesagt, er habe die Blutung anfangs stoppen können, später sei dann aber doch noch Blut auf den Autositz gekommen, den er dann zu säubern versucht hatte.
Alles ganz logisch, notierte sich Battles für spätere Kreuzverhöre. Kopfwunden bluteten eben stark. Sie musste sich praktisch auf ihre Hände setzen, um nicht gleich Einspruch zu erheben.
Crosswhite war eindeutig eine erfahrene Zeugin. Sie sagte aus, wie die TCI den Kassenbon eines Supermarkts gefunden hatte, der den eine halbe Stunde vor dem Unfall getätigten Einkauf von zwei Dosen eines Energydrinks dokumentierte. Damit war der Grundstock für die Einführung des Beweismittels gelegt, das Trejo am heftigsten belastete: das Video aus der Überwachungskamera des Supermarktes.
Während Cho noch sprach, sah Battles, wie seine Assistentin Clark hektisch den Karton zu ihren Füßen durchsuchte, in dem sich die Beweismittel befanden. Anschließend suchte sie auch noch den Tisch der Anklagevertretung ab.
»Euer Ehren …« Cho schien die Unruhe seiner Assistentin endlich auch mitbekommen zu haben. »Dürfte ich mich wohl kurz mit meiner Kollegin beraten?« Die beiden steckten die Köpfe zusammen und wechselten flüsternd ein paar Sätze, woraufhin auch Cho im Karton mit den Beweismitteln kramte. Wenig später ging er hinüber zum Tisch des Protokollführers Bob Grassilli, der sich daraufhin suchend auf seinem Tisch umsah.
»Euer Ehren?«, bat Cho. »Könnten wir eine kurze Pause einlegen, um ein Beweisstück zu holen?«
Rivas sah zur Uhr an der Wand. »Gut, wir machen jetzt also eine Pause. Wie lange werden Sie brauchen?«
»Nur ein paar Minuten, Euer Ehren.«
Im Saal erhob sich lautes Flüstern, als der Protokollführer, gefolgt von Cho und Clark, mit schnellen Schritten den Raum verließ. Battles stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Sie wandte sich an Trejo, der weiterhin stur mit dem Gesicht nach vorn sitzen blieb, und wollte gerade etwas zu ihm sagen, als sie mitbekam, wie Crosswhite vom Zeugenstand aus den im Zuschauerraum sitzenden Joe Jensen ansah und fragend die Brauen hochzog.