KAPITEL
27
Tracy hielt vor einem roten Backsteinhaus in der King Street ganz in der Nähe des Bahnhofs am Pioneer Square. Laut Auskunft der Führerscheinstelle wohnte Battles in einer der Wohnungen des Hauses, das mit seinen sechs Stockwerken zu den größeren in der Umgebung gehörte. Die Bebauung hier war ansonsten eher zwei- und dreistöckig, eine bunte Mischung aus Läden und Restaurants, Bars, Musikkneipen und Kunstgalerien, die viele junge Leute, aber auch einige Obdachlose und geistig Verwirrte anzog. Jetzt am frühen Abend drang Musik aus einem der Läden und auf dem Bürgersteig drängten sich Passanten, die entweder gerade von der Arbeit zu kommen schienen oder wohl schon unterwegs ins Wochenende waren.
Tracy hatte sich am Nachmittag mit Rick Cerrabone, Sandy Clarridge und Kevin Dunleavy getroffen. Alle drei waren mit der Entwicklung der Dinge unzufrieden und äußerten sich besorgt über das Verschwinden des Videos. Dunleavy, der vor dem Treffen noch mit dem Leiter der Rechtsabteilung der Navy telefoniert hatte, berichtete, das Video sei weiterhin unauffindbar und die Navy strebe ein Ethikverfahren gegen Battles an. Dem könnte je nach Ausgang auch noch ein Militärgerichtsverfahren wegen Dienstverfehlungen folgen. Battles vertrat Trejo nicht mehr anwaltlich und die Navy
wollte die Entscheidung in der Voruntersuchung abwarten, um dann sagen zu können, ob er weiterhin bei ihnen in Haft blieb oder nicht. Anschließend hatte Dunleavy erklärt, was das für die Polizei und Staatsanwaltschaft in Seattle bedeutete. Das war eigentlich allen Anwesenden bereits klar gewesen: Sollte bei der Voruntersuchung ausweichend entschieden und die Zuständigkeit wieder vom King County übernommen werden, dann sahen sie sich hier bei allen weiteren gerichtlichen Schritten gegen Trejo mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Navy. Bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren galten höhere Standards als bei einer Voruntersuchung, denn dann ging es nicht mehr um einen hinreichenden Anfangsverdacht, sondern konkret um eine Verurteilung. Es mussten Beweise vorgelegt werden, die über jeden Zweifel erhaben waren. Ohne das Video standen sie alle erheblich schlechter da als vorher, und Tracy hatte bei der Unterredung den Eindruck gewonnen, dass eigentlich keiner ihrer Vorgesetzten die Zuständigkeit nun unbedingt zurückhaben wollte, obwohl das niemand laut aussprach. Sie verstand auch, warum: Wer begibt sich schon gern in die Höhle der Löwen, wenn doch klar ist, dass die einen in Stücke reißen?
Tracy stieg aus dem Auto und ging hinüber zum Haus. Die Abendluft hatte einen gewissen Biss, war aber nicht mehr annähernd so kalt wie Anfang des Monats. Antike Straßenlaternen beleuchteten den feuchten Bürgersteig und die Luft roch nach Regen. Sie fand den Namen Battles auf der Klingelleiste und läutete. Als niemand reagierte, läutete sie noch einmal.
»Was suchen Sie denn hier? Einen Restauranttipp?« Tracy sah sich um. Hinter ihr stieg gerade Battles von ihrem Rad, in ähnlichem Aufzug wie bei ihrer ersten Begegnung gleich nach Trejos Verhaftung. Sie deutete auf Tracys Gürtel. »Das mit der Knarre ist eine gute Idee, obwohl die Gegend so übel nun auch wieder nicht ist.« Battles klang leicht außer Atem und ihre
Wangen waren gerötet. Als sie den Helm abnahm, sah man, dass sie sich die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
»Ich hatte gehofft, wir könnten uns ein bisschen unterhalten«, sagte Tracy.
»Und warum sollten wir das tun?« Das klang eher neugierig als feindselig.
»Weil ich glaube, dass wir beide dasselbe wollen.«
»Sie möchten also im Lotto gewinnen und auf einer Jacht im Mittelmeer leben?«
»Das wäre auch schön.« Tracy nickte. »Obwohl das Gras woanders ja nicht immer grüner ist.«
»Sehen Sie hier irgendwo Gras?« Battles musterte den Bürgersteig zu ihren Füßen. »Was wollen wir denn beide?«
»Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
Battles warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Ein Cop lädt mich zum Kaffee ein? Okay, ich bin interessiert. Ich schaff nur schnell mein Fahrrad rein. Wenn ich das hier draußen ankette, kann ich froh sein, wenn hinterher noch eine Speiche davon übrig ist.«
Sie verschwand im Haus, um wenige Minuten später ohne Rad, Helm und Fahrradschuhe wieder aufzutauchen, ein Tempotaschentuch in der Hand und an den Füßen Birkenstocksandalen, zu denen sie weiße Socken trug. »Ich gebe gern ein Modestatement ab, wenn ich ausgehe«, kommentierte sie Tracys Blick auf die Socken. »Die Jungs steh’n drauf.« Sie putzte sich die Nase und sah sich um. »Und? Wo wollen Sie nun mit mir hin?«
»Sie wohnen hier«, sagte Tracy. »Suchen Sie etwas aus, ich richte mich da ganz nach Ihnen.«
»Okay.« Battles dachte ein wenig nach, ehe sie Tracy einmal um den Block herum zum Café Zeitgeist in der Jackson Street führte. Dort bestellte sie sich einen Eiskaffee, während
sich Tracy für einen koffeinfreien Kaffee entschied. Sie brauchte nicht noch mehr Koffein in ihrem Kreislauf, sie schlief auch so schon schlecht genug. »Möchten Sie auch einen Happen essen?«, erkundigte sie sich bei Battles.
Die grinste. »Das fühlt sich hier langsam wie ein Date an.«
Crosswhite hielt die linke Hand hoch. »Verheiratet.«
»Ach ja? Hat er einen Freund?«
Battles nahm sich ihren Kaffee und steuerte einen freien Tisch an, blieb aber unterwegs noch einmal stehen, um einen Blick in das dicke, aufgeschlagene Wörterbuch zu werfen, das in Türnähe auf einem Ständer lag. Sie fuhr mit dem Zeigefinger an den Einträgen entlang. »›Faszinierend‹«, las sie laut vor. »›Die Neugier oder das Interesse weckend. Anziehend, fesselnd.‹« Sie sah Crosswhite an. »Durchaus prophetisch, nicht?«
Tracy ging mit ihrem Kaffee zu einem isoliert stehenden Tisch in der Nähe einer Ziegelwand und zog ihre Jacke aus. Über ihnen hing eine Wolken darstellende Skulptur vor einer unverputzten Decke aus Balken, Dachwerk und Kabeln. Die beiden Frauen setzten sich. »Sie waren gerade Radfahren?«, fragte Tracy.
»Nein.« Battles schüttelte den Kopf. »Das Rad ist Mittel zum Zweck. Ich trainiere am Nordende der Stadt und ein Auto ist in dieser Stadt zu teuer für mich.«
»Wofür trainieren Sie?«
»Ich nehme Unterricht in einer Kampfkunst, die Krav Maga heißt. Sagt Ihnen der Name etwas?«
»Nicht viel. Ist das nicht die Kampftechnik der israelischen Sonderkommandos?«
Battles erklärte bereitwillig, wie sich die Technik und das Training entwickelt hatten, und Tracy spürte deutlich, wie stolz sie war, darüber reden zu können.
»Klingt sehr praktisch«, sagte sie.
»Theoretisch schon.« Battles nippte an ihrem Kaffee. »Aber wenn man es richtig macht, kann man damit jemanden endgültig außer Gefecht setzen.« Sie stellte ihr Glas ab und lehnte sich zurück. »Ihr Treffen, Ihre Agenda.«
»Ich glaube nicht, dass Sie das Video genommen haben.«
Battles rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Da gehören Sie leider einer Minderheit an.«
»Sie haben dabei nichts zu gewinnen.«
»Mein Mandant wird freigelassen und ich bin die große Siegerin.«
»Und werden angeklagt.«
»Möglicherweise.«
»Möglicherweise. Ich sehe da keinen fairen Deal – auf jeden Fall keinen, von dem Sie etwas hätten.«
»Na ja, ich habe allerhand davon. Ich verliere meine Zulassung als Anwältin, werde entlassen, kann mich von meinem Sold und meiner Aussicht auf Rente verabschieden – ich verliere so ziemlich alles, weswegen ich bei der Navy bin.«
»Und Sie sind zu schlau, um so etwas Dummes zu tun.«
Battles beugte sich vor. »Sind Sie sicher, dass wir kein Date haben? Sie sind viel netter als ein paar von den Männern, mit denen ich mal aus war.«
Tracy lächelte, froh darüber, dass Battles ihren Biss nicht verloren hatte. »Und? Reden Sie mit mir?«
»Ich kann nicht über meinen Mandanten reden. Exmandanten.«
»Verstanden.«
»Lassen Sie mich Ihnen zuerst eine Frage stellen.« Battles richtete sich auf. »Sie sind nicht zuständig und wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, wird sich das SPD nicht gerade darum prügeln, einen Fall zurückzukriegen, der ein todsicherer Rohrkrepierer ist und außerdem den Unmut der Massen entfachen könnte.«
»Da könnten Sie recht haben.«
»Warum sind Sie dann also hier? Warum liegt Ihnen etwas daran?«
Tracy dachte über diese Frage nach. Sie hatte nach ihrem Gespräch mit Cerrabone, Dunleavy und Clarridge Shaniqua Miller besucht, die höflich gewesen war, aber eindeutig nicht interessiert daran, ausführlicher mit ihr zu reden. Tracy war für sie Teil des Rechtssystems, dem sie jetzt mehr denn je misstraute, und von daher Teil des Problems.
»Mir liegt etwas an dem Jungen«, erklärte sie. »Mir liegt etwas an einer Mutter, die jetzt vielleicht den Rest ihres Lebens ohne Antworten bleiben muss.«
Battles nippte an ihrem Kaffee, den Blick auf ein Fenster gerichtet, durch das man beobachten konnte, wie das Tageslicht mehr und mehr verschwand. Straßenlaternen beleuchteten die Bäume, die den Bürgersteig säumten. Ein altmodischer Straßenbahnwaggon rumpelte klingelnd am Café vorbei. Battles sah Tracy an. »Die Armen und Leidenden zu verteidigen, ist nicht immer die populärste Position«, sagte sie. »Okay, stellen Sie Ihre Fragen.«
Tracy sammelte sich kurz. Natürlich war sie vorbereitet, sie hatte sich genau überlegt, was sie Battles fragen wollte, sollte die zu einem Gespräch bereit sein. Da sie bei der Anhörung dabei gewesen war, hatte sie teilweise mitbekommen, was passiert war, und der Termin am Nachmittag hatte ihr weitere Informationen geliefert. Sie wollte wissen, wie Battles auf die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen reagierte. »Sie haben sich am Abend der Voruntersuchung die Beweise angesehen?«
»Ich habe mir einige der Beweise noch einmal angesehen, aber nicht das Video. Ich habe es nicht aus dem Karton genommen – eigentlich könnte ich nicht einmal sagen, ob es zu dem Zeitpunkt überhaupt im Karton war. Ich weiß nur, dass ich es mir zu diesem Zeitpunkt nicht angesehen habe. Warum auch,
ich kannte es ja bereits. Ich werde jetzt nicht sagen, was darauf zu sehen war oder was ich davon hielt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ein erneutes Ansehen nichts an den Fakten ändern würde. Außerdem hatte ich keinen Fernseher, auf dem ich es hätte abspielen können.«
Das klang plausibel, fand Tracy. »In Ordnung. Und was taten Sie mit dem Beweismittelkarton, als Sie ihn nicht mehr brauchten?«
»Ich habe ihn zurück zum Protokollführer gebracht und dort auf dessen Stuhl gestellt. Normalerweise trägt er Ausgabe und Rückgabe in einem Logbuch ein, aber er ist Zivilist und war zu der Zeit schon lange gegangen. Ich habe das nicht zum ersten Mal gemacht. Wir arbeiten nach dem Prinzip Ehre.« Sie hob die Hand zum Pfadfinderinnengruß.
»Der Protokollführer hat sein Büro im selben Haus wie Sie?«
»Ja. Im ersten Stock, gegenüber vom Gerichtssaal.«
»Wo ist Chos Büro?«
Battles lächelte. »Erster Stock, nur eine Flurlänge vom Büro des Protokollführers entfernt.«
»Wann genau haben Sie die Beweismittel zurückgebracht?«
»Nachdem Cho mein Büro verlassen hatte, wenn Sie darauf hinauswollen. Zwischen zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig und dreiundzwanzig Uhr.«
»Cho kam in Ihr Büro?«
»Auf seinem Nachhauseweg sozusagen.«
»Und da hatten Sie den Karton mit den Beweisen noch?«
»Ja.«
»Haben Sie gesehen, wie er ging?«
»Wie er das Gebäude verließ? Nur auf dem Videoband der Überwachungskamera.«
»Ihr Gebäude wird kameraüberwacht?«
»Ja, von der Tür aus, sodass der gesamte Eingangsbereich im Bild ist.«
Daran hatte Tracy bisher noch nicht gedacht und sie nahm sich vor, sich dieses Video zu beschaffen. »Wie kommt man ins Haus? Ist die Tür gesichert?«
»Immer. Man gibt die letzten vier Ziffern seiner Sozialversicherungsnummer ein. Wenn das System Ihre Zahlen erkennt, kommen Sie rein, wenn nicht, kommen Sie nicht rein.«
»Wo befindet sich die Liste? Die mit den Sozialversicherungsnummern, die das System kennt?«
»Im Erdgeschoss gibt es ein Sicherheitsbüro, nicht weit weg von meinem Büro. Die werden so eine Liste wohl haben. Sie bewahren jedenfalls die Überwachungsbänder auf.«
»Wie lange?«
»Das weiß ich nicht. Das war bisher nie Thema.«
»Wird dort auch das Video vom Abend vor der Anhörung aufbewahrt?«
»Ja, aber meine Einsatzleiterin hat eine Kopie.«
»Ihre Einsatzleiterin?«
»Meine Vorgesetzte. Rebecca Stanley.«
»Und Sie haben dieses Band gesehen?«
»Ja.«
Bei der nächsten Frage beobachtete Tracy ihr Gegenüber ganz genau. »Wann sind Sie an dem Abend gegangen?«
»Wann ich das Gebäude verlassen habe? Kurz nach Cho. Die letzte Fähre geht um dreiundzwanzig Uhr vierzig. Ich brauche mit dem Rad ungefähr zehn Minuten von meinem Büro zum Fährterminal in Bremerton. Ich habe die Beweise zurück ins Büro des Protokollführers gebracht und gleich danach das Gebäude verlassen.«
»Sie hätten einfach im Büro schlafen sollen.«
»Hatte ich erwähnt, dass ich noch Single bin und nicht die Absicht habe, allein zu sterben?«
»Hat jemand gesehen, wie Sie den Karton zurückbrachten?«
»Im Haus war niemand, jedenfalls habe ich niemanden wahrgenommen.«
»Okay.« Tracy nickte nachdenklich. »Und Ihres Wissens ist auch niemand nach Ihnen noch ins Haus gekommen?«
»Nur der Mann, der putzt. Er ist auf dem Band der Überwachungskamera.«
»Gehört die Reinigungsfirma zum Militär oder sind das Zivilisten?«
»Zivilisten.«
»Hat jemand mit ihm gesprochen?«
»Das NCIS, nehme ich doch an. Sie reden mit allen, auch mit mir.«
Tracy nahm sich vor herauszufinden, ob man die Protokolle der Befragungen des NCIS irgendwo einsehen konnte.
»Entweder hat jemand das Video aus dem Karton genommen, ehe der zu mir ins Büro gebracht wurde«, sagte Battles, »oder jemand kam früh am Morgen ins Büro des Protokollführers, sah den Karton dort auf dem Stuhl stehen und nahm das Video heraus.«
»Cho?«
»Ich weiß nicht. Aber wenn ich durch das Verschwinden des Bandes schon nichts zu gewinnen hatte, dann er doch erst recht nicht. Es hat ihm geschadet, das Video nicht vorführen zu können.«
»Und wäre es riskant gewesen, es aus dem Karton zu nehmen, ehe Sie die Beweismittel bekamen?«
»Weil mir das Fehlen hätte auffallen könne, meinen Sie? Meine Einsatzleiterin sagte auch schon so was. Aber außer dem Putzmann hat ja niemand mehr das Haus betreten oder verlassen.«
»Wer hat Zugang zu den Büros da im Haus?«, fragte Tracy weiter.
»Außer der Reinigungsfirma?« Battles zuckte die Achseln. »Jeder mit einer im System bekannten Sozialversicherungsnummer.«
»Und wie viele wären das?«
Battles schnaubte. »Eine Menge.« Sie wurde nachdenklicher. »Keine schlechte Idee, sich diese Liste zu besorgen. Aber ignorieren Sie damit nicht genau die Frage, die Sie mir gleich zu Anfang gestellt haben?«
»Warum hätte jemand das Video nehmen sollen?«
Battles nickte.
Tracy wusste es nicht, aber sie würde sich trotzdem eine Liste aller an diesem Abend ins System eingetippten Ziffern geben lassen.
Jeannie Welch begleitete Faz und Del die kleine Treppe hinunter und weiter bis zum ausgehängten Gartentor. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, um sich warm zu halten. Inzwischen dämmerte es nicht mehr, es war richtig Nacht geworden und die spärlich verteilten Straßenlaternen warfen fleckig gelbes Licht auf den Bürgersteig und das Durcheinander aus Kabeln zwischen den Telefonmasten und Häusern. Irgendwo weiter die Straße hinunter riefen zwei Jungen einander etwas zu. Wahrscheinlich wollten sie schnell noch irgendein Spiel beenden, ehe es ganz dunkel wurde.
Am Tor, beziehungsweise dort, wo das Tor sein sollte, blieb Welch stehen. »Er hat es vor ein paar Nächten aus den Angeln getreten, als er ging.« Sie klang erschöpft. »Er wollte Geld. Für einen neuen Verstärker, hat er gesagt, aber ich habe inzwischen gelernt, dass man Jack nie Geld geben darf.« Sie drehte sich zu ihrem Haus um. »Ich hatte früher mehr, auch schöne Sachen, aber er klaut alles, was irgendeinen Wert hat, und verkauft es
dann. Den Schmuck, den meine Mutter mir vererbt hatte, unseren Toaster, Fernseher, das Rad seiner Schwester. Er streitet es ab, aber ich weiß, dass er es war.«
Del zog einen Packen Visitenkarten aus der Tasche und hielt ihr eine davon hin. »Allie war meine Nichte«, sagte er. »Deswegen war ich bei der Beerdigung.«
Welchs Hand blieb in der Luft hängen, als könnte die Karte beißen. »Das tut mir so unendlich leid.«
»Für den Fall, dass ich irgendetwas tun kann.«
Sie nickte vorsichtig und nahm die Karte.
In diesem Moment hörte Del gedämpft die schweren Bässe irgendeiner Band, und ein nicht mehr ganz neuer Honda Accord bog schwungvoll in die Straße ein, kollidierte dabei um ein Haar mit einem der am Straßenrand geparkten Autos und hielt schließlich am Ende der Auffahrt der Welchs mit einem Ruck an.
»Das ist Jack«, sagte Jeannie Welch leise und zögernd.
Jack entdeckte die beiden Männer, die sich mit seiner Mutter unterhielten, und legte umgehend geräuschvoll den Rückwärtsgang ein.
»Er haut ab!« Mit einem Sprung stand Del an der Beifahrerseite des Prius, während Faz zur Fahrertür rannte.
Der Honda stotterte, hüpfte und blieb stehen – Jack hatte ihn abgewürgt und musste den Motor neu starten. Wieder kreischte das Getriebe protestierend, ehe das kleine Auto mit einem Sprung nach vorn preschte.
Inzwischen hatte Faz den Prius starten und den Gang einlegen können. Geschwindigkeitsrekorde brach man mit diesem Auto nicht, was allerdings in diesem Fall auch gut war. Sie hatten nicht vor, Welch in eine Verfolgungsjagd bei Höchstgeschwindigkeit zu verwickeln, falls der es denn darauf anlegte. Dabei konnte zu viel passieren und die Vorschriften ließen es sowieso nicht zu.
Ohne auch nur kurz anzuhalten, bog der Accord bei einem Stoppschild rechts ab.
Faz trat auf die Bremse, wurde langsam, bis er die Kreuzung einsehen und sicher sein konnte, dass kein anderes Auto kam, und fuhr ihm nach.
»Nächste Ecke links«, rief Del. »Er hat da vorne noch ein Stoppschild überfahren.«
»Sieh zu, ob uns jemand helfen kann, bevor der Typ noch jemanden umbringt. Sein rechtes Rücklicht geht nicht.«
Del gab per Funk Marke und Modell des Honda durch, das Kennzeichen, ihre momentane Position und die Richtung, in die sie fuhren. Sollte Welch eine Auffahrt zum Freeway ansteuern, dann würden sie die Highway Patrol alarmieren und denen die Jagd überlassen.
Parkende Fahrzeuge huschten an ihren Fenstern vorbei. Faz riskierte einen Blick auf den Tacho: 80 km/h in einer Wohngegend! Er versuchte, alles im Blick zu haben, jede Einfahrt, aus der ein Auto rückwärts auf die Straße fahren konnte, auf dem Bürgersteig spielende Kinder.
»Kann uns jemand unterstützen?«, rief er Del zu.
Der hatte erneut ihre Position über Funk durchgegeben und konnte jetzt melden, dass sich ein Streifenwagen in der Nähe befand.
»Dann lasse ich mich zurückfallen und fahre langsamer«, sagte Faz. »Vielleicht macht er mir das ja nach. Gerade biegt er wieder ab.«
Del gab das per Funk durch.
Weiter vorn passierte jetzt genau das, was Faz befürchtet hatte: Der Honda hatte gerade frisch Tempo aufgenommen, als vor ihm ein roter Pick-up mit einiger Geschwindigkeit rückwärts aus einer Einfahrt setzte.
»Festhalten«, schrie Faz.
Vorn leuchtete ein einsames Bremslicht auf. Bremsen quietschten, die Kühlerhaube des Honda ging nach unten – und traf mit lautem Knall auf die hintere Abdeckung des Pick-ups. Blech schepperte, Glas splitterte.
Faz hatte Del gerade gebeten, einen Rettungswagen zu rufen, als Welch seine Wagentür aufriss und losrannte. »Der Typ ist zäh wie eine Katze!«, rief Faz empört.
»Ich bin dran.« Del war schon halb aus dem Auto und setzte Welch nach.
Der sprintete durch diverse Vorgärten, bis er in eine Auffahrt einbog. Einholen konnte Del den Jungen nicht, seine besten Jahre lagen einfach hinter ihm. Aber mithalten konnte er, jetzt, wo er abgenommen hatte, und das allein fühlte sich schon prima an. Welch kraxelte einen links an einem Haus vorbeiführenden Zaun hoch und war längst auf der anderen Seite, als Del noch am Tor nach dem Riegel fahndete. Prompt ging auf dem Grundstück hinter dem Zaun das Flutlicht an. Als man kurz darauf auch noch einen großen Hund knurren und bellen hörte, tauchten oben auf dem Zaun ganz schnell erst Welchs Hände und gleich darauf Kopf und Schultern auf. Mit deutlicher Panik im Blick schwang der Junge ein Bein über den Zaun und ließ sich fallen. Sein rechtes Hosenbein war unten zerrissen, wie Del nicht ohne eine gewisse Befriedigung feststellte, als er ihm das Knie in den Rücken stemmte und die Handschellen zuschnappen ließ. Ein Mann mit einem Baseballschläger stürmte durch das Zauntor. Del hielt ihm seine Dienstmarke hin. »Wir sind von der Polizei.«
Dann wandte er sich wieder Welch zu. »Sie haben das Recht, zu schweigen …«