KAPITEL
29
Dan nannte die Monate, in denen Tracy Spätschicht hatte, »Zeit der Vampire«, weil sie einander dann bei Tageslicht kaum zu Gesicht bekamen, wenn auch bei ihm im Büro viel zu tun war. Momentan war eindeutig Zeit der Vampire und als Tracy an ihrem freien Tag mitten in der Woche aus dem Bett kroch, war Dan schon längst über alle Berge. Er würde den ganzen Tag wegen einer eidesstattlichen Erklärung unterwegs sein müssen, stand auf dem Zettel, den er ihr dagelassen hatte. Tracy erledigte rasch ein paar Dinge und fuhr dann in die Stadt, um Kins zu besuchen.
Sie wusste, wie es ihm ging, sie erhielt entweder von Kins selbst oder von dessen Frau Shannah tägliche Gesundheitsberichte. Kins hatte schon am Tag der OP das Bett verlassen und ein paar Schritte laufen können, am Tag darauf hatten sie ihn aus dem Swedish Hospital entlassen. Seitdem war er daheim, in seinem Haus im schicken Stadtteil Madison Park, das er »Kingston Estate« nannte, weil das Grundstück ziemlich exklusiv nur über eine schmale Betonbrücke zu erreichen war. Mehr als ein Auto auf einmal kam hier nicht durch, was aber kein Problem darstellte, denn hinter der Brücke gab es ohnehin nur noch zwei Häuser, dann fing das Seattle Aboretum an. Neben dem zweistöckigen weißen Haus im Kolonialstil, das
Kins mit seiner Familie bewohnte, gab es noch eine stattliche Villa im spanischen Stil mit orangefarbenen Dachziegeln und bleigefassten Fenstern. Tracy hätte gern mit der Villa geliebäugelt, nur hatte das keinen Zweck, denn die Besitzer würden sich nie davon trennen: Sie waren im selben Alter wie Kins und Shannah, hatten gleichaltrige Kinder und viele gemeinsame Interessen. Besser konnte man es nicht treffen, fand Kins.
Kins Heim war, wie gesagt, das klassische Haus im Kolonialstil: unten ein großzügiges Wohnzimmer, Esszimmer und kleine Küche, oben ein großes Schlafzimmer, Bad und zwei kleinere Schlafzimmer. Im Grunde nicht gerade perfekt mit drei Jungen im Haus, weswegen Kins in den ersten Jahren einen Großteil seiner knapp bemessenen Freizeit damit verbracht hatte, das Souterrain auszubauen. Da unten gab es jetzt weitere Schlafzimmer, ein großes Bad und einen Freizeitraum mit Billardtisch. Eine Tür führte hinaus ins Arboretum, ein hundert Hektar großes Gebiet voll exotischer Pflanzen und Bäume – fast groß genug für die drei Jungs hier.
Tracy parkte in einer Parkbucht direkt vor dem Haus und betrat den Garten durch ein grün gestrichenes Tor. Sie hatte einen Stapel Zeitschriften sowie einige Bücher dabei, die seine Kollegen zusammengestellt hatten, um Kins die Zeit der Erholung zu verkürzen. Ein hochgestecktes Ziel: Kins musste sich bewegen, sonst war er unglücklich. Da ähnelte er seinen drei Söhnen sehr und Shannah, die ihn ruhig halten sollte, bis die Hüfte verheilt war, war wirklich nicht zu beneiden.
Shannah öffnete auf Tracys Klopfen hin die Tür, kam aber gar nicht erst zu Wort, weil ihr Mann wusste, dass seine Kollegin vorbeischauen wollte, und schon gewartet hatte. »Crosswhite? Wird auch langsam Zeit! Ich versauere hier drin und meine Kollegen halten es nicht für nötig, mich zu trösten.«
Shannah verdrehte die Augen. »Klingt, als läge er im Sterben, was? Wenn hier wer umkommt, dann wohl eher ich!«
Sie warf einen Blick auf das mitgebrachte Lesematerial. »Dem Himmel sei Dank! Da hat er mal ein, zwei Tage was zu tun.«
Shannah und die Jungs hatten ein Bett ins Wohnzimmer geschafft, damit Kins nicht gleich die ersten Tage die enge Treppe zum Schlafzimmer hochklettern musste.
»Der perfekte Patient, wie ich sehe!«, begrüßte Tracy ihren Partner.
»Ich drehe hier durch!«, beklagte sich Kins. »Und das nach noch nicht mal achtundvierzig Stunden!«
Er war unrasiert, was Tracy an ihre erste Begegnung erinnerte. Kins hatte damals verdeckt für das Drogendezernat ermittelt und sich zu diesem Zweck die Haare wachsen und einen schütteren Spitzbart stehen lassen, weswegen man ihm frei nach Johnny Depp im Film Fluch der Karibik
den Spitznamen Jack Sparrow verpasst hatte.
»Ich mache gerade Lunch, Tracy. Kannst du bleiben?«, fragte Shannah.
»Ich weiß nicht genau, ob ich das will.« Sie deutete auf Kins. »Muss der auch dabei sein?«
»Nicht, wenn du ihm ein Kissen aufs Gesicht drückst, sobald ich den Raum verlassen habe.«
»Solche Liebesbezeugungen könnte ich auch im Büro von Faz und Del kriegen«, beschwerte sich Kins.
»Vielleicht, aber die würden bestimmt nicht ihr Mittagessen mit dir teilen.«
Shannah verschwand Richtung Küche. Tracy zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich neben Kins. »Die Kollegen haben das hier für dich zusammengestellt.« Sie legte den gesammelten Lesestoff neben das Bett. Irgendwo im Raum drang leise Musik aus einem Lautsprecher. »Und wie geht es dir?«
»Die Pillen machen müde und ich fühle mich nicht ganz bei mir. Das mag ich gar nicht, ich setze sie also schon langsam ab.«
»Und die Schmerzen?«
»Erstaunlich wenig«, bekannte Kins. »Alle hatten recht. Ich hätte mich schon vor zwei Jahren operieren lassen sollen. Wie läuft es bei der Arbeit? Haben sie jemanden geschickt, um meinen Platz einzunehmen?«
»Ron hilft aus.« Ron war Ron Mayweather, das fünfte Rad am Wagen des A-Teams. »Wir kriegen alles ganz gut geschafft.«
»Wie ist der Stand bei D’Andre Miller und Trejo?«
Wie die meisten Detectives mochte auch Kins nicht gern den Kontakt zur Arbeit verlieren und wollte eigentlich immer gebraucht werden.
»Wie viele Pillen nimmst du noch?«
»Warum? Weil du wissen willst, wie klar ich bin? Kommt dir irgendwas komisch vor?«
»Die ganze Sache kommt mir komisch vor.« Tracy seufzte. »Irgendetwas hat mich an Trejo von Anfang an gestört.«
»Wie die Frage, was er überhaupt in Seattle wollte?«
»Das auch, auf jeden Fall. Vor allem aber: Wenn er D’Andre Miller versehentlich getötet hat, warum bekennt er sich nicht dazu?«
Kins rief: »Alexa, Schluss!«, woraufhin die Musik verstummte. »Mein neuestes Spielzeug von Amazon, die Jungs klauen es sich, wenn sie Freunde zu Besuch haben.« Er stellte sich den Kopfteil seines Bettes anders ein. »Menschen verhalten sich öfter mal dumm und meistens aus total dämlichen Gründen. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe drei Söhne. Ich glaube, manchmal lassen die sich einfach vom Augenblick mitreißen und dann sitzen sie fest wie eine Fliege im Spinnennetz. Kommen einfach nicht wieder raus.«
Shannah brachte einen Teller mit zwei Sandwichs herein, dazu einen Krug Eistee, zwei Gläser und eine Schale mit Kirschtomaten. Sie stellte alles auf den Couchtisch. »Okay, ich bin dann mal weg. Die Jungs sind beim Fußballtraining
und das heißt zwei Stunden Atempause! Zwei Stunden elende Fronarbeit, meinte ich natürlich.«
»Ha, ha«, knurrte Kins. »Bist ein wahrer Witzbold.«
»Brauchst du noch was?« Shannah beugte sich hinunter und küsste ihn.
Kins strahlte sie hoffnungsvoll an. »Kartoffelchips?«
»Netter Versuch.« Sie küsste ihn noch einmal, verabschiedete sich von Tracy und verschwand.
»Bist du jetzt außerdem noch auf Diät?«, wollte Tracy wissen.
»Del kann was erleben, wenn ich den wiedersehe! Er rief an, um sich nach mir zu erkundigen, und Shannah und er haben eine halbe Stunde lang angeregt geplaudert. Angeblich hat er sieben Kilo abgenommen.«
»Das dürfte inzwischen noch mehr sein. Er sieht gut aus.«
»Na ja, egal. Shannah jedenfalls predigt seitdem, dies wäre eine prima Gelegenheit, mit dem gesunden Leben anzufangen.«
»Womit sie ja recht haben könnte, nicht?« Tracy nahm sich ein halbes Sandwich. »Lass uns mal davon ausgehen, dass Trejo nicht dumm ist. Lass uns annehmen, er konnte einfach nicht anhalten.«
»Weil seine Bremsen versagt haben oder so?«
»Weil er gerade etwas Illegales tat. Etwas, bei dem er sich nicht erwischen lassen durfte, weil ihn das sonst in noch größere Schwierigkeiten bringen würde.«
»Größere Schwierigkeiten als man kriegt, wenn man ein Kind überfährt?« Kins steckte sich eine Tomate in den Mund.
»Was, wenn er betrunken oder high war, als er den Jungen überfuhr?«
Kins dachte nach. »Das würde erklären, warum er den Wagen aufgegeben hat.«
»Aber nicht unbedingt auch gleich, woher er das Grundstück kannte. Von der Straße her sieht das aus wie eine Einfahrt.«
»Wenn man es nicht kennt, fährt man glatt daran vorbei.« Kins nickte.
»Und er sagt, er ist aus San Diego und kommt nicht oft nach Seattle.«
»Dann hat er also entweder vorher von dem Grundstück gewusst – oder jemand anderes hat es ihm beschrieben«, sagte Kins.
Tracy biss in ihr Sandwich. »Er muss auch gewusst haben, wie wir feststellen können, ob sein Auto nun geklaut wurde oder nicht.« CSI hatte auf dem Zündschloss keine Spuren gefunden und auch bei den Kabeln unter dem Armaturenbrett deutete nichts auf Diebstahl und Kurzschließen hin. »Deswegen hat er diese Geschichte von einem Versteck unter der hinteren Stoßstange erfunden.«
»Die wir im Grunde nicht widerlegen können«, sagte Kins.
»Richtig, können wir nicht. Aber auch hier gilt: Deutet das nicht darauf hin, dass irgendwer die ganze Geschichte genau durchdacht hat? Für so clever hätte ich Trejo eigentlich nicht gehalten.«
»Der Wagen wurde innen sauber gemacht, einschließlich des Airbags«, sagte Kins. »Das gehört auch dazu. Könnte auf einen Anwalt hindeuten.«
Tracy nippte an ihrem Eistee. »Auf jeden Fall auf jemanden, der sich mit Haftung und Beweismitteln auskennt.«
»Battles?«
»Vielleicht. Aber da frage ich mich immer: Was hätte sie davon?« Tracy steckte sich den letzten Bissen ihrer Sandwichhälfte in den Mund und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »Ich könnte mir vielleicht noch vorstellen, warum sie das Video genommen hat, aber damit sind wir noch lange nicht bei dem, der Trejo an dem Abend geholfen hat, sein Auto zu verstecken und wieder nach Hause zu kommen.«
»Sie wohnt in Seattle«, gab Kins zu bedenken.
»Ich weiß, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie für Trejo ihre Karriere aufs Spiel setzt.«
»Vielleicht hat er etwas gegen sie in der Hand, etwas, mit dem er sie erpressen kann?«
»Vielleicht.«
»Oder wir haben es mit mehr als einer Person zu tun.«
»Möglich wäre es.« Tracy stellte ihr Glas ab und dachte nach. »Da ist noch etwas. Etwas, was mir aufgefallen ist, als im Gericht plötzlich alles in heller Aufregung war, weil das Video sich nicht finden ließ: Trejo hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt.«
Kins langte nach einer weiteren Sandwichhälfte. »Wie meinst du das?«
»Ich meine, er saß einfach nur da und starrte geradeaus, als würde er gar nicht verstehen, was los ist.«
»Vielleicht war das auch so.«
»Komm schon, wie hätte er das denn nicht kapieren können? Alle anderen im Saal haben es kapiert. Cho hat es ganz direkt ausgesprochen: Sie konnten das Video nicht finden.«
»Und er hat gar nicht reagiert?«, hakte Kins nach.
»Hätte er doch aber müssen, oder? Irgendwie? Verwirrt, erstaunt, erfreut – irgendeine Reaktion hätte man ihm doch ansehen müssen.«
»Könnte es sein, dass er für die Anhörung ein Beruhigungsmittel bekommen hat? Vielleicht war der Stress zu viel für ihn und sie hatten ihm etwas gegeben.« Kins legte sein Sandwich ab.
»Kann sein«, sagte Tracy. »Vielleicht wusste er aber auch, was passieren würde.«