KAPITEL
30
Nicholas Evans hatte einen Schulabschluss, war Bassist in der Heavy Metal Band Chaos und Heroindealer.
»Ein netter Lebenslauf, wenn man sich mal irgendwo bewerben will«, sagte Del zu Faz.
Nach Durchsicht der Nachrichten auf dem Handy von Jack Welch hatten die beiden ausreichende Beweise, um sagen zu können, dass Evans Allie und Welch das Heroin verkauft hatte, das Allie tötete. Welch hatte Evans am Nachmittag des letzten Tages im Leben von Dels Nichte eine Nachricht geschickt.
Hätte gern eine Dröhnung, hab Geld.
Evans brauchte eine halbe Stunde, um zu antworten. Später heute, Bro.
Als Welch nichts von Evans hörte, schrieb er ihn später am Nachmittag noch einmal an. Hör mal, meine Freundin und ich sind bereit, wann immer du bereit bist.
Evans antwortete: Kein Stress, Kumpel, ich arbeite dran.
Schließlich, nach siebzehn Uhr, hatte Evans Welch kontaktiert: BK Auroa in 20.
Welch hatte dann Allie die Nachricht geschickt, die Del auf ihrem Handy gefunden hatte, die in diesem Zusammenhang aber noch besser verständlich war: Treffer! Muss in 20 dort sein. Ich hol dich ab.
Allie hatte sich weiterhin widerstrebend gezeigt. Nicht sicher, ob dann schon zu Hause. Geh ohne mich.
Del schob seinen Stuhl zurück und schloss kurz die Augen. Am liebsten hätte er jetzt geweint. Allie war so kurz davor gewesen, nach der Arbeit nach Hause zu gehen, so kurz davor, am Leben zu bleiben. Aber Welch konnte sich seinen Stoff nicht selbst kaufen, weil er pleite war, und hatte, wie die meisten Süchtigen in solcher Lage, einfach nicht lockergelassen.
Ich hol dich ab. Muss dahin, er hat noch andere Käufer. Das Zeug ist echt spitze.
Allies Antwort, so einfach und so traurig, sagte unter Umständen mehr über die Macht des Heroins und ihren Kampf auf Leben und Tod aus als alles, was sie sonst hätte sagen können.
OK.
Faz rief im Rauschgiftdezernat an und erkundigte sich, ob es dort Informationen zu diesem Evans gab. Das war überraschenderweise nicht der Fall, obwohl in Seattle mehrere Detectives verdeckt unterwegs waren. Sie kannten auch einige potenzielle Dealer, aber der Name Evans sagte ihnen nichts. Da der Mann nicht mit Black Tar handelte, sondern mit entweder sehr reinem oder mit tödlichen Stoffen vermischtem Heroin, vermutete das Drogendezernat hier einen Einzelkämpfer, einen einsamen Wolf, der unter dem Radar flog und zusah, dass er nicht weiter auffiel. Del bat, ihn und Faz über eventuelle Entwicklungen informiert zu halten.
Del und Faz hatten Evans in einem Apartment in Green Lake aufgestöbert und brachten ihn ohne Zwischenfälle ins King County Jail. Anders als Welch ging Evans nicht mehr zur
Schule und versuchte mit seinen zweiundzwanzig Jahren, den harten Macker zu markieren. Er verlangte nach einem Anwalt und stellte klar, dass er ansonsten nichts sagen würde. Das sollte dann wohl so sein. Inzwischen war die Woche fast vorbei, es war später Freitagnachmittag. Evans konnte nicht damit rechnen, vor der Anhörung zur Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts aus der Haft zu kommen, und diese Anhörung würde nicht vor Montag stattfinden. Mit der Leitung der Voruntersuchung hatte man Celia McDaniel betraut, deren Meinung nach Evans realistischerweise mit einer Kaution von fünfzigtausend Dollar rechnen musste. Sie könnte versuchen, auf eine höhere Summe zu drängen, und dabei die Dringlichkeit der Lage und die Gefährlichkeit der von Evans unter die Leute gebrachten Droge anführen, aber bisher hatte man ihn nur mit Allies Tod in Verbindung bringen können, und sie warteten immer noch auf die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung des Heroins, das Del im Zimmer seiner Nichte gefunden hatte.
»Am besten setzt man die zu verlangende Kaution so an, dass sie nicht gleich den Rahmen sprengt«, hatte sie Del am Telefon erklärt. »Dann fällt es dem Richter leichter, sie unserem Vorschlag entsprechend festzusetzen.«
Natürlich konnte Evans dann unter Umständen das Gefängnis verlassen, sobald er einem Kautionsvermittler fünftausend Dollar gezahlt hatte, aber darin sah Del keine Gefahr.
»Wenn das deiner Meinung nach das beste Vorgehen ist, dann mach es so«, sagte er zu Celia. »Ich habe das Drecksloch gesehen, in dem dieser Evans haust, und ich nehme stark an, er ist zu Hause ungefähr so willkommen wie dieser Welch bei seiner Mutter. Seine Eltern werden wohl kaum gleich loslaufen und ihm Cash besorgen, damit er auf freien Fuß kommt.«
Somit blieb Del ein ganzes Wochenende, um die für eine Anklageerhebung nötigen Beweise zusammenzutragen. Das war
eindeutig ein Schritt in die richtige Richtung, ein Schritt dahin festzustellen, wer die Droge geliefert hatte, durch die Allie und möglicherweise ja auch noch andere ums Leben gekommen waren. Je näher Del jedoch einer Aufklärung des Falles kam, desto weniger fühlte sich das nach einem Schlussstrich an. Ihm fehlte jede Zufriedenheit an seiner Arbeit und er musste oft an Celias Worte über die drei oder vier anderen Dealer denken, die nur darauf warteten, die im Versorgungsnetz entstandene Lücke zu schließen. Auch Celia hatte die Verurteilung des Dealers ihres Sohnes nur wenig Genugtuung gebracht.
»Rache kann einem den Sohn nicht ersetzen«, hatte sie erklärt.
Das hier war seine Arbeit, versicherte sich Del immer wieder. Er war Polizist, dort draußen starben vielleicht gerade in diesem Augenblick weitere Menschen und er war damit beauftragt, dem ein Ende zu bereiten. Gleichzeitig schien ihm Celias Einstellung immer nachvollziehbarer. Würde er sich auch so fühlen wie sie, wenn das alles hier zu Ende war? Wenn er die Leute gefunden hatte, die Allie den Stoff gegeben hatten, wenn sie verurteilt worden waren und im Knast saßen? Was noch wichtiger war: Würde seine Schwester sich so fühlen? Ging es ihm wirklich darum, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen? Trieb er die Ermittlungen wirklich deswegen so vehement voran? Und ging es ihm dabei wirklich um seine Schwester? Ging es nicht eigentlich um sein eigenes brennendes Verlangen nach Rache? Und konnte die letztendlich eine Nichte ersetzen – oder eine Tochter?