KAPITEL 32
Tracy holte sich einen Wagen aus der Fahrbereitschaft und nahm die Fähre über die Elliot Bay. Die winterliche Kälte war frühlingshaftem Regen gewichen – allerdings nicht von der traditionellen Art, wie man den Regen in Seattle gewohnt war: mal an, mal aus. Dieser Regen fuhr über das Land wie die Stürme an der Ostküste, prasselte in einem schweren Guss nieder, wurde schwächer – und schlug erneut voller Zorn zu. Tracy verließ die Fähre und steuerte sofort das Wohngebiet Jackson Park an, wo sie nach Einbruch der Dunkelheit eintraf. Von ihrem ersten Besuch her wusste sie, dass Trejo in einem an einer Straßenecke gelegenen Haus wohnte. Wenn sie nun in einer Straße parkte, die im rechten Winkel zu der von Trejo verlief, verhalf ihr eine abschüssige Rasenfläche zu einem gewissen Schutz vor den Blicken neugieriger Nachbarn. Die schweren Regenfälle halfen ebenfalls.
Sie nahm ihre Position ein. Auch diesmal schien hier niemand unterwegs zu sein, kein Hundebesitzer, kein Jogger, und auch auf den Sportplätzen wurde weder Basketball noch Tennis gespielt. Tracy hatte den Bürgersteig vor Trejos Haus gut im Blick, auch die Treppenstufen, die zu seiner Haustür führten. Der Subaru stand auf der ihm zugewiesenen Abstellfläche, der vordere Kotflügel war immer noch eingedellt, die Windschutzscheibe allerdings gerichtet. Tracy würde Trejo sehen, sobald er seine Wohnung verließ, und wenn er mit dem Auto weiterwollte, gab es nur zwei Möglichkeiten, den Wohnkomplex zu verlassen, und bei beiden würde eine Verfolgung nicht schwerfallen. Falls der Mann denn irgendwo hinwollte.
Dunleavy hatte seine Pressemitteilung kurz nach halb sechs herausgegeben, was mit Trejos Entlassung zusammenfiel. Eine Erklärung voller Empathie, jedoch ohne konkrete Versprechungen: Die Polizei von Seattle prüfe gründlich alle vorliegenden Beweise, um dann über weitere strafrechtliche Maßnahmen zu entscheiden. Tracy fand die Formulierungen gelungen und rechnete fest damit, dass Trejo reagieren würde – vorausgesetzt natürlich, ihre Schlussfolgerungen waren korrekt. Von daher hoffte sie sehr, dass sie richtig vermutet und Trejo nach dem Unfall Hilfe gehabt hatte. Und wenn das zutraf, dann würde die betreffende Person – oder die betreffenden Personen – die Lage bestimmt nicht am Telefon erörtern wollen, sondern ein persönliches Gespräch vorziehen. Das würde sich bald herausstellen.
Sie saß da, aß einen Eiweißriegel und lauschte dem Regen, der auf das Dach des Dienstwagens trommelte. Kurz nach einundzwanzig Uhr ging über Trejos Haustür das Licht an, möglicherweise aufgrund einer Zeitschaltung. Tracy richtete sich auf und behielt die Tür durch einen Regenschleier hindurch im Auge. Gerade ging die Wohnungstür auf, Licht fiel auf den Gang davor und jemand, höchstwahrscheinlich Trejo, eilte den Bürgersteig entlang. Genau konnte Tracy nicht erkennen, wer es war. Der Mann hatte zwar die richtige Größe, trug allerdings wegen des Regens eine Kapuze und lief von Tracy weg, Richtung Subaru, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Ihr blieb kaum eine andere Wahl, als ihn für Trejo zu halten und ihm zu folgen.
Sie zog den Schirm der Baseballmütze der Mariners, die sie Kins vom Schreibtisch geklaut hatte, tiefer ins Gesicht und ließ ihren Wagen an. Ohne das Licht einzuschalten, wendete sie, fuhr an der Straßenecke links und bog in die Straße ein, die parallel zur Rückansicht von Trejos Wohnkomplex führte. Oben auf dem Hügel sah sie durch den Regen hindurch die Lichter des Subaru heller werden. Der Wagen setzte rückwärts aus dem Carport und fuhr auf den ersten der beiden möglichen Ausgänge der Wohnanlage zu. Trejo – wenn er es denn war – bog nach links ab, Tracy folgte ihm eine Straße darunter.
Trejo steuerte den Ausgang der Anlage an und wandte sich danach auf der State Route 3 nach Süden. Die State Route war eine vierspurige Straße mit einem Trennstreifen in der Mitte, der aus Erde und Gras bestand. Kurz nach dem Subaru traf auch Tracys Wagen an der Kreuzung ein. Sie schaltete das Licht ein und folgte ihm. Die State Route war keine stark befahrene Straße, schon gar nicht an einem so jämmerlich nassen Abend, aber der nachhaltige Regen und die Dunkelheit erleichterten die Verfolgung etwas. Tracy hielt trotzdem Abstand und versuchte, sich unauffällig unter die wenigen anderen Fahrzeuge zu mischen.
So waren sie etwa fünf Minuten lang unterwegs, bis Trejo die Ausfahrt für die Newberry Hill Road ansteuerte. Die zog sich lang hin und verlief flach, so konnte Tracy den Subaru im Auge behalten, ohne ihm zu nahe zu kommen. Als Trejo sich rechts einordnete, hoffte Tracy, sich hinter einem anderen Auto verbergen zu können, konnte hinter sich aber leider keine anderen Scheinwerfer entdecken. Das blieb so, bis sie das Ende der Auffahrt erreicht hatte, und da sie nicht zu weit zurückbleiben und Trejo womöglich an der nächsten Ampel verlieren wollte, bog auch sie rechts ab und folgte ihm. Die Newberry Hill war eine zweispurige Straße mit je einer Fahrspur in jede Richtung, die nach einer Kurve ihren Namen in Silderdale Way änderte und jetzt an den großen, einzeln stehenden Privathäusern am Ufer der Dyes Inlet genannten Bucht vorbeiführte. Das Wasser war heute schwarz wie Tinte, mit kleinen, durch Wind und Regen verursachten weißen Krönchen.
Als sich der Subaru der Bucklin Hill Road und damit der ersten größeren Kreuzung hier näherte, wurde er langsamer, weil die Ampel auf Rot stand. Um nicht zu dicht aufzufahren, bog Tracy auf das Gelände eines Supermarkts mit großem Parkplatz ab, überquerte diesen Parkplatz und kam auf der Bucklin Hill Road raus, wieder hinter dem Subaru, dessen Rücklichter kurz darauf überraschend heller wurden, als der Wagen abbremste, um langsam rechts abzubiegen, diesmal in eine Straße ohne Namen. Ein Schild wies darauf hin, dass dies die Zufahrt zum Old Mill Park und von daher eine Sackgasse war.
Tracy wusste nicht, ob Trejo fürchtete, verfolgt zu werden und den Park als Möglichkeit zum Umdrehen oder als reine Vorsichtsmaßnahme nutzen wollte. Von daher fuhr sie an der Zufahrt vorbei, bog links in ein auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegendes Einkaufszentrum ab und parkte dort in einer Parkbucht, von der aus sie den Parkeingang im Auge hatte. So konnte sie den Subaru sehen, falls Trejo gleich wieder auftauchen sollte. Als dies nicht geschah, schaltete sie den Motor aus und öffnete ihre Wagentür. Sie schlüpfte rasch in ihren Regenmantel, zog sich dessen Kapuze über die Basecap und eilte zum Bürgersteig, der an der Bucklin Hill Road entlangführte. Sie ließ den Verkehr passieren und überquerte die beiden ersten Fahrspuren bis zum Mittelstreifen, wo sie eine weitere Lücke im Verkehr abpasste, um über die beiden nach Westen führenden Fahrspuren Richtung Parkeingang zu laufen. Wasser tropfte vom Schirm der Basecap, der durch den Wind aufgepeitschte Regen erschwerte die Sicht erheblich. Auf der Zufahrtsstraße zum Park wurde sie schneller. Der Subaru stand als einziges Fahrzeug auf einem Streifen mit rund einem Dutzend Parkbuchten. Trejo saß nicht darin, auch sonst niemand. Gleich hinter den Parkbuchten fand Tracy eine öffentliche Toilette, einen Betonklotz. Sie rüttelte an der Tür. Verschlossen.
Vorsichtig schlich sie an dem Gebäude vorbei, bis sich der Pfad, dem sie folgte, teilte. Ein Weg führte weiter geradeaus, der andere nach links. Tracy hatte weder eine Ahnung, welchen Trejo genommen haben könnte, noch, wo die beiden hinführten. Spuren konnte sie keine ausmachen, dazu war es viel zu dunkel. Aber das war nicht ihre größte Sorge. Sie hatte gehofft, Trejo würde sie zu einem Haus oder einer Wohnung führen, dann hätte sie eine Adresse gehabt und prüfen können, wer dort wohnte. Alternativ hatte sie mit einem Treffen an einem öffentlichen Ort gerechnet, einem Restaurant zum Beispiel, wo sie die Person, mit der Trejo sich traf, in Augenschein hätte nehmen und eventuell gleich identifizieren können. Auf ein Treffen im Freien war sie nicht gekommen. Und falls dies hier eine Falle sein sollte, tappte sie gerade blind hinein.