KAPITEL
35
Kurz nach Mitternacht saß Tracy vorn in der Polizeiwache in Bremerton an der Burwell Street. Sie war schon einmal hier gewesen, damals, um sich die Unterstützung der Kollegen bei einer Durchsuchung in einem Mordfall zu sichern. Das Gebäude aus rotem Backstein und Metall nahm einen halben Straßenblock in Anspruch, wozu auch ein umzäuntes Areal für die Polizeifahrzeuge gehörte. Das alles inmitten eines seltsamen Bebauungsgemischs aus Einfamilienhäusern, Apartmentblocks und Parkplätzen. Tracy sah aus wie eine nasse Katze und fühlte sich in ihren immer noch feuchten Klamotten auch so. Sie hatte den Fund von Trejos Leiche gemeldet und anschließend ein paar Stunden warten müssen, während der Coroner und die Detectives ihrer Arbeit nachgingen.
Jetzt ging eine Sicherheitstür auf und ein Mann von ungefähr ein Meter achtzig trat hindurch. Er mochte Mitte fünfzig sein, mit glatt zurückgekämmten, an den Schläfen leicht grauem Haar. Er wirkte trotz der fortgeschrittenen Stunde frisch und munter und trug einen Ehering sowie am Arm eine silberne Uhr und ein Armband aus Silber – Uhr und Armband gut zu sehen, weil er sich die Hemdsärmel fein säuberlich hochgekrempelt hatte. Er hatte nicht zu den Detectives am Tatort gehört. Tracy hielt ihn für einen Sergeant.
»Dann sind Sie wohl Crosswhite?« Er reichte ihr mit einem selbstbewussten Lächeln die Hand. »Sonst wäre wohl auch niemand bei diesem Wetter um diese Uhrzeit noch draußen unterwegs, was? John Owens. Kommen Sie mit durch.« Tracy folgte ihm durch die Sicherheitstür. »Für mich ist es später Abend«, fuhr Owens fort. »Aber für Sie dürfte es wohl eher früher Morgen sein.«
»Ich habe gerade Spätschicht«, sagte Tracy. Dabei wusste sie im Moment gar nicht mehr, in welcher Schicht sie überhaupt arbeitete.
»In Bremerton?« Owens warf ihr im Gehen über die Schulter hinweg einen Blick zu. Polizisten konnten ungeheuer territorial fixiert sein und Tracy wusste, was Owens jetzt am stärksten auf der Seele brannte: Wie kam die Polizei von Seattle an einen Tatort, für den er zuständig war, und wieso hatte man ihn nicht im Vorfeld informiert? Inzwischen waren sie in einem kleinen Büro mit einem überladenen Schreibtisch angekommen, wo Owens auf einen runden Tisch deutete. »Machen Sie es sich bequem.« Er hielt einen Becher und eine Kaffeekanne hoch. »Kaffee? Ich habe ihn gerade frisch aufgebrüht.«
»Gern.« Dankbar für die Wärme, die der Becher ihr bot, nahm Tracy den Kaffee entgegen und setzte sich an den Tisch. Über ihrem Kopf hörte sie das leise Summen der Klimaanlage, aus einem Luftschlitz irgendwo drang ein Hauch kalter Luft. An der Wand hing eine Reihe gerahmter Dokumente, darunter eins im Blau und Gold der Navy, die Owens seine ehrenhafte Entlassung bestätigte.
»Sie haben gedient«, stellte Tracy fest.
Owens, der sich gerade selbst Kaffee einschenkte, sah auf und folgte ihrem Blick. »Ja. Ich hatte sogar überlegt, ganz dabeizubleiben und die Navy zu meinem Beruf zu machen, fand dann aber, ich sollte doch lieber Cop sein. Eigentlich witzig, dass ich
ausgerechnet hier gelandet bin, wo der Marinestützpunkt alles dominiert.«
Tracy rückte ihren Stuhl aus dem Luftzug.
Owens setzte sich zu ihr an den Tisch. »Ihr da drüben habt euch wegen einer Fahrerflucht in Seattle für Trejo interessiert, sagten Sie?« Er hatte wohl schon mit einem der Detectives gesprochen.
»Das stimmt. Ein zwölfjähriger Junge wurde überfahren.«
»Ich erinnere mich an den Fall, aber ich dachte, die Navy hätte die Zuständigkeit übernommen?« Die Frage enthielt eine gewisse Spitze.
»Hatte sie.« Tracy nickte. »Und der Fall schien eine klare Sache zu sein, bis während der Voruntersuchung ein entscheidendes Beweisstück abhandenkam.«
Owens nippte an seinem Kaffee. »Über die Voruntersuchung wurde in der hiesigen Zeitung ausführlich berichtet. Was unklar bleibt, ist die Frage, wieso eine Mordermittlerin aus Seattle jetzt hier ist, wenn die Polizei in Seattle doch gar nicht zuständig war. Und Trejos Tod fällt in unseren Zuständigkeitsbereich.«
»Unsere Chefs wollten den Fall im Auge behalten, weil es so aussah, als könnte er zu uns zurückkommen.«
»Okay. Warum also sind Sie hier? Um diese Uhrzeit? Heute Nacht?« Er sah auf die Uhr. »Nein: heute Morgen.«
»Wir wurden über Trejos Entlassung aus dem Gefängnis gestern Nachmittag informiert und die Staatsanwaltschaft in Seattle fand es richtig, eine Erklärung dahingehend abzugeben, dass wir weiterhin die Möglichkeit einer Anklage prüfen.«
Owens kniff die Augen zusammen, als versuche er, das zu verstehen. »Und das hatten Sie tatsächlich vor?«
»Die Entscheidung liegt nicht bei mir.« Tracy wollte nun wirklich niemanden den Wölfen zum Fraß vorwerfen. »Wir hatten gehofft, dass Trejo irgendwie reagiert, wenn wir diese Erklärung herausgeben.«
»Dieser Wunsch wäre dann ja wohl in Erfüllung gegangen.« Owens trank noch einen Schluck Kaffee und setzte den Becher ab. »Worauf hatten Sie denn gehofft? Was sollte er Ihrer Meinung nach tun?«
Tracy zuckte mit den Achseln. Dann erläuterte sie ihre Hypothese, der zufolge jemand Trejo geholfen haben musste, sich seines Autos zu entledigen und nach Bremerton zurückzukehren.
»Und da dachten Sie, zu diesem jemand würde er auf der Stelle laufen?«
»Aus dem Knast heraus konnte er mit niemandem Kontakt aufnehmen, also ja: Ich hielt es für möglich, dass er sich mit dieser Person treffen würde, sobald das ging.«
»Haben Sie irgendwelche Beweise, die diese Theorie stützen?«
»Der Mann ist tot, nicht wahr?«
Owens Augen wurden schmal. »Meine Detectives sagen, Sie glauben nicht, dass es Selbstmord war.«
»Wie ich schon sagte: Wenn man alles bedenkt, was sonst noch zum Vorschein kam, scheint mir das zweifelhaft.«
»Es war seine Pistole.«
»Aber Sie haben die Kugel nicht gefunden, oder?«
»Nicht ungewöhnlich bei dem Ort, an dem der Selbstmord begangen wurde. Die Kugel könnte irgendwo in einem Baum stecken.« Owens lehnte sich zurück.
»Aber ohne Kugel können Sie nicht eindeutig sagen, dass er mit seiner Pistole erschossen wurde.«
»Ich sag Ihnen jetzt mal was, Crosswhite: Was Sie sich da zusammenreimen, mag ja ganz interessant sein, aber meiner Erfahrung nach sind die Dinge oft einfach genau so, wie sie aussehen. Er hat einen zwölfjährigen Jungen überfahren, die Schuldgefühle und die Scham nahmen überhand, und
er erschoss sich. Solche Sachen können einem an die Nieren gehen.«
»Vielleicht. Aber das Video der Überwachungskamera ist wirklich verschwunden.«
Owens antwortete nicht gleich. »Erzählen Sie mir noch einmal, was Sie heute Abend gesehen haben.«
Tracy schilderte noch einmal ihre Überwachung von Trejo: Wie sie den falschen Pfad gewählt hatte, wie sie den Schuss gehört und wie der bläulich weiße Blitz der Pistole sie letztendlich zu der Leiche geführt hatte.
»Aber Sie haben niemanden gesehen, der ihn erschossen haben könnte.«
»Nein. Aber ich würde seine Frau fragen, ob Trejo Rechtshänder oder Linkshänder war.« Trejo hatte die Red-Bull-Dose, aus der er getrunken hatte, in der rechten Hand gehalten. »Die Pistole auf dem Tisch lag in der Nähe seiner linken Hand.«
»Okay, nehmen wir mal an, er hat sich nicht selbst umgebracht: Wer käme am ehesten als Verdächtiger infrage? Seine Verteidigerin?« Owens las den Namen von einem Papier ab, das er vom Tisch genommen hatte. »Leah Battles?«
»An diesem Punkt sind meiner Meinung nach alle noch im Spiel.«
»Alle?« Owens schüttelte den Kopf. »Sie haben doch irgendetwas über Forensik gesagt, oder?«
Tracy nickte, aber so langsam holte der Schlafmangel sie ein und sie hatte nicht mehr das Gefühl, sich klar ausdrücken zu können. »Das Innere seines Autos ist sauber gewischt worden … mit einem Desinfektionstuch, einschließlich Airbag. Der Airbag wäre die beste DNA-Quelle gewesen, um sagen zu können, wer das Auto gefahren hat, als der Junge überfahren wurde.«
Owens nippte an seinem Kaffee. »Battles ist Anwältin, sie kennt sich mit Beweismitteln aus. Und sie wohnt in Seattle, sagen meine Detectives, und die haben es von Ihnen.«
»Pioneer Square.«
Owens nickte. »Dann könnte sie ihm doch an dem Abend geholfen haben. Wenn ihm überhaupt jemand geholfen hat. Und sie konnte ihn im Knast besuchen, richtig? Mit ihm sprechen?«
»Ja, natürlich.«
»Und als Anwältin der Navy kannte sie sich mit Zuständigkeiten aus und wird gewusst haben, dass Seattle ihn immer noch vor Gericht stellen konnte. Falls sie in der Sache mit drinhängt, wovon ich nicht überzeugt bin. Für mich klingt das eher so, als würden Sie ziemlich im Trüben fischen, ohne dass jemand richtig anbeißen will.«
Über die letzte Bemerkung dachte Tracy einen Augenblick lang nach. »Haben Ihre Detectives schon mit seiner Frau gesprochen?«
Owens nickte. »Sie sagt, er hätte gegen einundzwanzig Uhr das Haus verlassen, um Lebensmittel einzukaufen.«
»Tat er so etwas routinemäßig oder hatte er vorher einen Anruf bekommen?«
»Das wusste sie nicht.«
»Wir müssen uns sein Handy ansehen.«
»Ich habe bereits Leute darauf angesetzt.«
»Hat sie gesagt, ob er Rechtshänder oder Linkshänder war?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Detectives gefragt haben, aber das werden wir nachholen.«
Nach einer kurzen Pause erkundigte sich Tracy: »Wie geht es ihr?«
Owens zuckte erneut mit den Achseln. »Ungefähr so gut, wie man es von einer Frau erwarten darf, die gerade unerwartet und auf gewalttätige Art ihren Mann verloren hat.« Owens’
Miene verfinsterte sich. »Mir gefällt es nicht, dass man mich in dieser Sache im Dunkeln tappen ließ. Wenn Sie vorhatten, die Fahrerflucht hier weiterzuverfolgen, dann wäre ich gern darüber informiert worden. Vielleicht hätte man dies vermeiden können.«
Tracy nickte, hatte aber nicht vor, sich zu entschuldigen. Ihr Handy klingelte, was seltsam war, wenn man die Uhrzeit bedachte. Die Anruferkennung nannte Dels Handy. Del hatte vorher auch schon versucht, sie zu erreichen, aber da hatte sie nicht an ihren Apparat gehen können. Sie entschuldigte sich bei Owens, ging auf den Flur und erklärte Del, wo sie sich befand und was passiert war.
»Das ist dann wohl ein Problem«, meinte Del.