KAPITEL 36
Nach dem Gespräch mit Tracy fuhr Del nach Hause, körperlich und seelisch ausgelaugt. Er stellte den Impala am hinteren Ende der Einfahrt ab, damit dort Platz für ein weiteres Auto blieb, denn er hatte Celia McDaniel eingeladen, bei ihm zu übernachten. Es war drei Uhr morgens und sie hätte mit dem Auto bis zu sich nach Hause fünfunddreißig Minuten gebraucht, was er zu weit fand. Zumindest hatte er sich eingeredet, dass er sie deswegen einlud. Celia hatte ihm zugezwinkert und gemeint, sie habe Kleidung zum Wechseln dabei.
Dann hatte sie also auch daran gedacht! Del war aufgeregt, gleichzeitig aber auch leicht in Panik.
Auf dem Nachhauseweg hatte er sich ablenken können, indem er über Tracys Neuigkeiten nachgedacht hatte. Laszlo Trejo war tot, durch eine Kugel in den Kopf ums Leben gekommen. Das passte zu dem, was sie in dieser Nacht von Evans über Trejos Tätigkeit als Auslieferer von Heroin erfahren hatten. Nachdem er freigelassen worden war und Polizei sowie Staatsanwaltschaft in Seattle erklärt hatten, sie prüften eingehend die Möglichkeiten einer weiteren Strafverfolgung, schien jemand in Trejo eine Gefahr oder doch zumindest Belastung gesehen zu haben. Ein gezielter Kopfschuss war auf jeden Fall ein effektives Mittel, um jemanden zum Schweigen zu bringen.
Del und Tracy hatten sich kurz darüber ausgetauscht, was diese Entwicklung für D’Andre Millers Familie bedeuten mochte. Musste man mit irgendwelchen Verschwörungstheoretikern rechnen, die losschreien und laut darüber spekulieren würden, dass man Trejo umgebracht hatte, damit irgendwelche Geheimnisse nicht ans Tageslicht kamen? Und dass die Navy involviert war? Del und Tracy sahen erst einmal keinen Zusammenhang zwischen der Navy und dem Heroin. Allerdings war das Wasser, in dem man jetzt nach der Wahrheit fischte, durch Trejos Tod trüber geworden. Blutiger, wenn man genau sein wollte.
Jetzt stieg Del aus dem Impala und begrüßte Celia, die gerade die hintere Tür ihres Honda aufgemacht hatte. »Lass mich helfen!« Er nahm ihre kleine Reisetasche und ging ihr voran die Stufen zum Haus hoch.
Die schweren Regenfälle und der heftige Wind hatten aufgehört und einen teilweise klaren Himmel zurückgelassen, an dem rasch ziehende Wolken immer mal wieder das silberne Mondlicht durchscheinen ließen.
»Du bist müde«, stellte Celia fest.
Del hatte den Knoten seiner Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet. Seinen Sportmantel trug er über dem Arm. »Ja, ich fühle mich wie erschlagen. Die Spätschicht fällt mir von Jahr zu Jahr schwerer. Aber für dich muss es ja jetzt richtig spät sein.«
»Warum tragt ihr immer noch Anzug und Schlips, Faz und du?«
Del, der gerade auf der Suche nach dem Hausschlüssel sein Schlüsselbund durchging, zuckte die Achseln. »Ich mache das aus Respekt vor unserem Rechtssystem. Faz? Der ist zu geizig, sich neue Klamotten zu kaufen.«
Sie warf lächelnd einen Blick durch das Wohnzimmerfenster. »Sonny dürfte langsam durchdrehen.«
»Ich war vorhin kurz mit ihm draußen. Aber wahrscheinlich hast du trotzdem recht.«
Kaum hatte Del den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als der kleine Hund auch schon angerast kam, auf die Rücklehne der Couch sprang und mit den Vorderpfoten gegen die Scheibe trommelte. Für ihn spielte die Uhrzeit keine Rolle.
»Okay, okay!«, rief Del. »Lass die Scheibe heil!«
Er öffnete die Tür und Sonny hüpfte von der Couch in den Flur, um ihn und Celia auf den Hinterbeinen tanzend zu begrüßen. Er ließ sich auf den Rücken fallen, rollte sich ab, sprang wieder auf, raste los, als sich Celia zu ihm hinunterbeugte, um ihn zu streicheln, rannte durch den Flur, in die Küche, durch die Tür ins Wohnzimmer – erst nachdem er diese Runde dreimal absolviert hatte, kam er keuchend und mit hängender Zunge wieder in den Flur getrottet.
»Ich gebe ihm schnell einen Keks, dann ist erst mal Ruhe.« Del stellte Celias Reisetasche am Fuß der Treppe ab und ging in die Küche. Celia folgte ihm. Ihre Absätze klapperten auf dem Parkett. »Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte Del.
»Ein kleines, gerne.«
Del holte einen Hundekeks aus dem Küchenschrank, reichte ihn aber nicht sofort weiter. »Das musst du sehen. Unser Sonny ist nämlich ein echter Polizeihund. Okay, Junge, blamiere mich jetzt nicht!« Den Keks in der einen Hand, formte er mit der anderen eine Pistole. »Peng!« Sonny, der auf den Hinterbeinen gestanden hatte, fiel prompt nach hinten über, alle vier Beine starr in der Luft.
»Das ist ja schrecklich!« Celia grinste, um kurz darauf laut zu lachen. »Er ist ja wirklich unglaublich schlau.«
Sonny hüpfte hoch, schnappte sich den Keks und verschwand. Jetzt hatte er erst einmal etwas zu tun und würde Ruhe geben.
»Kann er auch noch andere Sachen?«, wollte Celia wissen.
»Wir könnten dich stundenlang langweilen!« Del nahm zwei Gläser aus dem Schrank. »Sind die okay? Daraus haben meine Eltern immer ihren Wein getrunken.«
»Wenn man in Rom ist …«, sagte sie.
»Turin«, stellte Del richtig, der gerade aus einem anderen Schrank eine Flasche Chianti geholt hatte.
»Warum ein Shi Tzu?«
Del warf ihr einen Blick zu, während er die beiden Gläser halb voll schenkte. »Ich habe ihn für meine Ex gekauft. Aber die wollte ihn nicht und dann wollte er sie auch nicht.«
»Da hat er sich für den Richtigen entschieden, finde ich.«
Del hob sein Glas. »Salute.«
»Salute. Wie lange bist du schon geschieden?«
»Mehr als vier Jahre.«
»Und wie lange wart ihr verheiratet?«
»Sechs. Ich habe erst spät in meinem Leben geheiratet. Es war ein Fehler.«
»Zu heiraten?«
»Die falsche Frau zu heiraten. Wir hatten zu viele grundlegende Differenzen und haben beide versucht, sie zu ignorieren. Zum Schluss ging das einfach nicht mehr.« Er führte Celia zurück ins Wohnzimmer, das Zimmer, das ihm Zuflucht bot. Dort wollte er gerade das Licht einschalten, als sie ihn zurückhielt.
»Können wir das Licht auslassen?«, bat sie. »Es ist so wunderschön.«
»Hatte ich das nicht erwähnt?« Auch Del konnte den Blick kaum von der Aussicht lassen, derer er nie müde werden würde. »Das schönste Zimmer im Haus.«
Sie saßen auf der Ledercouch, nippten ihren Wein und sahen hinaus auf die glitzernde, aber trotzdem schlafende Stadt.
»Glaubst du, Evans sagt die Wahrheit?«, fragte Celia.
»Was Trejo betrifft? Ja. Besonders nach allem, was Tracy erzählt hat. Aber ich habe auch vorher schon geglaubt, dass er uns die Wahrheit sagt, schon bevor irgendwer Trejo eine Kugel in den Kopf gejagt hat. Evans kommt mir, ehrlich gesagt, nicht wie der Typ vor, der Zeitung liest oder Nachrichten schaut. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er aus den Medien von Trejos Fahrerflucht und Verhaftung wusste. Seine Geschichte erklärt ja auch, warum Trejo nicht gehalten hat, nachdem er den Jungen überfahren hatte.«
»Und es erklärt, wie Trejos Auto im Garten dieser Frau gelandet ist.«
Eric Tseng – das war der Name, den Evans ihnen genannt hatte. Tseng wohnte in Rainier Beach, er hatte dort ein Haus gemietet. »Möglicherweise«, sagte Del. »Es erklärt jedoch nicht, wer das Video verschwinden ließ. Das hat Tseng nicht getan.«
»Falls es überhaupt jemand genommen hat«, fügte Celia hinzu.
Del nippte an seinem Wein und dachte darüber nach. »Wäre ein ziemlicher Zufall, wenn es einfach so verschwunden wäre. Ohne dass jemand es nahm.«
»Wenn wir davon ausgehen, dass Evans die Wahrheit sagt, dann haben wir hier ein ziemlich großes Problem, Del.«
»Ich weiß. Woher kriegte Trejo die Drogen, das ist die Frage.« Del nickte. »Funk sagt, es ist eine sehr reine Form von Heroin.«
Celia ließ ihr Glas sinken. »Und je nachdem, wie viel er geliefert hat und wie viel andere geliefert haben … es werden noch mehr Menschen sterben, Del.«
»Die Drogenfahndung arbeitet mit den Streifen zusammen, um die Nachricht zu verbreiten.«
Celia stellte ihr Weinglas auf dem Couchtisch ab und wandte sich ihm zu. »Alles okay?«
»Ja, ich musste nur gerade an Jeannie Welch denken«, sagte er. »Und an den Morgen, an dem meine Schwester mich anrief, nachdem sie Allie gefunden hatte.«
»Das tut weh, ich weiß.«
»Ich kann mir einfach nichts vorstellen, was schlimmer sein könnte, Celia. Ich weiß, ich sage das nicht zum ersten Mal, aber das mit deinem Sohn tut mir unendlich leid. Ich war so unsensibel dir gegenüber an dem Morgen.«
Sie beugte sich vor und küsste ihn, kuschelte sich an seine Seite und er schlang den Arm um ihre Schultern. »Ich versuche nicht mehr, herauszufinden, warum es passiert ist, Del. Ich versuche auch nicht, etwas zu ändern, wo ich doch genau weiß, dass es nicht zu ändern ist. Ich akzeptiere einfach die Tatsache, dass es irgendeinen Grund gegeben haben muss und dass ich vielleicht mit der Arbeit, die ich jetzt mache, ein oder zwei andere junge Leute retten kann.«
»Ich habe gelesen, dass Seattle höchstwahrscheinlich das Gesetz verabschieden wird, von dem du gesprochen hast«, meinte Del. »Das, wodurch sichere Orte geschaffen werden, an denen Abhängige unter Aufsicht eines Arztes ihre Drogen nehmen können.«
»Wir kommen der Sache langsam näher«, sagte Celia. »Aber es gibt immer noch Opposition.«
»Ich hoffe, das Gesetz kommt durch.«
Sie lehnte sich zurück, um ihn ansehen zu können. »Wirst du mir hier sentimental, Delmo Castigliano?«
Er lachte. »Sagen wir mal, ich erkenne so langsam meine Irrtümer. Du hattest recht. Indem ich Leute verhafte, ändere ich gar nichts.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war bei unserem ersten Treffen auch zu hart zu dir, Del.«
»Nein. Ich bin alt genug, zugeben zu können, wenn ich mich geirrt habe, und ich habe mich geirrt. Nichts, was ich getan habe, hat den Schmerz über Allies Tod auch nur im Geringsten gelindert. Mir kommt es vor, als wate ich auf immer schwerer werdenden Beinen durch dichten Schlamm und käme dabei immer langsamer voran.«
»Das stimmt nicht, Del. Wenn du mit deinen Ermittlungen erfolgreich bist, dann könntest du damit einen größeren Drogenlieferanten ausschalten und eine gefährliche Droge von der Straße holen.«
»Und weitere vier werden vortreten, um seinen Platz einzunehmen, und wir drehen uns munter immer weiter im Kreis, wie Sonny.«
Sie lächelte. »Es gibt keine einfachen Lösungen, Del.«
»Das weiß ich ja, aber ich sehe langsam ein, dass dies wirklich kein Problem ist, das die Polizei regeln kann. Wir können das nicht in Ordnung bringen. Und es wird noch sehr viel schlimmer werden, ehe es besser wird.«
Sonny, der seinen Keks verzehrt hatte, kam ins Zimmer getrottet, wo er wie angewurzelt stehen blieb und zu Celia aufblickte, als hätte die ihm etwas angetan.
»Lass mich raten«, sagte Celia. »Ich sitze auf seinem Platz, richtig?«
Del lachte. »Ja, das stimmt.« Celia rückte ein bisschen zur Seite und Sonny sprang auf die Couch, kuschelte sich zwischen die beiden. Del rieb seinen Kopf. »Du hast deinen Wein kaum angerührt.«
Celia stand auf und nahm seine Hand. »Komm«, sagte sie. »Gehen wir zu Bett.«
Ihre Abruptheit überraschte ihn, Del hatte gehofft, eher langsam in diesen Moment hineingleiten zu können. »Celia, auch auf die Gefahr hin, dass ich hier etwas überinterpretiere: Es ist schon ziemlich lange her, dass ich mit einer Frau zusammen war.«
Sie lächelte. »Das überrascht mich nicht.«
Del lachte leise. »Autsch!«
»Du bist ein guter Mensch, Del. Du bist gütig und du hast Moral. Also überrascht es mich nicht. Keine Angst, ich tu dir nicht weh.« Sie zwinkerte ihm zu.
Del stand auf, erstaunt darüber, dass er gar nicht nervös war. Nicht im Geringsten. Er fühlte sich wohl mit Celia und das hier fühlte sich gut und richtig an.
Sie gingen zur Treppe, wo Del Celias Reisetasche abgestellt hatte. Del nahm sie auf. Im selben Augenblick kam Sonny um die Ecke geschossen und raste die Treppe hoch. Oben auf dem Absatz blieb er stehen, drehte sich um und sah zu ihnen hinunter. Del grinste, musste ein Lachen unterdrücken.
»Lass mich raten: Er schläft auf dem Bett?«, sagte Celia.
»Ja.« Del formte aus beiden Händen einen Ball. »Aber er ist klein und nimmt nicht viel Platz weg.«