KAPITEL
42
Tracy wachte auf, weil sich ein Mann über ihr Bett beugte. Zu Tode erschrocken schrie sie auf, was Sherlock auf den Plan rief, der laut bellend aus dem Schlaf aufschreckte.
Dan, der mit dem Laptop in der Hand neben dem Bett stand, zuckte zusammen, rührte sich aber nicht vom Fleck. Er wirkte auch nicht besonders schuldbewusst, als er sich jetzt mit leicht dämlichem Grinsen im Gesicht bei seiner Frau entschuldigte.
Tracy brauchte ein paar Minuten, bis sie wieder richtig atmen konnte und wusste, wo sie war. »Himmel! Stephen King live! Du hättest mich fast zu Tode erschreckt.«
Während Dan seine Entschuldigung wiederholte, warf Tracy einen Blick auf die Uhr. Genau zwölf, noch drei Stunden, bis ihre Schicht begann. Drei Tage wären ihr lieber gewesen. Sie fühlte sich wie durch die Mangel gedreht.
»Ich muss dir etwas zeigen«, drängte Dan.
»Das will ich stark hoffen. Du schuldest mir eine Stunde Schlaf, ich hatte den Wecker auf eins gestellt.«
Dan setzte sich auf die Bettkante und spielte ihr das Band vor, ging die Teile durch, die er sich notiert hatte, und zeigte ihr, was ihm bei der Tür zu dem Büro aufgefallen war, das dem von Leah Battles gegenüberlag.
»Jemand hat den Inhalt dieser CD bearbeitet?«, fragte sie, womit sie gleichzeitig zusammenfasste, was sie eben gesehen hatte und Dan um eine Bestätigung bat.
»Sieht mir ganz danach aus.«
Mit einem Satz war sie aus dem Bett. »Das ändert einiges!« Sie suchte ihre Sachen zusammen und fing an, sich anzuziehen. »Das ändert sogar ziemlich viel. Wie kriegt man so was hin?«
»Das weiß ich nicht genau.«
»Aber ich kenne jemanden, der das wissen wird!« Tracy hatte sofort an Mike Melton denken müssen.
Kurz nach fünfzehn Uhr, zu Schichtbeginn also, stand Tracy im kriminaltechnischen Labor am Airport Way, den Umschlag mit der CD in der Hand. Für die meisten Detectives war Mike Melton Grizzly Adams, aber Tracy nannte ihn Oz, nach dem Zauberer von Oz. Nur dass Melton kein Betrüger war, der sich hinter einem Vorhang versteckte. Melton war echt.
In seinem Büro roch es nach dem Essig, mit dem der inzwischen ziemlich verwelkt aussehende Salat in der Schüssel auf seinem Tisch angemacht war. Melton sah auf, als Tracy in sein Büro kam, und musterte sie über die auf seiner Nasenspitze thronende Lesebrille hinweg, ehe er das Dokument ablegte, in dem er gerade gelesen hatte, und sich zurücklehnte. »Du siehst aus, als hättest du auch schon bessere Tage gehabt.«
»Herzlichen Dank! Genau das brauchte ich jetzt.« Tracy klang ehrlich verletzt.
Sofort beugte sich Melton besorgt vor. »Damit meinte ich doch nur, dass du müde aussiehst!«
»Mike!« Tracy lachte. »Du bist verheiratet, hast sechs Töchter und kriegst trotzdem nicht mit, wenn eine Frau dich auf den Arm nehmen will?«
Melton lachte laut und herzlich. »Daran wird sich wahrscheinlich nie etwas ändern.« Er hatte die Ärmel seines karierten Hemdes hochgerollt und sah mit den fleischigen Unterarmen aus wie Paul Bunyan, kurz bevor er zur Axt greift, um den nächsten Baum zu fällen.
Tracy deutete auf den Salat. »Wirst du langsam auch zum Weichei oder heiratet eine deiner Töchter und du musst in deinen Smoking passen?«
»Bei den ersten drei ging das klar, aber ob ich das noch mal schaffe, weiß ich echt nicht. Egal, wie viel Salat ich esse.« Seufzend langte er nach der Schüssel. »Hiermit will meine Frau mir sagen, dass ich gefälligst in den Anzug passen muss, weil der nämlich scheißteuer war.«
»Hast du Del gesehen?«, fragte Tracy.
»Er und Faz waren vor ein paar Tagen hier. Er sieht gut aus. Vielleicht lässt Fazzo sich ja anstecken.«
»Das wage ich dann doch zu bezweifeln.«
Melton deutete auf den Umschlag in ihrer Hand. »Ist es das?«
Sie hatte ihn von zu Hause aus angerufen, ihm gesagt, was Dan glaubte herausgefunden zu haben, und ihn gebeten, sich das anzuschauen. Jetzt reichte sie ihm den Umschlag mit der CD und den gelben Notizzettel mit den relevanten Zeiten, bei denen Dan eine Veränderung in der Position der Tür bemerkt hatte.
Melton schob die CD in seinen Computer und betrachtete den Bildschirm durch seine Lesebrille hindurch. Tracy stellte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter, während er die CD hochlud und abspielte.
Er sah sich das Band ein paar Sekunden lang an. »Oberflächlich betrachtet sieht alles okay aus.« Er zeigte auf den Bildschirm. »Datum und Uhrzeit da rechts unten, wie es sich gehört.«
»Das ist die Bürotür.« Tracy deutete auf das entsprechende Büro.
Ohne den Blick von seinem Computer zu nehmen, sagte Melton: »Und ich soll dir jetzt sagen, ob du spinnst oder auf dem Stützpunkt ein Geist rumspukt oder jemand das Band bearbeitet hat.«
»Genau.«
»Ist das hier eine Kopie?«
»Die CD? Ja.« Tracy dachte an ihre Unterhaltung mit Rebecca Stanley.
»Hm.«
»Was?«
»Wäre besser, wenn wir das Original hätten.«
»Daran arbeite ich gerade. Sag mir, warum das besser wäre.«
»Hey!« Melton war bei der ersten Türbewegung angekommen. Er drückte auf Stop
, ließ das Band zurücklaufen und drückte wieder auf Wiedergabe. »Da ist es. Hat sich eindeutig bewegt.« Er setzte sich zurück, sah weiterhin zu.
»Warum wäre dir das Original lieber?«, fragte Tracy noch einmal.
Melton warf einen Blick auf Dans Notizen zu den Zeitangaben und ließ das Band entsprechend vorlaufen. »Es ist fast unmöglich, an einem Originalband herumzudoktern.« Er warf ihr über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Hab ich mir sagen lassen. Ich bin kein Computerexperte, dafür bin ich zu früh auf die Welt gekommen. Aber ich habe mir sagen lassen, dass das sehr schwierig ist. Wer ein Video bearbeiten will, zieht sich, soweit ich das verstanden habe, am besten eine Kopie und dann gibt es bestimmte Software, mit der man den Datums- und Zeitstempel entfernen kann. Man bearbeitet das Video und ersetzt Datum und Zeitangabe so, dass es nach Kontinuität aussieht. Da! Das ist es wieder.« Er drückte auf Stop,
ließ das Band zurücklaufen und spielte es noch einmal ab. »Eindeutig kein Geist.« Er zeigte mit dem Finger auf die Stelle. »Hast du das gesehen?«
»Die Bewegung der Tür?«
»Nicht die Tür. Sieh genau auf den Spalt zwischen der Tür und dem Türpfosten. Achte auf den Schatten.«
Tracy beugte sich weiter herunter, bis ihr Kinn auf Meltons Schulter ruhte und sie sein Rasierwasser riechen konnte. Der Spalt zwischen Tür und Rahmen wurde dunkler. »Da steht jemand hinter der Tür.«
»Sieht auf jeden Fall ganz danach aus. Jemand wirft einen Schatten. Da! Und jetzt ist er weg.«
»Warum kann man kein Original bearbeiten?«
»Weil diese Bänder, soweit ich das verstanden habe, vom Hersteller mit Wasserzeichen versehen werden, mit einem fortlaufenden Code. Um Manipulationen zu verhindern. Irgendein Code – sagen wir mal: 000111000111. Beim Original würden wir sofort merken, ob es bearbeitet wurde. Dann wäre das Wasserzeichen nicht mehr intakt.«
Tracy richtete sich auf. »Wie schnell könnt ihr da Genaueres herausfinden?«
Melton ließ die CD auswerfen. Tracy nahm sich den Zettel mit Dans Notizen und kehrte auf die andere Schreibtischseite zurück.
»Ich hab da einen Mann im Labor, der eine Menge solcher Sachen untersucht«, sagte Melton. »Das hier ist genau seine Kragenweite.«
»Braucht er Dans Notizen?«
»Eigentlich nicht.« Melton sah auf die Uhr. »Ich bin mir nicht sicher, ob er noch da ist, aber wenn ja, dann dürfte er uns ziemlich schnell sagen können, ob das Band manipuliert wurde oder nicht. Kommt natürlich auch drauf an, was er sonst noch zu tun hat. Ich setze ihn drauf an, ja? Und ich melde mich später noch mal und sage Bescheid, was daraus geworden ist.«
Auf dem Weg durch die Stadt zum Polizeipräsidium stellte Tracy ihr Autoradio leiser, um besser nachdenken zu können. Sie musste versuchen, sich vorzustellen, bei welchem Szenario es notwendig geworden war, die Aufzeichnungen der Überwachungskamera aus dem DSO so zu bearbeiten, dass eine Person nicht mehr auftauchte, die das Gebäude betreten und auch wieder verlassen hatte. Zwei Probleme fielen ihr dabei sofort ins Auge.
Erstens: Wem durfte sie das erzählen?
Zu Stanley konnte sie nicht gehen. Von Stanley hatte Tracy ja die CD, sie könnte in die Bearbeitung des Inhalts verwickelt sein. Auch den Sicherheitsbeauftragten der Navy, der das Band bereitgestellt hatte, konnte sie nicht anrufen: Vielleicht hatte ja genau er aus persönlichen Motiven oder auf Drängen anderer hin die Bearbeitung vorgenommen. Leah Battles und Brian Cho kamen ebenfalls nicht infrage. Beide hätten die Person sein können, die an jenem Abend ins DSO gekommen war, um entweder im eigenen Interesse oder auf Befehl von jemand anderem das Videoband zu stehlen und sich im Haus zu verstecken, bis der Putzmann gegangen war. Beide hatten gewusst, wo das Video zu finden war, und beiden war dessen Bedeutung im laufenden Verfahren klar gewesen. Sie arbeiteten beide im Haus, kannten sich von daher wahrscheinlich auch mit den Gewohnheiten des Protokollführers aus und hatten gewusst, dass er an dem Abend bereits nach Hause gegangen war. Sie waren mit den Arbeitszeiten des Reinigungspersonals vertraut. Erklärt war damit allerdings noch nicht, wie sie die Aufzeichnungen der Überwachungskamera im DSO hätten bearbeiten können. Es sei denn, sie arbeiteten für andere oder mit anderen, was wiederum hieß, dass an den Gerüchten doch etwas dran war, die der Navy eine Beteiligung an der Vertuschungsaktion unterstellten. Eigentlich war lediglich der Putzmann über jeden Verdacht erhaben.
Aber wenn Tracy mit einem dieser Verdächtigen richtiglag, dann erklärte das noch lange nicht, wie die Person ins DSO gekommen war, ohne ihren Zifferncode einzugeben. Vor ihrem Besuch bei Melton hatte Tracy versucht, die auf dem Band sichtbaren Personen mit den an dem Abend eingegebenen Sozialversicherungsnummern zusammenzubringen. Weder Cho noch Stanley noch Battles hatten ihre Nummer ein zweites Mal eingegeben, nachdem sie das Gebäude verlassen hatten. Jedenfalls tauchten ihre Nummern nicht auf der Liste auf, die Stanley Tracy gegeben hatte. Ob auch diese Liste bearbeitet worden war? Tracy hatte eine Idee. Rasch lenkte sie ihren Wagen an den Straßenrand, holte ihre Aktentasche und nahm die Liste mit den Sozialversicherungsnummern heraus. Auf dem Band hatte Al Tulowitsky neun Minuten gebraucht, um den Müll wegzubringen, bevor er ins Gebäude zurückkehrte. Das kam ihr jetzt ungewöhnlich lange vor. Ein Blick auf die Liste nannte ihr seine ursprüngliche Ankunftszeit mit 23:03 Uhr. Aber danach tauchten seine vier Ziffern nicht noch einmal auf. Tulowitsky hatte seinen Code nicht noch einmal eingegeben, als er um 23:26 Uhr, nachdem er den Müll weggebracht hatte, ins Haus zurückgekehrt war.
Sie lehnte sich zurück. Ob der Putzmann die Kassette gefunden und mitgenommen hatte, als er bei Battles im Büro sauber machte? Hatte er sie in den Firmenwagen gelegt oder jemandem gegeben, als er mit dem Müll nach draußen ging? Das wäre für ihn einfach genug gewesen, erklärte aber nicht, warum er sich nicht wieder eingeloggt hatte. Und es erklärte nicht, warum sich jemand vor ihm versteckt hatte – was ja laut Band der Fall gewesen war.
Warum also hatte Tulowitsky so lange gebraucht, um den Müll wegzubringen? Gab es doch noch andere Möglichkeiten, ins Haus zu kommen? Obwohl Battles ja versichert hatte, das sei nicht der Fall?
Tracy hatte auch noch ein anderes Problem. Nachdenklich betrachtete sie das Datum auf ihrem Handy und fragte sich, ob die Originalaufzeichnungen überhaupt noch existierten oder schon überspielt worden waren. Laut Rebecca Stanley war es bei der Navy Vorschrift, die Aufzeichnungen eine Weile aufzubewahren, aber Stanley hatte entweder nicht gewusst, wie lange, als sie mit Tracy sprach, oder sie hatte Tracy diese Information absichtlich vorenthalten. Andererseits spielte es vielleicht gar keine Rolle, wie die genauen Vorschriften lauteten. Das Band könnte trotzdem überspielt worden sein, entweder versehentlich oder mit Absicht.
Tracy suchte bei ihren letzten Anrufen nach der Nummer von Detective Owens, fand sie und rief dort an. Owens nahm gleich nach dem zweiten Klingelton ab. Tracy erklärte ihm, was sie in Bezug auf das Überwachungsvideo herausgefunden hatte und welche Fragen ihr durch den Kopf gingen. »Sie sagten, Sie hätten Erfahrung im Umgang mit der Navy?«, sagte sie zum Schluss.
»Das bleibt hier in der Gegend nicht aus.«
Ein Windstoß ließ Tracys Wagen wackeln. Es regnete weiterhin, als langten aus einer dichten Wolkendecke, die die Stadt zu ersticken drohte, dunkelgraue Finger nach der Welt. »Ich muss heute noch in diesen Sicherheitsraum im DSO. Können Sie das einrichten?«
»Ich kann es versuchen«, sagte Owens.
»Ich möchte aber nicht, dass jemand weiß, dass wir kommen.«
»Verstehe.«
»Und ich möchte mich noch einmal mit dem Putzmann unterhalten, Al Tulowitsky. Aber nicht bei der Arbeit, nicht in Gegenwart seines Chefs.«
»Sie glauben, er hat etwas damit zu tun?«
»Vielleicht unbeabsichtigt. Ich habe eine Theorie. Schauen Sie nach, ob Sie herausfinden können, wie ich ihn erreichen kann. Ich nehme die nächste Fähre, wenn die nicht voll ist.«
»Um diese Zeit sind die Pendler unterwegs, da dürfte sie ausgebucht sein. Lassen Sie Ihr Auto stehen und gehen Sie zu Fuß an Bord. Ich hole Sie auf der anderen Seite ab.«
Seit ihrer Verbannung aus der Arbeitswelt hatte Leah Battles an ihrem Schreibtisch gesessen und war schier durchgedreht. Sie hatte ein telefonisches Verhör durch die Ethikermittler aus Washington über sich ergehen lassen müssen, bei dem sie am liebsten gekotzt hätte, und wartete nun auf deren Entscheidung. Bis dahin war nicht klar, ob sie nun eines Ethikvergehens angeklagt wurde oder nicht. So eine Anklage würde zweifellos ein Militärgerichtsverfahren nach sich ziehen und beides hing wie ein Damoklesschwert über ihr, ging ihr ständig im Kopf herum. Sie konnte nicht einmal aus dem Büro gehen und draußen mit den anderen hier ein bisschen plaudern, um die Zeit totzuschlagen, denn für ihre alten Kollegen blieb sie weiterhin radioaktiv verseucht und alle machten einen weiten Bogen um sie, wenn sie sie kommen sahen. Niemand war unfreundlich, alle lächelten und nickten. Manchmal sagte sogar einer Hallo, aber niemand blieb stehen und erkundigte sich, wie die Dinge für sie liefen. An manchen Tagen fiel es ihr angesichts dieses Verhaltens wirklich schwer, zur Arbeit zu kommen. Falls die Oberen sie vor ein Militärgericht stellen wollten, dann sollten sie das bitte schön bald mal tun, wünschte sich Battles. Die Anhörung im Vorfeld würde ihr wenigstens etwas zu tun geben, etwas, worauf sie ihre Energie richten konnte. Was auf jeden Fall besser war, als hier am Schreibtisch vor Langeweile einzugehen wie eine Primel.
Es kam ihr so vor, als sei seit Trejos Tod alles auf Eis gelegt worden, einschließlich ihres Schicksals.
Als es um kurz vor vier leise an ihrer Tür klopfte, hob sie überrascht den Kopf. Überrascht deswegen, weil dies der erste Besucher in dieser Woche sein würde. Sie rechnete fest mit Darcy, denn die war der einzige Mensch, der noch richtig mit ihr redete.
»Herein.«
Als Rebecca Stanley ins Zimmer kam, schaltete Battles rasch die Serie aus, die sie auf ihrem Computer laufen ließ, um nicht ganz allein zu sein, und stand auf.
Und wie aus heiterem Himmel überkam sie so etwas wie nervöse Erwartung.
»Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst!«, hörte sie ihre Mutter sagen.
Stanley besuchte sie nicht oft und nie, um nur zu plaudern. Außerdem überbrachte man auch bei der Navy schlechte Neuigkeiten lieber persönlich.
»Hier drin herrscht eine depressive Stimmung«, meinte Stanley als Erstes und schaltete die Deckenbeleuchtung ein, denn bei Battles brannte wieder einmal ausschließlich die Tiffany-Lampe auf ihrem Schreibtisch. »Sie brauchen wirklich ein Büro mit Fenster. Obwohl – bei dem Wetter hier im letzten Monat verpasst man ohne Ausblick nicht viel.«
Sollte sie es als gutes Zeichen werten, dass ein anderes Büro erwähnt worden war? »Mit dem Wetter wollen sich die Eingeborenen hier zu viele Zuzügler vom Hals halten.«
»Sagt man so, ja.« Stanley setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle. »Wir könnten alle ein bisschen Vitamin D gebrauchen.«
Es entstand eine peinliche Pause, die Battles schließlich beherzt brach. »Ich nehme mal an, das hier ist kein
Höflichkeitsbesuch zum Plaudern.« Sie brachte sogar ein Lächeln zustande.
»Ich fürchte nein. Es gehört zu meinem Job, schlechte Nachrichten zu überbringen.«
»Das hatte ich mir schon gedacht.«
»Aber diesmal gibt es sowohl schlechte als auch gute Nachrichten«, fuhr Stanley fort. »Welche wollen Sie zuerst?«
»Kommen wir einfach gleich zur Sache: Ich will beide.«
Stanley schürzte mit feinem Lächeln die Lippen. »Okay.« Als sie danach noch einen Moment schwieg, als überlege sie, wo sie anfangen sollte, wurde Battles sofort wieder stutzig. Was, wenn es hier nicht nur um schlechte, sondern gleich um sehr schlechte Nachrichten ging?
»Zuerst einmal wurde mir mitgeteilt, dass die Ethikkommission nach eingehender Beratung nicht vorschlagen wird, ein Militärgerichtsverfahren einzuleiten«, erklärte Stanley.
Battles stieß einen leisen, wenn auch sehr kurzen Seufzer der Erleichterung aus. Sie wusste, was »eingehende Beratung« bedeutete. »Dann glauben sie also, für eine Verurteilung nicht genügend Beweise zu haben.«
»Sie können nicht eindeutig sagen, was mit dem Videoband passiert ist. Und sie können keine Schlussfolgerungen ziehen, wenn die nicht auf etwas Handfestem basieren. Das Band könnte einfach nur verlegt worden sein, unabsichtlich weggeworfen oder von jemandem mit finsteren Absichten mitgenommen. Unter den gegebenen Umständen gibt es keine ausreichenden Beweise für eine so schwerwiegende Anklage wie Pflichtverletzung.«
»Also hat die Entscheidung nichts mit Schuld oder Unschuld zu tun«, fasste Battles zusammen.
Stanley schüttelte den Kopf. »In der Entscheidung wird deutlich darauf verwiesen werden, dass es keine ausreichenden Beweise gab, um zu einem eindeutigen Schluss zu kommen.«
Battles setzte sich zurück. »Keine ausreichenden Beweise«, sagte sie langsam und nachdenklich. Ganz kurz dachte sie daran, Stanley zu sagen, sie bestehe auf einer Anhörung. Sie fühlte sich plötzlich so zuversichtlich, eine Anklage abweisen zu können. Allerdings sollte man solche Entscheidungen nicht übers Knie brechen, schon gar nicht, solange man emotional aufgewühlt war.
»Ich weiß, das ist nicht das, was Sie sich erhofft haben«, sagte Stanley.
»Nein, ist es nicht.«
»Aber jetzt, wo Trejo tot ist, kann man einfach nicht mehr sicher feststellen, was mit dem Video passiert ist. Und die Aufzeichnungen der Überwachungskamera aus diesem Gebäude hier lassen auch keine Schlussfolgerungen zu.«
»Ich hätte das Video in meinem Rucksack verstecken können«, sagte Battles.
»Alles, was wir haben, sind Indizien.«
Battles betrachtete das abstrakte Gemälde, das neu an ihrer Wand hing und den Bahnhof von Seattle darstellte. Es war eins ihrer besten Bilder und trotzdem würde sie es wahrscheinlich nie richtig mögen, weil sie es während ihrer jüngsten Auszeit gemalt hatte. »War das jetzt die schlechte oder die gute Nachricht?«
»Das hängt wohl davon ab, wie man es betrachtet.«
»Ich hoffe, das war die schlechte.«
Stanley setzte sich zurück. »Sie werden versetzt«, sagte sie. »Das ist nicht unbedingt eine schlechte Nachricht, außer für mich. Ich brauche Sie hier, Lee. Sie sind meine beste Verteidigerin.«
Diese Neuigkeit kam überraschend für Battles, obwohl Versetzungen in ihrem Beruf keine Seltenheit waren. Sie war
nicht nur eine gute Anwältin, sie war zweimal Verteidigerin des Jahres gewesen! Wenn sie jetzt versetzt wurde, dann hatte diese Entscheidung nichts mit ihrer Leistung zu tun, dann wollte man sie einfach loswerden. Sie schickten sie fort, womit im Grunde gesagt war, dass man sie für schuldig hielt, es ihr aber nicht nachweisen konnte.
»Das Oberkommando hält es im Licht der jüngsten Ereignisse für nicht gegeben«, fuhr Stanley fort, »dass Sie hier Ihren Aufgaben als Offizier der Obersten Militärstaatsanwaltschaft angemessen nachgehen können. Man hält es für besser, Sie auf einen anderen Stützpunkt zu versetzen.«
»Wohin soll ich denn?«
»DSO Nord.«
»Washington, D. C.?« Einen weiter von Seattle entfernt liegenden Stützpunkt hätten sie beim besten Willen nicht finden können. Weit weg von Seattle, dafür ganz nah bei den Ethikleuten: Im Grunde holten sie sie nach Hause, wo man sie im Auge behalten konnte, und unter Garantie würde man ihr einen bedeutungslosen Schreibtischjob zuweisen.
»Richtig«, bestätigte Stanley.
»Aber ich werde weiterhin vor Gericht Fälle verhandeln?«
»Anfangs nicht.«
»Werde ich wenigstens in einem DSO-Büro sitzen?«
»Nein. Anfangs nicht, aber soweit ich verstanden habe, wird man Sie nach einiger Zeit neu beurteilen.«
»Das heißt dann wohl nein.« Battles hatte kapiert, wie es laufen sollte: Man würde sie an einen Schreibtisch verbannen, bis ihre Dienstzeit abgelaufen war, und dann nach Hause schicken. Vielleicht war das nicht mal das Schlechteste. Sie konnte die Navy verlassen, mal ein bisschen richtiges Geld verdienen, Mandanten verteidigen, die eine Menge zu verlieren hatten. Vielleicht machte sie sich sogar selbstständig, hängte ihr eigenes Schild an irgendeine Tür.
»Ich sehe Sie wirklich sehr ungern gehen, Lee, und es tut mir sehr leid. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um Ihren Verbleib hier zu sichern. Ich hoffe, das wissen Sie. Andererseits ist Washington ja eine wunderbare Stadt.«
»Wann werde ich dorthin verschifft?«
»Ihr letzter Tag hier ist am Ende des Monats. Danach haben Sie zwei Wochen Zeit, bevor Sie sich beim DSO Nord melden müssen.«
Battles nickte wortlos. Es war ja nicht so, als hätte sie eine Wahl. Mit ihrer Dienstverpflichtung hatte sie die Freiheit zu wählen, wo sie lebte und arbeitete, so gut wie aufgegeben.
»Nehmen Sie sich Zeit«, riet Stanley. »Lassen Sie sich alles in Ruhe durch den Kopf gehen, und reisen Sie ein bisschen, ehe Sie sich neu einrichten.«
Sie würde sich eine neue Wohnung suchen müssen und ein neues Sportstudio, das Krav Maga unterrichtete. Irgendwo musste sie ja Dampf ablassen, wenn sie die ganze Woche Verwaltungskram erledigen sollte. »Vielleicht.«
»In der Navy hätten Sie doch nie Karriere gemacht.« Stanley hob die Hand, um mögliche Proteste abzuwürgen, und fuhr fort: »Dazu sind Sie als Anwältin viel zu gut und für die guten Anwälte ist dieser Job doch immer Mittel zum Zweck. Sie haben hier vor allem vor Gericht viel Erfahrung sammeln können. Davon können zivile Anwälte Ihres Alters in den meisten Fällen nur träumen. Eine ganze Reihe führender Kanzleien würde Sie mit Kusshand nehmen, egal in welcher Stadt.«
»Das wird dann wohl so sein.« Battles nickte. Vielleicht war es das alles ja doch wert gewesen, trotz der Konsequenzen. »Was ist mit Trejo?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Was ist in der Frage beschlossen worden? Ich habe diese Mordermittlerin gestern hier gesehen.«
»Ich weiß nicht, wie es da weitergeht. Zu mir sagte Crosswhite, sie glaube nicht, dass Trejo Selbstmord begangen hat.«
»Jemand hat ihn umgebracht? Hat sie auch gesagt, wie sie darauf kommt?«
»Nein. Sie bat um eine Kopie der Aufzeichnungen der Überwachungskameras in diesem Gebäude. Ich sagte ihr, dass ich mir die entsprechende CD bereits angesehen und nichts Auffälliges entdeckt habe.«
»Und sie wollte die CD trotzdem haben?«
»Sie konnte einen entsprechenden richterlichen Beschluss vorlegen.«
Battles lehnte sich zurück. Was hatte diese Tracy Crosswhite vor? Und warum?
»Kommen Sie!« Stanley stand auf. »Lassen Sie uns einen Schluck trinken, ich lade Sie ein. Wir können ins Bulkhead gehen.«
Battles hörte kaum zu, sie dachte immer noch fieberhaft nach. Wenn Crosswhite das Überwachungsband haben wollte, dann konnte das nur bedeuten, dass die Polizei von Seattle die Sache weiterhin verfolgte. Warum? Trejo war tot, und er war der Einzige, mit dem sie etwas zu tun gehabt hatten. Die Sache mit dem verschwundenen Video betraf die Navy. Sie erinnerte sich an ihre Unterhaltung mit Crosswhite, an deren Frage, ob Trejo bei seinen Reisen etwas auf das jeweilige Schiff und auch wieder runter hätte schaffen können, ohne dass es jemand mitbekam. Dann dachte sie wieder an das Band.
»Lee?«
»Was sagten Sie?«
»Ich möchte Ihnen einen ausgeben.«
Battles war auch früher schon mit Stanley ausgegangen, aber eigentlich immer zum Mittagessen, um ihre Fälle zu
besprechen. Nach der Arbeit waren sie nie zusammen weggegangen. »Danke, gern«, sagte sie.
»Was Sie aus der Situation machen, liegt letztlich ganz bei Ihnen, Lee. Der Umzug könnte sich als wunderbare Chance erweisen. Das Militär ist in Washington sehr präsent, die Stadt bietet eine Menge Möglichkeiten für jemanden, der so jung und talentiert ist wie Sie.«
»Danke«, sagte Battles, der nicht entgangen war, dass Stanley nicht angeboten hatte, ihr ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg zu geben.
»Sind Sie mit dem Rad da?«, erkundigte sich Stanley. »Wir können es hinten in meinen Wagen packen und später bringe ich Sie runter zur Fähre. Haben Sie in letzter Zeit mal rausgeschaut?«
Battles schüttelte den Kopf.
»Das Wetter ist brutal. Es gießt wie aus Kübeln und der Wind kommt in starken Böen. Bei diesem Wetter möchte niemand mit dem Rad unterwegs sein – es sei denn, in selbstmörderischer Absicht.«
Die Überfahrt auf der Fähre über den Elliot Bay glich einer Achterbahnfahrt. Je stärker der Wind wehte, desto höher türmten sich die Wellen und die Fähre rollte und neigte sich von einer Seite zur anderen. Von Zeit zu Zeit krachten so schwere Brecher über die Reling, dass bei einigen Autos die Alarmanlagen angingen. Tracys Auto stand nicht auf dem Autodeck, die Fähre war ausgebucht gewesen, ganz wie Owens prophezeit hatte. Sie war zu Fuß unterwegs, fragte sich allerdings inzwischen, ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war, denn wenn der Sturm noch schlimmer wurde – oder auch nur so blieb –, stellte die
Transportbehörde den Fährverkehr womöglich noch ein und dann saß sie über Nacht ohne Auto in Bremerton fest.
Sie hatte sich in eine der Nischen gesetzt, wo sie durch die großen Fenster hindurch den weiß gekrönten Brechern zusehen konnte. Leider hinderte selbst das schlechte Wetter die Touristen nicht daran, Touristen zu sein, und so standen einige von ihnen in ihre Regenmäntel gehüllt an Deck und probierten aus, wie weit sie sich in den Wind lehnen konnten, was von Weitem so aussah, als stiegen sie einen steilen Berg hoch.
Tracy ging auf leicht wackligen Beinen von Bord, als die Fähre endlich in Bremerton anlegte. Auch ihrem Magen ging es nicht gerade gut. Auf dem Parkplatz des Fährterminals suchte sie nach Owens’ Auto, wobei sie die Augen mit der Hand gegen Regen und Wind schützen musste, um überhaupt etwas zu sehen. Als einer der parkenden Wagen seine Scheinwerfer zweimal aufblenden ließ, tastete sie sich dorthin vor, erkannte Owens gerade so eben zwischen einer Bewegung seiner Scheibenwischer und der nächsten, riss die Beifahrertür das Wagens auf und rutschte schnell auf den Sitz.
»Das war wohl die reine E-Ticket-Tour, was?«, begrüßte Owens sie, womit er sein Alter verriet: Die E-Tickets, Karten, mit denen man so oft und so lange auf den verschiedenen Attraktionen fahren konnte, wie man wollte, gab es in Disneyland schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Im Wagen war es warm und feucht – als säße man voll bekleidet in der Sauna. Owens ließ das Gebläse mit voller Kraft Warmluft gegen die Fenster pusten und hatte wohl auch versucht, mit Wischen nachzuhelfen, was aber nur zu unregelmäßigen Streifen im Kondenswasser geführt hatte. Auch jetzt setzte er wieder vergeblich den Jackenärmel ein. »Das Gebläse in diesem Auto taugt absolut nichts!«
Tracy zog ihren Regenmantel aus, verstaute ihn hinter sich auf dem Boden vor dem Rücksitz und half, die
Windschutzscheibe sauber zu wischen. »Waren Sie erfolgreich?«, fragte sie. »Konnten Sie den Putzmann erreichen?«
»Ja, ich habe eine Adresse.« Owens sah auf seine Uhr. »Ob er jetzt gerade zu Hause ist, kann ich nicht sagen, aber er wohnt ganz in der Nähe des Stützpunkts. Wir können kurz bei ihm vorbeifahren, bevor wir uns mit meinem Freund treffen.«
Owens hatte sich für ihren Besuch auf dem Militärgelände die Unterstützung eines Captains gesichert, den er gut kannte und der sie begleiten würde. Laut Owens konnte dieser Freund sie durch das Charleston Gate schleusen und mit ihm zusammen kamen sie überallhin, wohin sie wollten. Inzwischen war klar, dass weder Gebläse noch Wischen für freie Sicht sorgen würde, also öffnete Owens das Fenster einen Spaltbreit und fuhr los. Sofort fielen erste Regentropfen ins Auto.
Tracys Handy klingelte und zeigte eine Nummer, die sie gut kannte. Sie nahm den Anruf sofort an. »Mike?«
»Tolles Wetter, was? Ich hoffe, du musst nicht irgendwo unterwegs sein.«
»Leider doch. Ich bin gerade mit der Fähre in Bremerton eingetroffen.«
»Das hat bestimmt Spaß gemacht.«
»So schnell esse ich jedenfalls nichts mehr. Hast du was über das Überwachungsband herausfinden können?«
Owens warf ihr einen Seitenblick zu, der Tracy nicht entging.
»Das Wasserzeichen ist unterbrochen«, sagte Melton. »Mehrmals. Das Band wurde an den von euch entdeckten Stellen eindeutig bearbeitet.«
Das warf eine ganze Reihe von Fragen auf, aber keine, die Melton in seinem Labor beantworten konnte. »Okay«, sagte Tracy. »Danke, Mike, gut zu wissen. Hoffentlich kriege ich eine Kopie des Originals zu fassen, solange ich hier bin. Wenn ja, schicke ich es euch gleich.«
»Bleib trocken.« Melton verabschiedete sich.
»Worum ging es da? Das Überwachungsband?«, wollte Owens wissen.
»Ich habe die CD, die Rebecca Stanley mir gegeben hatte, von der Kriminaltechnik analysieren lassen. Das Wasserzeichen ist gebrochen.«
Owens kniff die Augen zusammen, als hätte er Probleme mit der Sicht, dabei hatte sich inzwischen im Kondenswasser dank des Fensterspalts und des weiterhin tatkräftig arbeitenden Gebläses ein halbkreisförmiges Fenster aufgetan. »Wie kann man so was denn bearbeiten? Gibt es keinen Stempel mit Datum und Uhrzeit?«
»Eine Kopie kann man anscheinend bearbeiten, dafür gibt es wohl Software.«
Owens schüttelte den Kopf. »Software, klar, die gibt es ja inzwischen für alles. Konnte Ihr Experte sagen, an welchen Stellen das Band bearbeitet wurde?«
»Nachdem Tulowitsky das Gebäude verlassen hatte und dann noch einmal, als er zurückkam.«
»Um zu verbergen, dass sich noch jemand im Haus aufhielt?«
»Das wäre ein logischer Grund, ja.«
»Battles?«
»Das wissen wir mit Sicherheit erst, wenn wir das Original in Händen halten. Falls das überhaupt noch existiert.«
»Wieso falls?«
»Soweit ich es verstanden habe, behält der Sicherheitsdienst diese Bänder eine vorgeschriebene Zeit lang. Danach werden sie überspielt.«
»Und wie lange ist dieser Zeitraum?«
»Das konnte mir Stanley nicht sagen.«
»Soll ich anrufen?«
»Nein, damit machen wir unter Umständen nur die Pferde scheu. Ich würde lieber persönlich dort vorbeigehen, den richterlichen Beschluss vorlegen und mir das Band aushändigen lassen, ohne jemandem vorher Grund zu dessen Vernichtung zu geben.«
»Möchten Sie dann doch lieber erst zum Stützpunkt?«
Tracy sah auf die Uhr. Tulowitsky würde wohl bald zur Arbeit aufbrechen. »Nein, reden wir zuerst mit dem Putzmann. Wenn meine Theorie stimmt, spielt das Band vielleicht gar keine Rolle mehr.«
Al Tulowitsky lebte in einem bescheidenen einstöckigen Haus nicht weit vom Marinestützpunkt und seinem Arbeitgeber IJS entfernt. Die Vorderseite des Hauses zeigte nicht zur Straße, sondern zu einer etwa hundert Meter langen Zufahrt, die gleich drei Häuser bediente und in die Owens jetzt einbog, um unter den Ästen einer knorrigen Kiefer zu parken. Tracy ließ ihren Regenmantel im Auto und rannte deshalb fast über einen uneben gepflasterten Pfad zum kleinen Vordach, das die Haustür schützte, allerdings gegen diese Art von Regen und Wind auch nicht ankam. Rechts von der Tür lief eine Regenrinne über und das Wasser spritzte hoch bis an Tracys Knöchel.
Owens, der zur Gore-Tex-Jacke eine Stoffhose und schwarze Arbeitsschuhe trug, folgte Tracy ein bisschen langsamer und suchte sich vorsichtig seinen Weg um diverse Pfützen herum. Tracy hatte inzwischen einen Türklopfer entdeckt und klopfte dreimal, woraufhin umgehend die Tür aufging, als hätte Al Tulowitsky gleich dahinter auf sie gewartet. So sah er allerdings nicht aus.
»Mr Tulowitsky«, begrüßte ihn Tracy. »Wir haben uns neulich im Büro von IJS kennengelernt.«
»Ja, ich erinnere mich.« Tulowitsky, eindeutig verwirrt über den Besuch, warf einen fragenden Blick auf Owens. Tracy stellte ihn vor.
»Ich habe noch ein paar Fragen, die Sie mir hoffentlich beantworten können.«
»Was für Fragen?« Tulowitsky trug Arbeitskleidung – blaue Hose und ein weißes kurzärmliges Hemd mit dem Firmenlogo des eifrigen Mannes auf der Brusttasche.
»Es geht um ein paar Fragen zu meiner Zeitliste, da muss ich noch ein, zwei Unklarheiten ausräumen.« Nach wie vor tropfte es vom Vordach und die Kiefer verwandelte sich mit jedem Windstoß in eine Dusche. »Wir halten Sie auch nicht lange auf.«
»Ich muss bald zur Arbeit.«
»Es dauert wirklich nicht lange«, wiederholte Tracy.
Wahrscheinlich lag es mehr am Wetter als an allem anderen, dass Tulowitsky jetzt zurücktrat, um die beiden Beamten hereinzulassen. Ein kleiner Flur mit zersprungenen Fliesen auf dem Boden führte in ein Vorderzimmer mit dicht zugezogenen Vorhängen, was für ein seltsam gelbstichiges Licht sorgte. Hier roch es so stark nach Zigaretten, dass es Tracy, die ihre Übelkeit nach der Höllenfahrt auf der Fähre noch nicht ganz überwunden hatte, sofort wieder schlecht wurde. Wer sich lange genug dort aufhielt, hatte bestimmt genügend Qualm aus zweiter Hand eingeatmet, um mehr als nur leichte Vergiftungserscheinungen davonzutragen. Tulowitsky suchte auf einem chaotisch überladenen Couchtisch nach der Fernbedienung für seinen Fernseher, schaltete das Gerät aus und schien danach nicht zu wissen, was er als Nächstes tun sollte.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, erkundigte er sich höflich, wobei das Angebot nicht gerade überzeugend klang. »Viel habe ich allerdings nicht im Haus.«
»Nein danke, wir brauchen nichts.« Tracy deutete auf das Wohnzimmer. »Vielleicht können wir uns kurz setzen?«
Tulowitsky setzte sich in einen braunen Fernsehsessel, sein Lieblingsstück hier im Zimmer, wie man an den abgeschabten Armen des Sessels und dem Stapel Zeitungen daneben unschwer erkannte. Auf dem Couchtisch stand ein überquellender Aschenbecher und es roch so durchdringend nach Zigaretten, dass Tracy flach und kurz atmen musste, um ihre Übelkeit in den Griff zu bekommen.
Owens und sie setzten sich Tulowitsky gegenüber auf eine abgewetzte Couch. Aus der Lüftungsklappe dicht über dem Fußboden drang warme Luft, die die Blätter einer Stoffpalme in der Ecke zittern ließ. »Sie sagten, Sie hätten noch eine Frage?«, sagte Tulowitsky.
Tracy klappte ihren Notizblock auf. Tulowitsky sollte glauben, dass sich ihre Fragen aus der Unterhaltung ergaben, die sie im Beisein seines Chefs geführt hatten. »Ich konnte mir inzwischen das Video der Überwachungskamera von dem Abend anschauen, über den wir neulich gesprochen haben. Darauf sieht es so aus, als hätten Sie das Gebäude um kurz nach 23 Uhr betreten. 23:03 Uhr, um genau zu sein. Als Erstes haben Sie, wie Sie ja schon sagten, die Papierkörbe geleert.«
»Das mache ich immer zuerst«, bestätigte Tulowitsky. Er hatte die Hände auf die Armlehnen des Sessels gelegt, wie ein Mann, der gleich auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt wird.
»Genau.« Tracy widmete sich wieder ihrem Notizblock. »Sie verließen das Gebäude um 23:17 Uhr.« Sie sah Tulowitsky an. »Um den Müll hinauszubringen, richtig?«
»Genau.«
»Ich habe mich gefragt, ob Sie den Müll gleich dorthin brachten, wo er verbrannt oder geschreddert wird.«
»Nein.« Tulowitsky schüttelte den Kopf. »Wir geben die Säcke immer erst beim Verlassen des Stützpunkts ab.«
»Dann trugen Sie den Müll also nur raus zu Ihrem Auto, holten die Putzmittel und einen Staubsauger und machten sich gleich wieder an die Arbeit.«
»Ja, so ungefähr«, sagte Tulowitsky.
»Sie machen an diesem Punkt nichts weiter, richtig?«
»Was zum Beispiel?« Er sah sie fragend an.
»Ich meine, wenn Sie nach draußen gehen, dann füllen Sie nicht irgendwelche Zettel aus oder melden sich im Büro?«
»Ach so, nein«, sagte er. »Nichts dergleichen.«
»Haben Sie eine Zigarette geraucht, als Sie draußen waren, Mr Tulowitsky?«
Die Frage schien den Mann aufzuschrecken. Sein Blick glitt zwischen Tracy und Owens hin und her. »Wie bitte?«
Tracy deutete auf die Schachtel Zigaretten auf dem Couchtisch. »Als Sie nach draußen gingen, um den Müll auszuleeren, haben Sie da eine Zigarette geraucht? Gehört das zu Ihrer Routine?«
»Nein«, sagte er. »Es gibt auf dem Stützpunkt bestimmte Bereiche, in denen man rauchen darf, überall sonst ist es verboten. Also: nein.«
Das klang nicht ganz ehrlich, fand Tracy. »Gibt es einen solchen Bereich in der Nähe dieses Gebäudes?« Jetzt spielte sie aus dem Bauch heraus: Dieser Putzmann hielt es unter Garantie nicht lange ohne Zigarette aus.
»Nein.« Tulowitsky rutschte auf dem Sessel hin und her, als stünde der inzwischen unter Strom.
»Mr Tulowitsky, ich will Sie nicht kritisieren und ich bin auch nicht hier, weil ich Ihnen Schwierigkeiten machen will, aber Sie haben das Gebäude verlassen und sind dann neun Minuten lang nicht zurückgekommen. Das ist eine lange Zeit, wenn man nur den Müll ausleeren und ein paar Putzmittel aus dem Wagen holen will.«
»Vielleicht habe ich nach etwas suchen müssen«, sagte er schnell.
»Und was könnte das gewesen sein?«
»Ich weiß nicht, es ist ja auch schon eine Weile her.«
»Verstehe. Aber Sie erinnern sich nicht daran, etwas anderes getan zu haben, als die Müllsäcke einzuladen und die anderen Sachen auszuladen. Das haben Sie dem NCIS erzählt.«
»Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht noch etwas anderes getan habe.«
»Das hätten Sie dann doch aber beim NCIS ausgesagt, oder?«
Er dachte kurz nach. »Ich weiß nicht.«
Tulowitsky hatte bei seiner ersten Befragung nichts dergleichen erwähnt, Tracy kannte seine Aussage. »Haben Sie jemanden gesehen, als Sie das Haus verließen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Stand jemand neben Ihrem Wagen oder in der Nähe des Gebäudes?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, nein.«
Sie versuchte es auf einer anderen Schiene. »Sie haben die Tür des Hauses geschlossen, als Sie gingen, richtig?«
»Die schließt automatisch«, sagte er.
Tracy legte den Notizblock ab und holte die Liste mit den Sozialversicherungsnummern aus ihrer Aktentasche, die an jenem Abend in das Touchpad der Tür eingegeben worden waren. »Dies ist eine Liste der Leute, die das Gebäude an jenem Abend betreten und verlassen haben. Eigentlich müsste man sehen, dass Sie sich ursprünglich um 23:03 Uhr und dann noch einmal um 23:26 Uhr eingeloggt haben, richtig?«
»Ich glaube schon.«
»Und warum war das an jenem Abend nicht so?«
Tulowitsky antwortete nicht sofort. »Wie meinen Sie das?«, fragte er schließlich, eindeutig, um Zeit herauszuschinden.
»Wieso registrierte das Tastenfeld an der Tür an jenem Abend, dass Sie um 23:03 Uhr gekommen sind, aber nicht, dass Sie neun Minuten nach Heraustragen des Mülls wieder ins Haus gegangen sind? Um 23:26 Uhr, wenn wir genau sein wollen.«
»Sie sagten doch, ich habe mich wieder eingeloggt.«
»Nein. Das Überwachungsvideo zeigt Ihre Rückkehr um 23:26 Uhr, die Tür nicht.«
Tulowitsky presste die Lippen so fest zusammen, dass sie fast vollständig verschwanden. »Ich … ich weiß nicht.«
»Mr Tulowitsky, sind Sie eine Zigarette rauchen gegangen? Und haben Sie die Tür so lange festgestellt, damit Sie sich nicht wieder einloggen mussten, als Sie neun Minuten später zurückkamen?«
Tulowitsky faltete die Hände im Schoß, spielte mit seinen Daumen. Seine Lippen bewegten sich, als sehne er sich genau jetzt nach einer Zigarette. Nach ein paar Momenten sagte er: »Das könnte mich meinen Job kosten.«
Tracy verspürte einen Anflug von Erregung und mahnte sich, ruhig zu bleiben. »Weil Sie eine Zigarette geraucht haben?«
»In einem nicht dafür vorgesehenen Bereich, ja.«
»Und Sie haben an dem Abend eine geraucht?«
Er nickte erneut.
»Irgendwo, wo man Sie nicht sehen konnte?«
»Ich gehe rum auf die Seite des Gebäudes«, gestand Tulowitsky. »Nur eine Zigarette.«
»Wenn Sie auf die Seite des Gebäudes gehen, haben Sie dann die Tür im Blick? Damit Sie wieder reinkommen können?«
»Nein.«
»Sie stellen sie fest? Damit Sie ohne Ihren Code einzugeben wieder reingehen können und niemand mitbekommt, wie lange Sie draußen waren?«
»Ja.«
Tracy warf Owens einen Blick zu, ehe sie sich wieder an Tulowitsky wandte: »Machen Sie das jeden Abend so?«
»Sie meinen, ob ich rauche?«
»Und dabei die Tür feststellen.«
Wieder zögerte er. »So gut wie jede Nacht, vielleicht gibt es auch schon mal eine, wo ich es nicht mache.«
»Wie stellen Sie die Tür auf?«
»Da ist ein Holzstück, ein Keil. Ich schiebe ihn einfach zwischen Tür und Rahmen. Niemand sonst ist so spät noch da, jedenfalls normalerweise nicht. Es ist also keine große Sache, eigentlich.«
Nur war in jener Nacht jemand dort gewesen, und wer immer es gewesen war, Tracy wäre jede Wette eingegangen, dass er oder sie sich mit Tulowitskys Routine auskannte.
Sogar sehr gut.