EPILOG
Leah Battles steckte ihren Ausweis wieder zurück unter ihre Fahrradkleidung und fuhr am Fuß des Hügels entlang zum DSO-Gebäude. Die Ereignisse in Rebecca Stanleys Wohnung lagen jetzt zwei Wochen zurück und noch war alles ziemlich schräg hier, aber so langsam kehrte auch wieder ein bisschen Normalität ein. Battles hatte sich mit Dan O’Leary getroffen, um die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zu besprechen, und er hatte sie zwei Tage später angerufen und ihr eine Stelle in seiner Anwaltskanzlei angeboten. Sie hatte ihm gesagt, sie müsse darüber nachdenken, und versprochen, sich wieder zu melden, hatte aber bereits beschlossen, weiter in Seattle zu bleiben, sobald ihre Dienstzeit abgelaufen war. Sie hatte sogar den Antrag gestellt, den Rest dieser Zeit hier in Kitsap bleiben zu dürfen, und es bestand zumindest eine faire Chance, dass dieser Bitte stattgegeben wurde.
Sie schloss ihr Rad an einem der Ständer vor der Tür an und löste den Riemen ihres Helms, während sie durch die Tür ging.
»Alles klar da draußen, Ma’am?«, erkundigte sich Darcy hinter dem Empfangstresen lächelnd.
Battles erwiderte das Lächeln. »Die Welt steht noch, Darcy. Ich melde mich, wenn das mal anders sein sollte.«
In ihrem Büro schloss sie die Tür hinter sich und ging zu ihrem Schrank, um die Fahrradklamotten gegen ihre Arbeitsuniform einzutauschen. Sobald sie die Stiefel geschnürt hatte, fuhr sie ihren Computer hoch, öffnete ihr Datenverzeichnis und klickte sich durch ihr Dutzend aktiver Akten. Als es an der Tür klopfte, sah sie auf.
Brian Cho steckte den Kopf ins Zimmer. »Störe ich?« Er kam herein, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Battles schüttelte den Kopf, woraufhin Cho hinter sich die Tür schloss und einen Blick auf das neueste Bild an der Wand warf, ein Blick auf die Innenstadt von Seattle und den Puget Sound, von Battles’ Wohnzimmer aus gesehen. »Das ist neu!«, stellte er fest.
»Ich hab es gemalt, als ich die viele freie Zeit hatte.«
»Was das betrifft …«
»Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen«, sagte Battles schnell. »Ich hätte Sie andersherum genauso beschuldigt.«
Cho lächelte. »Danke«, sagte er. »Glaube ich wenigstens …«
»Und ich schlage Sie schon noch«, fuhr Battles fort. »Ist bloß eine Frage der Zeit.«
»Deswegen haben die Chefs diese Wettbewerbe wohl auch eingerichtet.« Cho grinste. Er öffnete die Tür, sah sich aber noch einmal kurz um. »Und wissen Sie was? Wenn mich schon jemand schlagen muss, dann finde ich es okay, wenn Sie das sind.«
Del parkte den Impala und schaltete den Motor aus, machte aber noch keine Anstalten, auszusteigen. Am Wetter lag es nicht, denn der März war endlich vorbei, was Del mehr als recht war. Sosehr er die vier Jahreszeiten in Seattle auch liebte und sich selbst vom Regen nicht beirren ließ, diesmal hatte es ihm gereicht. Der April schien ein wesentlich trockenerer und insgesamt besserer Monat werden zu wollen. Der dunkle Schleier, der sich jeden Winter über die Stadt legte, war wohl vorerst gelüftet, die Tage wurden länger und es fühlte sich so an, als schiene auch die Sonne öfter mal. Del brauchte dringend ein bisschen Helligkeit in seinem Leben. Seine Schwester brauchte ein bisschen Helligkeit.
»Sie ist immer noch ein wenig fertig mit den Nerven«, sagte er zu Celia McDaniel, die neben ihm saß.
Del war nervös, dabei war er eigentlich nie nervös, auch bei der Arbeit nicht, weder früher, als er noch Streife gegangen war, noch in all den Jahren als Detective. Er liebte sämtliche Aspekte seiner Arbeit. Nicht, dass er gern Leichen sah – wer tat das schon gern? –, sie machten ihn nur nie nervös, nichts machte ihn nervös. Was ist, das ist, und was sein wird, wird sein – das war Dels Devise.
Celia lächelte. »Hör auf, dir Gedanken zu machen. Sie hat jegliches Recht dazu, mit den Nerven am Ende zu sein.«
Seit zwei Wochen arbeitete Del nun wieder in der viel angenehmeren Schicht am Tage und in dieser Zeit hatten Celia und er sich fast jeden Abend gesehen. Celia hatte die Ausarbeitung des Verfahrens gegen Evans geleitet und stellte die Anklage gegen Detective John Owens zusammen. Owens würde sich mit einer Reihe von Tatvorwürfen konfrontiert sehen, unter anderem Mord an Rebecca Stanley, Eric Tseng und Laszlo Trejo und Drogenhandel mit Todesfolge, zehn Bewohner der Stadt Seattle betreffend. Im Moment sah es nicht so aus, als würde diese Zahl noch wachsen. Sie hatten die Nachricht vom möglicherweise gefährlichen Heroin (im Grunde eine amtssprachliche Verharmlosung) verbreiten können und in den vergangenen beiden Wochen keine Todesfälle mehr gehabt. Funk hatte angerufen und gesagt, die Laboranalyse bestätige, dass das auf Allies Kommode und in Jack Welchs Garagenwohnung gefundene Heroin mit Fentanyl verschnitten war.
Trotz Celias beruhigenden Worten war Del kurz davor, den Wagen wieder anzuwerfen und ein nettes kleines Restaurant anzusteuern, wo es ihn nicht nervös machte, wer möglicherweise was zu wem sagen könnte. »Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht?«
»Deine Familie kennenzulernen? Warum sollte mir das etwas ausmachen?«
»Die Jungs können– ganz schön neugierig sein. Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Weil ich schwarz bin?«
Dels Nerven meldeten sich noch deutlicher. »Könnte durchaus sein«, gestand er.
»Hast du zufällig erwähnt, dass ich schwarz bin?«
»Habe ich«, sagte er. »Nicht, dass es irgendeine Bedeutung hätte. Ich dachte nur, so wird es für alle ein bisschen einfacher.«
Celia lachte. »Du bist wie ein siebzehnjähriges Mädchen mit seinem Date für den Schulball! Hautfarbe gehört zu den Tatsachen des Lebens, Del. Die Leute, die behaupten, keine Farben oder Rassen zu sehen, sind genau die Leute, die das tun. Wir sehen gut aussehende Leute und witzige Leute, nervige Leute. Warum sollten wir so etwas Offensichtliches wie Hautfarbe nicht sehen?«
»Ich bin nicht sicher, ob bei dem, was du anhast, heute Abend irgendwer so was wie Schwarz oder Weiß sieht.« Celia trug einen braunen Faltenrock, der ihr bis knapp über die Knie reichte, dazu eine passende Jacke und eine weiße Bluse.
»Zu viel?« Celia zog die Brauen hoch.
»Zu schön«, sagte er.
Sie beugte sich über den Sitz und küsste ihn. »Entspann dich. Was deine Neffen betrifft und das, was sie eventuell von sich geben könnten: Ich bin mit drei Brüdern aufgewachsen und habe einen Sohn großgezogen. Ich glaube nicht, dass die Zwillinge mich einschüchtern können.«
»In Ordnung.« Del atmete aus, allerdings ohne wirklich entspannt zu sein.
Celia machte Anstalten, ihre Tür zu öffnen. Del langte über den Sitz und berührte sie an der Schulter. »Weißt du, meine Schwester und du, ihr habt ja auf jeden Fall etwas gemeinsam.«
»Ist deine Schwester schwarz?«
»Du weißt, was ich meine. Ich möchte nur nicht, dass du dich verpflichtet fühlst.«
Celia lächelte. »Das, was deine Schwester und mich verbindet, Del, das überlebt man nur mithilfe einer starken Familie, eines starken Glaubens und guter Freunde.« Erneut zog sie die Brauen hoch. »Bei den ersten beiden Punkten kann ich nicht helfen, wohl aber beim dritten. Das ist keine Verpflichtung, sondern das, was mein Sohn von mir erwarten würde. Das weiß ich.«
Del beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. »Und jetzt: Hatte ich meine Neffen schon erwähnt?«
Celia schlug ihm auf die Finger.
Hand in Hand gingen sie zur Tür, die aufgerissen wurde, noch ehe er klopfen konnte. In der offenen Tür stand Stevie, der sich hastig sein Hemd in die Khakihose stopfte, an den Füßen Schuhe mit offenen Schnürsenkeln. Wahrscheinlich hatte er Dels Auto gehört und war sofort aus seinem Zimmer im Souterrain an die Tür gestürmt. Jetzt warf er seinem Onkel einen kurzen Blick zu, aber sein eigentliches Interesse galt deutlich Celia.
»Hey Stevie«, sagte Del.
»Hey Onkel Del.« Stevie ließ Celia nicht aus den Augen – als sei sein Onkel nur ein Anhängsel seiner Begleiterin.
»Schick siehst du aus!«, lobte Del.
»Mom hat gesagt, wir sollen uns was Anständiges anziehen.« Stevie starrte immer noch.
Jetzt kam auch Mark um die Ecke aus dem Wohnzimmer gerannt, das Hemd aus der Hose hängend, die Schuhe in der Hand. Er knurrte seinen Bruder wütend an, stellte sich neben ihn und hatte danach auch nur noch Augen für Celia.
»Hi Mark!«, begrüßte ihn Del.
»Hi Onkel Del.«
»Stevie, Mark, ich möchte euch Celia vorstellen.«
Celia streckte ihnen die Hand hin, die die beiden einer nach dem anderen höflich schüttelten.
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagten sie wie aus einem Mund.
»Ich freue mich auch, euch beide kennenzulernen«, sagte Celia. »Ich habe schon viel Gutes über euch gehört. Del sagt, ihr seid ganz ausgezeichnete Baseballspieler, und er hat versprochen, mich bald mal mitzunehmen, wenn ihr spielt.«
Die Jungen strahlten. »Wir spielen Samstag«, sagte Stevie.
»Onkel Del ist der Trainer«, ergänzte Mark.
»Das hat er erzählt.« Celia nickte. »Vielleicht lädt er mich ja gleich Samstag ein.«
In der Little League herrschte Trainermangel und Del hatte sich zur Mitarbeit bereit erklärt, solange ihn niemand in Baseballhose sehen wollte.
»Wieso hast du sie denn noch nie mitgenommen, Onkel Del?«, erkundigte sich Stevie vorwurfsvoll.
»Genau!«, sagte Mark. »Wo sind denn deine Manieren?«
»Ja, wo sind deine Manieren?«, kam das Echo von Stevie.
»Ihr zwei – als würde man Stereo hören!« Del schüttelte den Kopf. »Wo meine Manieren sind, wollt ihr wissen? Wo sind denn eure? Wir stehen schon ewig hier draußen in der Kälte, vielleicht lasst ihr uns jetzt endlich mal rein?«
Im Haus hatte jemand gründlich aufgeräumt und sauber gemacht. Der Couchtisch war leer, auf den Sofas lagen weder Krümel noch Zeitungen. Leiser Jazz drang aus den Lautsprechern. »Ihr habt ja aufgeräumt!«, freute sich Del. »Das sieht prima aus.«
»Mom hat uns dazu gezwungen.«
»Ja, Mom hat uns gezwungen.«
»Es riecht wunderbar«, fand Celia.
»Mom kocht Manicotti«, erklärte Stevie.
»Manicotti kriegen wir nur, wenn Besuch kommt«, ergänzte Mark.
Maggie kam aus der Küche und gesellte sich zu ihnen. Sie trug Jeans, eine hellrosa Bluse, flache Schuhe und lächelte Celia zu, während sie Del mit einem Kuss auf die Wange begrüßte. »Hi. Ich habe nur schnell noch nach dem Essen geschaut.«
»Es riecht wunderbar«, wiederholte Celia.
»Ich hoffe, Sie mögen die italienische Küche?«
»Wer mag die nicht? Sie müssen mir beibringen, italienisch zu kochen.«
Lächelnd deutete Maggie auf die beiden Sofas. »Setzt euch doch, bitte. Wir duzen uns, Celia, ja?«
»Gern.« Celia und Del setzten sich auf das längere der beiden Sofas.
»Stevie, bring bitte die Hors d’Œuvres«, sagte Maggie.
»Die was?«
»Die Hors d’Œuvres.«
»Den Teller mit den Oliven und dem Prosciutto?«
Maggie verdrehte die Augen. »Ja. Mark, du holst den Wein und die Gläser.«
»Kriegen wir Wein?«
»Nein«, sagte Maggie.
»Es würde euer Wachstum hemmen«, erklärte Celia.
Die Jungen blieben stocksteif stehen. »Echt jetzt?«
»Ich kannte mal einen Mann, der war ein Meter neunzig groß. Sein Sohn hat zum Abendessen Wein getrunken und wurde nicht größer als so.« Sie hielt die Hand knapp einen Meter über den Boden.
Die Augen der Jungen wurden so groß wie Untertassen. Sie sahen Del an – glaubte er das? Del zuckte mit den Achseln und zog die Brauen hoch. Mich dürft ihr da nicht fragen.
Woraufhin die Zwillinge wortlos kehrtmachten und in die Küche rannten.
»Ich hoffe, Del hat dich vor den beiden gewarnt«, sagte Maggie.
»Sie erinnern mich an zwei meiner Brüder. Elf Monate auseinander. Der eine hat nie etwas ohne den anderen gemacht.«
Stevie brachte einen mit italienischem Schinken, Oliven, Auberginenpaste, Kräckern und verschiedenen Käsesorten beladenen Teller, den er auf dem Couchtisch abstellte. Mark folgte mit einer Flasche Chianti und drei Gläsern.
»Ich hoffe, du hast dir nicht zu viel Mühe gemacht«, sagte Celia. »Das sieht köstlich aus.«
»Onkel Del hat es besorgt«, petzte Stevie.
Del warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Das hier sollte Maggies Dinnerparty sein.
»Ja, der wohnt sozusagen bei Salumi«, verriet Mark.
»Das ist sein Lieblingsrestaurant«, ergänzte Stevie.
»Er hat da jedenfalls fast gewohnt, als er noch fett war«, sagte Mark.
»Herzlichen Dank!«, stöhnte Del, der inzwischen über zehn Kilo abgenommen hatte.
Die Jungs lachten.
»Er muss Sie wirklich mögen, wenn er so viel abgenommen hat.« Stevie ließ nicht locker.
Del räusperte sich und befasste sich eingehend mit der Weinflasche. Celia hielt sich die Hand vor den Mund.
»Die Vorspeisen sind typisch italienisch«, erklärte Del, nachdem er drei Gläser Wein eingeschenkt hatte.
»Sind Sie Italienerin?«, erkundigte sich Stevie bei Celia.
»Könnte ich Italienerin ehrenhalber sein?«
Stevie zuckte die Achseln. »Wieso nicht?«
»Sie ist Afroamerikanerin«, sagte Mark, der sich gerade eine Olive in den Mund gestopft hatte und nun nach einem Stück Käse griff.
»Ach ja?«, sagte Celia.
Mark zuckte mit den Achseln, als sei das keine große Sache. »Das haben wir in der Schule gelernt.« Er wickelte ein Stück Schinken um zwei Oliven. »Aber Sie können gern Italienerin sein.«
»Okay, ihr zwei!«, ging Maggie dazwischen. »Ihr seid ja der reine Heuschreckenschwarm. Lasst unseren Gästen auch noch was übrig und zieht Leine, den Tisch fertig decken.«
Die Jungs, die neben dem Couchtisch auf dem Boden gehockt hatten, standen auf, schnappten sich jeder noch schnell eine Handvoll Oliven und Schinken und verschwanden in der Küche.
»Das tut mir echt leid«, sagte Maggie. »Sie können ein wenig zu persönlich werden.«
Celia lächelte. »Mein Sohn war in dem Alter genauso.«
Ganz kurz verging Maggie das Lächeln. »Del sagte, dass du einen Sohn verloren hast. Das tut mir leid.«
»Danke. Das mit deiner Allie tut mir auch sehr leid.«
Maggie nickte. Tränen sammelten sich in ihren Augen, aber sie schaffte es, sich wieder zu beruhigen.
»Natürlich musst du weinen«, sagte Celia. »Es ist okay, mich stört es wirklich nicht.«
Maggie tupfte sich mit einem Taschentuch die Augenwinkel trocken. »Wird es irgendwann besser?«
Celia stellte ihr Weinglas ab und nahm Maggies Hand. »Wenn ich jetzt Ja sage, weißt du, dass ich lüge, nicht wahr?«
Maggie nickte. »Ja.«
»Man lernt mit der Zeit, mit dem Schmerz zu leben. Man lernt, mit all den Erinnerungen zu leben und sie nicht zu fürchten. Man lernt, die Erinnerungen anzunehmen und sie willkommen zu heißen.«
Jetzt liefen bei Maggie doch noch die heißen Tränen. Celia stand auf und setzte sich neben sie. »Es wird nicht besser, Maggie. Es wird anders, und anders ist okay. Du musst nur lernen, es anzunehmen. Das braucht Zeit, wie alles im Leben. Weine, wenn dir danach ist. Weinen ist Gottes Weg, uns in unserem Schmerz zu helfen, also entschuldige dich nie, wenn du weinst. Dieses Weinen erinnert uns daran, dass wir Menschen sind, die ihre Familien aus ganzer Seele lieben. Und diese Liebe ist etwas Wunderschönes.«
Maggie lächelte unter Tränen und putzte sich die Nase. Sie holte tief Luft. »Dein Akzent – woher kommt der?«
»Georgia«, sagte Celia. »Und wenn ich will, wird er so dick wie Molasse.« Sie lächelte Del zu, der inzwischen auch ein paar Tränen in den Augen hatte. »Und manchmal fällt er den Leuten kaum auf.«
»Mir fällt er auf.« Del hob sein Glas.
»Er ist wunderschön«, fand Maggie.
»Ja, das ist sie«, bestätigte Del, und dann hörte er das Kichern der beiden kleinen Jungs, die sich hinter seinem Rücken wieder ins Zimmer geschlichen hatten.
Dan und Tracy gingen auf den Wanderwegen hinter ihrem Haus mit den Hunden spazieren – oder umgekehrt die Hunde mit ihnen, so genau konnte man das nie sagen, wenn Rex und Sherlock von der Leine waren. Der regenreiche März war endlich vorbei und der April versprach den Frühling. Für Tracy bedeutete er außerdem das Ende ihrer Spätschicht und von daher mehr Zeit zum Schlafen und für Dan.
Natürlich hatte sie immer noch genug zu tun, denn sie sollte die Beweise zusammenstellen, die die Grundlage für Celia McDaniels Anklage gegen Detective John Owens bilden sollte, und wie es aussah, hatte sie damit noch eine Weile zu tun.
Irgendwo im schwindenden Licht tobten Rex und Sherlock krachend durch das Unterholz, arbeiteten sich durch all die vielen Gerüche hier. Vögel zwitscherten und sangen und über Tracys und Dans Köpfen bewegten sich die Äste der Bäume knarrend im Wind.
Abendspaziergänge wie dieser waren für Tracy nach einem langen Arbeitstag in der Stadt normalerweise das reine Paradies. An diesem Abend jedoch war ihr ein bisschen übel und schwindelig. Vielleicht machte sich der Schlafmangel des letzten Monats immer noch bemerkbar, sie fand nach einer Zeit der Spätschicht immer nur schwer wieder in den normalen Tagesablauf zurück.
Sie blieb stehen, um tief Luft zu holen, aber das half nicht gegen den metallischen Geschmack im Mund, der sie schon den ganzen Tag gestört hatte.
»Alles in Ordnung?«, wollte Dan wissen.
»Mir ist ein bisschen schlecht. Und Hitzewallungen scheine ich auch zu haben.« Sie zog den Reißverschluss auf und fächelte sich mit der Jacke Luft zu. Die frische Luft tat gut.
»Möchtest du umkehren?«, fragte Dan.
»Und mich die ganze Nacht ärgern, weil zwei unausgelastete Hunde im Haus rumturnen? Mir geht es schon besser und die frische Luft hilft.«
»Vielleicht hast du dir etwas eingefangen«, sagte Dan, während sie weitergingen. »Es geht ja diese Grippe um.«
Sie zuckte die Achseln. »Es könnten die Wechseljahre sein. Meine Mutter ist auch früh reingekommen.«
Dan blieb stehen. »Du weißt, dass das okay ist, ja? Ich meine, ob wir Kinder haben oder nicht. Ich bin auch zufrieden, wenn wir zu zweit bleiben. Solange ich dich habe.«
Tracy lächelte. »Wir werden nie nur zu zweit sein. Nicht, solange Rex und Sherlock bei uns sind. Und Roger.«
»Du weißt, wie ich das meine.«
»Ja, das weiß ich.«
»Und für dich ist das auch in Ordnung? Wirklich?«
»Wir haben doch eigentlich gar keine andere Wahl, oder?« Tracy drückte Dans Hand. »Ich bin sicher, mit der Zeit wird es okay sein. Dass ich nicht empfangen konnte, enttäuscht mich schon, aber die meisten Dinge geschehen aus gutem Grund.« Sie musste an Leah Battles denken und an den Rat, mit dem, was man sich wünscht, vorsichtig zu sein.
Tracy hätte gern ein Kind gehabt und konnte ihre Enttäuschung darüber, nicht schwanger geworden zu sein, nur schwer verbergen. Andererseits hatte sie doch aber auch ein gutes Leben. Es gab Dan und einen Ort, den sie beide ihr Zuhause nennen konnten, und ihr Beruf gab dem Leben Sinn und ihr das Gefühl, etwas zum Wohl der Allgemeinheit beizutragen.
Dan küsste sie und sie machten sich auf den Weg nach Hause.
»Hast du mit Leah Battles gesprochen?«, fragte Tracy.
»Ja.«
»Und?«
»Sie scheint kompetent zu sein. Sie wird ein bisschen brauchen, bis sie mit Zivil- und Strafrechtsverfahren außerhalb eines militärischen Kontexts auf Stand ist, aber sie hat in ihrer Zeit bei der Navy wirklich umfassend Erfahrungen sammeln können. Ich würde sie mögen.«
»Und wirst du sie einstellen?«
»Ich habe ihr bereits ein Angebot gemacht.«
»Was hat sie gesagt?«
Dan lächelte. »Sie sagte, sie würde drüber nachdenken und sich in einer Woche wieder melden.«
Tracy lachte. »Ich hatte dich gewarnt, die Frau ist eine Granate.«
»Sie hat noch ein paar Monate bis zum Ende ihrer Dienstverpflichtung«, sagte Dan. »Eilig ist es ihr mit einem neuen Job also nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mein Angebot annehmen wird. In einer der großen Anwaltskanzleien kann ich sie mir nicht vorstellen.«
Zu Hause bereitete Dan seine berühmten Enchiladas zu, die herrlich duftend, heiß und voller Käse und roter Soße aus dem Ofen kamen. Sie schmeckten wunderbar, aber schon nach ein paar Bissen legte Tracy ihre Gabel hin.
»Fühlst du dich immer noch nicht gut?«, erkundigte sich Dan besorgt.
»Ich glaube, ich lege mich hin. Es tut mir leid, aber diese leckeren Dinger esse ich lieber, wenn ich sie auch genießen kann.« Sie stand auf und machte Anstalten, ihren Teller abzuräumen.
»Lass einfach alles stehen«, winkte Dan ab. »Ich räume schon auf.«
»Danke. Tut mir wirklich leid.«
»Lass doch, mach dir bloß keine Gedanken.«
Tracy stand da, unsicher, ob sie sich nun übergeben musste oder nicht.
Dan wollte aufstehen. »Warte, ich helfe dir.«
Sie winkte ab. »Nein, ist schon okay. Zum Bett ist es ja nicht weit.«
Sie ging ins Schlafzimmer, zog sich aus und ein T-Shirt an und schlüpfte unter die Decke. Rex und Sherlock hatten es sich bereits auf Dans Seite gemütlich gemacht, zu Bällen zusammengerollt, um möglichst unsichtbar zu sein und vielleicht doch nicht vom Bett geworfen zu werden. Sie hatten Bettverbot, wenn Tracy und Dan schlafen wollten, schlichen sich aber gern frühmorgens doch noch hoch auf die Matratze. Jetzt machte Tracy sich nicht die Mühe, sie zu verscheuchen. Wenn sie ehrlich sein wollte, genoss sie die Gesellschaft der beiden.
Lange nach Anbruch der Dunkelheit – die Uhr auf dem Nachttisch zeigte zwei Uhr morgens – wachte sie wieder auf. Neben ihr schnarchte Dan leise, die Hunde in ihren Betten auf dem Fußboden grunzten von Zeit zu Zeit. Sie hatte Dan nicht ins Zimmer kommen hören und auch weder gehört noch gespürt, wie Rex und Sherlock vom Bett gesprungen waren, so fest hatte sie geschlafen. Jetzt allerdings war sie hellwach und würde wahrscheinlich den Rest der Nacht nicht wieder einschlafen können.
Sie kletterte aus dem Bett und schlurfte aus dem Schlafzimmer ins Bad, in dem ein Nachtlicht brannte. Sie fühlte sich besser als vorhin, immer noch ein bisschen benommen, aber beileibe nicht so elend. Sie zog die Tür ran, ohne sie ganz zu schließen, und setzte sich, ließ aber noch nicht gleich Wasser. Stattdessen betrachtete sie nachdenklich das Schränkchen unter dem Waschbecken. Ja, sie war sich ziemlich sicher, dass sie noch einen hatte.
Entschlossen stand sie auf, schaltete das Deckenlicht ein und wühlte im Badezimmerschrank, bis sie die gesuchte Schachtel gefunden hatte, in der sich wirklich noch ein Schwangerschaftstest befand. Zögernd hielt sie ihn in der Hand. Das Clomid hatte ihnen keinen Erfolg beschert und laut Dr. Kramer stand es extrem schlecht um ihre Chance, schwanger zu werden.
Wie leid sie es war, sich immer Hoffnungen zu machen, um dann doch wieder enttäuscht zu werden. Wie sehr sie – Moment, waren das nicht rein defätistische Gedanken? Ihr Vater würde das jedenfalls so sehen, wenn er noch lebte. Wenn sie vor einem Schießwettbewerb Zweifel geäußert hatte, hatte er ihr immer geraten, gar nicht erst anzutreten. »Wenn du in dem Glauben da hingehst, dass du sowieso verlierst, dann hast du im Grunde schon verloren. Wenn du glaubst, du gewinnst, bist du enttäuscht, wenn das nicht klappt. Geh hin, weil du gegen andere im Wettkampf antreten willst – ohne Erwartungen in die eine oder andere Richtung. Hingehen oder nicht, das entscheidest du allein, alles andere dann nicht mehr, warum sich also schon im Vorfeld grämen?«
Natürlich ließ sich ein Schwangerschaftstest nicht mit einem Schießwettbewerb vergleichen, aber im Moment hatte Tracy wirklich keine Erwartungen.
Sie dachte an Dan, an die Nacht, als sie einfach nur an ihn gekuschelt hatte schlafen wollen. Er hatte sie im Arm gehalten und ihr gesagt, sie sei das Einzige auf der Welt, was er sich wünsche. Danach hatten sie sich geliebt. Nicht, um ein Baby zu zeugen – einfach nur, um einander nahe zu sein.
Sie wickelte den Schwangerschaftstest aus, pinkelte darauf, legte ihn oben auf den Spülkasten, stand auf und wusch sich die Hände. Während sie sich abtrocknete, betrachtete sie ihr Bild im Spiegel über dem Waschbecken. Nein, keine Erwartungen. Positiv oder negativ, daran wollte sie jetzt nicht denken.
Sie setzte sich und wartete. Egal, was sie sich einredete, ihr Herz ließ sich nicht beruhigen und schlug zum Zerspringen.
Es könnte die Grippe sein.
Endlich wagte sie es, den Streifen anzusehen.
Zwei parallel verlaufende Linien.
Tracy schloss die Augen, ließ ihren Tränen freien Lauf, hätte am liebsten gleichzeitig gelacht und geweint. Und laut geschrien! Das Ergebnis war nicht in Stein gemeißelt, das wusste sie genau, sie hatte noch einen langen Weg vor sich. Schwangerschaftstests für zu Hause waren nicht verlässlich und konnten falsche positive Ergebnisse produzieren. Sie musste einen Arzttermin ausmachen. Dann gab es noch die Möglichkeit einer Fehlgeburt – viel höher als bei anderen, wegen ihres Alters.
Sie musste … sie musste …
Sie musste aufhören. Einfach aufhören und den Augenblick genießen.
Lächelnd warf sie einen Blick durch die halb offene Badezimmertür auf den leise schnorchelnden Dan. Noch schlief der Mann – aber nicht mehr lange.