Kapitel 1

Ein kühler Frühlingswind war Keanus einziger Begleiter, als er über den Sportplatz lief. Der Nieselregen, der schon seit dem Morgen anhielt, hatte den Boden aufgeweicht, sodass sich die Schuhsohlen und das helle Leder des Balls schnell braun färbten.

Feuchtigkeit hing in Keanus Haaren. Sie überzog auch seinen Nacken, das Gesicht und die Unterarme. Er spürte, dass sie da war, doch es störte ihn nicht. Er fror nicht. Niemals. Wahrscheinlicher war, dass die Tropfen auf seiner Haut froren.

Er trieb den Ball unentwegt über das Feld.

Das Training mit seiner Mannschaft war lange vorbei. Die anderen waren gegangen. Nach Hause. Zum Mittagessen. Er blieb hier. Rannte einfach. Trat den Ball.

Wenn man rannte, hatte man wenigstens das Gefühl, wegzukommen. Voranzukommen. Selbst, wenn man nur den Sportplatz umrundete. Sein Körper wurde müde davon. Das Brennen in seinen Muskeln bewies ihm, dass er etwas tat. Dass er weitermachte, irgendwie.

Wie lange er jetzt hier war, wusste er nicht, aber es mussten ein paar Stunden sein, wenn sein Bruder schon am Feldrand Stellung bezog.

„Hey, die Verlängerung ist vorbei! Kommst du fürs Interview zu den Kabinen?“

Makani hatte ihn schon oft hier weggeholt. In letzter Zeit immer öfter.

Keanu dribbelte ohne Eile zu ihm hinüber und hob den Blick. Das vertraute Gesicht seines jüngeren Bruders erinnerte ihn daran, dass er immer noch hier war. Nichts hatte sich verändert.

„Alles in Ordnung soweit?“, fragte er.

Keanu drehte den Kopf zur Seite. „Sicher. Wollte mich nur ein bisschen austoben.“

Sie stapften gemeinsam zu den Umkleideräumen.

„Ich hole dich zum Essen ab.“

„Waren wir verabredet?“

„Nein.“

Mak bückte sich nach dem Ball und hob ihn auf. „Ich mache den sauber, während du duschst und dich umziehst.“

Keanu nickte stumm und bog in den großen Umkleideraum ab. Jetzt lief wieder alles auf Autopilot. Ausziehen, duschen, abtrocknen, anziehen ... die dreckigen Schuhe schrubben. Keanu erledigte alle diese Aufgaben und war dankbar dafür, dass jede ein bisschen Zeit auffraß. Ihm war früher nie so bewusst gewesen, was Einsamkeit bedeutete. Vor Oli hatte er es nie so empfunden, jetzt fraß es ihn beinahe auf.

 

Sie saßen vor der weißesten Tischdecke, die er je gesehen hatte. Paprika leuchtete ihm rot und gelb aus dem dampfenden Reis entgegen. Das Essen sah gut aus. Keanu führte Gabel für Gabel zum Mund. Kaute. Schluckte.

„Wie ist es im Büro?“, erkundigte er sich nach ein paar Bissen.

„Läuft. Ich war vorhin kurz auf der Baustelle am Markt. So langsam kommt die Sache ins Rollen.“

Keanu nickte, um zu zeigen, dass er die Information zur Kenntnis genommen hatte. „Ich komme Montag auch wieder rein.“

„Du kannst dir so viel Zeit nehmen, wie du brauchst“, sagte Makani schnell. Keanu spürte seinen Blick auf sich, aber er erwiderte ihn nicht. Es war einer dieser Sätze, die er in den letzten Monaten so oft gehört hatte. Nimm dir Zeit. So viel, wie du brauchst.

Aber so langsam hatte er das Gefühl, dass Zeit rein gar nichts änderte. Keine Stunde und kein Tag, der verging, brachte ihn weiter weg von hier. Egal, wie sehr er es versuchte. Seine Welt war seit Olis Tod wahnsinnig klein geworden.

Keanu bewegte die Mundwinkel, damit sein Bruder sich nicht noch mehr Sorgen machte.

„Ich weiß.“

„Niemand von uns denkt etwas Schlechtes über dich, wenn du wieder jemanden triffst. Und ich bin mir sicher, dass Oli sich das auch für dich wünschen würde.“

Nun schaute er doch kurz zu Mak. Den Escort-Typen zu seiner Geburtstagsfeier mitzubringen, war vielleicht doch nicht die beste Idee gewesen. Für den Abend hatte es geholfen, alle hatten sich gefreut und er hatte ihnen die Erleichterung regelrecht ansehen können.

Vor Oli waren die Dates nie knapp gewesen. Er hatte eigentlich immer irgendjemanden gehabt, auch wenn es nie was Ernstes gewesen war. Und jetzt ... jetzt war er seit Monaten allein. Es war ja nicht so, dass er es nicht versuchen wollte, aber seine Anläufe hatten ihm gezeigt, dass er es im Moment nicht konnte. Genauso wenig konnte er Mak sagen, woran es abgesehen von seiner Trauer lag.

Das mit dem Escort war ihm wie eine gute Idee vorgekommen. Er hätte länger darüber nachdenken sollen.

Nachdem er seiner Familie nun diesen Johann – wenn das überhaupt sein echter Name war – als Date präsentiert hatte, fragten sie sich natürlich, warum diese Story nicht weiterging. Dabei hatte es ja nie eine gegeben. Er hatte einen Fremden für den Abend bezahlt.

Wahrscheinlich stimmte sogar, was Mak sagte: Oliver war nie besonders eifersüchtig gewesen. Immer die Sorte Mann, die sich einfach nur wünschte, dass der Partner glücklich war. Diese reinste Form von Liebe, die man nur aus Filmen kannte.

Er würde es ihm nicht übel nehmen, wenn er jemand anderen kennenlernte und in sein Herz ließ. Falls sich da jemals wieder jemand wohlfühlen konnte, in dieser Kälte.

Keanu schluckte und blickte wieder auf seinen Teller.

„Ehrlich gesagt ... ich glaube, ich muss mal für eine Weile hier weg. Raus aus der Stadt. Vielleicht auch aus dem Land. Wegfahren. Ganz weit weg“, sagte er und schüttelte den Kopf.

Über seine Gefühle zu sprechen, fiel ihm schwer. Selbst mit Mak, der ihn besser kannte als jeder andere. Er hatte es mit einem Therapeuten versucht und das hatte ihm zumindest in den ersten Wochen geholfen, einen Weg aus der Schockstarre heraus zu finden. Danach war es nicht mehr so gut gelaufen. Keanu wusste, dass er selbst Schuld daran war. Aber er hatte einfach nur über alles reden können.

Jetzt war er entschlossen, seinen Weg alleine zu finden. Er brauchte einen Tapetenwechsel. Vielleicht würde der ihm die Impulse geben, die er brauchte.

Als er dem Blick seines Bruders wieder begegnete, wirkte der unerwartet aufgeregt. Keanu hatte erwartet, dass er sofort versuchen würde, ihm das Wegfahren auszureden. Stattdessen ...

„Weißt du ... wir hatten uns letztes Jahr was für euch zu deinem Geburtstag überlegt“, begann Makani und es klang, als hätte er schon eine Weile mit diesem Satz gekämpft. Dass er bald Geburtstag hatte, hatte Keanu gar nicht realisiert, aber es stimmte. Den Letzten hatte er noch mit Oliver gefeiert ... „Eine Reise, Mama hat was richtig Exklusives rausgesucht. Sie war ganz aus dem Häuschen deswegen. Zum Südpol.“

„Zum Südpol?“, wiederholte Keanu überrascht. „Das wäre tatsächlich ganz weit weg.“

Auf Makanis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und er nickte eilig. „Ja, genau. Da gibt es ein einziges Hotel, wusstest du das? Sie hat für euch beide gebucht. Na ja, und jetzt wussten wir nicht, ob du noch fahren wollen würdest. Ich hab die ganze Zeit schon überlegt, wie ich das ansprechen soll.“

Zum ersten Mal seit Monaten regte sich so etwas wie echter Tatendrang in ihm. Wie ein Tier, das sich nach einem langen Winterschlaf zum ersten Mal aufbäumte. Träge und ein bisschen verspannt. Und hungrig .

„Ich will“, sagte er. Zum Südpol. Das war wortwörtlich das andere Ende der Welt. Aber diese Vorstellung machte es nur noch attraktiver. Vielleicht war es nicht die Zeit , die er brauchte ... vielleicht waren es Kilometer.

Mak strahlte ihn an. Es schien ihn sehr glücklich zu machen, dass er die Reise antreten wollte. „Cool. Da fällt mir grad ein Stein vom Herzen.“

Schon jetzt erstreckten sich weite, eisblaue Landschaften vor ihm. Eine ganz andere Welt. Ein Ort, an dem man wunderbar einsam sein konnte. Pinguine. Gletscher.

„Lad Johann ein, okay?“

Keanu hob die Brauen. Ach ja ... immer noch der Escort-Typ. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Mak sprach schon weiter.

„Wäre doch eine grandiose Möglichkeit, um sich noch besser kennenzulernen, hm? Es ist nicht nur eine Kostenfrage, weil wir den zweiten Platz nicht streichen lassen können ... ich will dich ungern allein dahin fliegen lassen. Am Ende kommst du nicht zurück.“

Maks Stimme kleidete die Worte in einen Scherz, aber Keanu wusste, dass ein wenig Wahrheit darin steckte. Er hatte seinem Bruder in letzter Zeit viel Sorge bereitet, ohne es zu wollen. Aber einen beinahe Fremden mit auf so eine Reise nehmen?

„Ich ... denk drüber nach.“

 

*

 

Ich glaube, der Typ will mich verarschen , tippte Johann und schickte die Nachricht ab. Er legte das Handy auf die Yoga-Matte und ging in die Krieger-Position. Die Arme waagerecht, den Blick in die Ferne gerichtet ... auch wenn die Wand seines Wohn-Ess-Schlaf-Sport-Zimmers kein besonders weites Schweifen zuließ.

Seine Übungen machte er zwischen Sofa und Küchentresen. Eine größere Wohnung wäre geil gewesen, allein schon, um es seinen Eltern unter die Nase zu reiben, aber im Moment konnte er froh sein, wenn er er schaffte, diese Wohnung zu halten.

Bevor er die Seite wechselte, schaute er wieder in die Chatgruppe.

Welcher denn? Der mit dem Gehstock?, fragte Veit.

Der Matrix-Typ , textete er zurück und stellte nun das andere Bein nach vorn.

Obwohl sie sich alle schon länger kannten, verriet er in der Chatgruppe nicht die Namen seiner Kunden. Das tat keiner von ihnen. War eine Art Kodex.

Er hatte den Kerl direkt mit den Matrix-Filmen assoziiert, weil er sich ihm als Keanu vorgestellt hatte. Wie Keanu Reeves. Irgendwie witzig. Beide hatten schwarzes Haar, aber sein Kunde war ehrlich gesagt mehr sein Typ. Wenn er an den Abend dachte, den sie vor ein paar Wochen miteinander verbracht hatten, freute er sich eigentlich darauf, ihn wiederzusehen. Vor allem, weil sie zu nichts gekommen waren. Er hatte ihn auf eine Feier begleitet, eine ziemlich teure Festlichkeit. Viele hohe Tiere aus der Bau- und Immobilienbranche.

Sie hatten geredet, gespeist und einander Blicke zugeworfen, aber über ein paar flüchtige Berührungen in der Öffentlichkeit war es nicht hinausgegangen. Vor allem auch, weil Keanu ihn an der Schwelle seines Wohnhauses verabschiedet hatte.

Meintest du nicht, dass der keinen Bock auf dich hatte? Jetzt doch, oder was? Die Nachricht kam von Diego.

Vielleicht ist das seine Art von Vorspiel , schrieb Marius.

Oder er hat Prinzipien , mischte sich Ludwig ein. Auf einmal schienen alle an ihren Handys zu hängen. Nicht beim ersten Date oder so.

Ich habe keine Dates. Ich habe Aufträge.

- Aber für deine Kunden sind es Dates.

Was will er denn überhaupt? , schrieb Diego wieder.

Johann setzte sich in den Schneidersitz und tippte die nächste Nachricht. Er möchte, dass ich ihn auf eine achttägige Reise begleite.

- Klingt doch cool. Dann kannst du ein bisschen dem feuchten Frühlingswetter hier entgehen.

Johann lachte ironisch auf. Oder auch nicht. Ich werde offiziell der erste Escort am Südpol.

Er will dich am Südpol ficken?

Sie wollen doch alle seinen Südpol ficken, schrieb Diego und erntete ein paar Lach-Emojies von den anderen.

Das meinte ich. Es ist vollkommen absurd , tippte er. Ich soll meine wärmste Jacke und am besten Schneestiefel einpacken. Und Thermokleidung.

Hast du sowas überhaupt?

Ne... das setzt der feine Herr zwar voraus, aber ich gehe nachher erstmal shoppen. Auf Rechnung. Er bezahlt mir jede Menge Kohle für den Trip, dann kann ich es hoffentlich danach ohne Probleme ausgleichen.

Na dann freu dich doch. Reiche Stammkunden sind immer gut.

Ein Teil von ihm freute sich tatsächlich. Ein anderer Teil war immer noch ungläubig und der Rest machte sich Sorgen. Er war echt kein Wintermensch und hasste es, zu frieren. Außerdem war das eine sehr weite Reise. Meilenweit weg von zu Hause mit einem Kerl, den er ungefähr sechs Stunden kannte.

Andererseits auch ein cooles Abenteuer. Wenn sie wirklich zum Südpol flogen, ... was sollten sie da überhaupt machen? Iglus bauen? Gab es dort Hotels? Davon hatte er noch nie gehört.

Er legte das Handy auf den Küchentresen, damit es ihn nicht weiter ablenkte, und konzentrierte sich wieder auf seine Übungen. Wenn der reiche Keanu schon auf ihn zurückkam, und sie dieses Mal genug Zeit hatten, um sich eingehender miteinander zu beschäftigen, dann wollte er ihm auch zeigen, dass er das Geld wert war.

 

Jeden Tag rechnete Johann mit einer Absage. Die Rechnung für die Schneestiefel und alles andere hatte er sorgsam aufbewahrt. Dann kam der letzte Tag vor dem Flug und so langsam stieg die Nervosität in ihm auf.

Morgen um zwanzig nach sechs würde er in der Halle des Flughafens stehen. Der Koffer wartete schon gepackt am Fußende des Bettes.

Johann warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen herrschte Matschwetter. Es war nicht warm genug, um an den Frühling zu glauben, aber auch nicht kalt genug für einen richtigen Wintertag. Schade, dass sie nicht zu irgendwelchen Sonnenstränden flogen.

Da fiel ihm ein, dass er noch eine Abwesenheitsnotiz in seinem E-Mail-Postfach einstellen musste. Wer wusste schon, ob es in der Antarktis Internetempfang gab.

Gerade, als er sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, um mit der Arbeit zu beginnen, klingelte das Handy.

Johann warf dem kleinen Gerät einen genervten Blick zu. Es war sein Vater.

„Was gibt’s?“, meldete er sich, versuchte gar nicht erst, zu verbergen, dass er keine Lust auf ein Gespräch hatte.

„Deine Mutter möchte wissen, ob du mit zu Rudis Geburtstag kommst.“

„Ich bin ab morgen für acht Tage nicht da. Also eher nicht.“

„Nicht da? Wo bist du denn?“

„Beruflich unterwegs.“ Johann legte das Smartphone neben sich auf den Tisch und stellte den Lautsprecher an, damit er das abfällige Schnaufen seines Vaters nicht direkt am Ohr hatte.

„Lass doch den Blödsinn, Junge.“

„Wieso denn? Ich folge nur deiner Empfehlung. Dir kann man es auch nicht recht machen.“ Es fühlte sich gut an, ihm das unter die Nase zu reiben. Sein Vater hasste es, dass er die Escort-Sache durchzog.

„Rudi hat damit nichts zu tun.“

„Stimmt, ich wäre auch gekommen, aber ich bin nicht da. Nächstes Jahr dann wieder.“ Er würde sich sicherlich nicht den Auftrag, der ihn vor der Kündigung rettete, durch die Lappen gehen lassen, um einen Abend lang mit ihren Nachbarn Chicken Wings zu essen.

Keanu war vielleicht der Schlüssel zu dem Erfolg, den er sich wünschte, seit er sich mit seinen Eltern zerstritten hatte.

Irgendwelche Männer zu beglücken ist das Einzige, zu dem du gut bist!

Er würde diesen Satz nie vergessen.

Ja, er war gut darin. So gut, dass er einen Haufen Geld damit machen und in ein paar Jahren einen ganz anderen Standard leben würde. So gut, dass ihn jemand mit in den Urlaub nehmen wollte.

„Ehrlich, Johann, wie lange willst du dieses Spiel noch spielen?“ Die Stimme seines Vaters verlor nie ihre typische Grobheit, aber jetzt klang er beinahe versöhnlich. Er schien wirklich zu denken, dass er das nur machte, um ihn zu ärgern. Wie ein Zwölfjähriger, der sich im Krieg mit seinen Eltern befand.

Ein Stück weit war es genau so. Aber es machte ihm auch Spaß. Er mochte Sex und er mochte es, in die Rolle des Verführers zu schlüpfen. Meistens jedenfalls. Er würde nicht einfach aufgeben und ins Büro zurückkehren, nur weil sein Vater genug davon hatte. Er wollte weitermachen. So richtig erfolgreich werden. Und zum Südpol fliegen.

„Es ist kein Spiel. Es ist meine Arbeit, und die nehme ich ernst.“

Wieder ein Schnauben. Dann war der Anruf weg und ein Tuten kam aus dem Lautsprecher.

Nun wussten wenigstens alle Bescheid, die es zu interessieren hatte.

 

In dieser Nacht fiel das Einschlafen schwer. Erinnerungen an den Abend auf der Feier tanzten durch seinen Kopf und spannen sich in unendlich viele Richtungen fort. Auch die Mutmaßungen der Jungs schwirrten immer wieder vorbei. Vorspiel, Prinzipien, vielleicht Schüchternheit. So oder so ... in den acht Tagen würden sie das überwinden.

Er würde diesem Kerl den Urlaub seines Lebens bescheren. Den Südpol zum Glühen bringen. Johann grinste über seinen eigenen dummen Witz und drehte sich auf die andere Seite. Eigentlich konnten sie nicht so viel ficken, wie diese Reise kostete. Vorhin hatte er mal nach einem Hotel in der Antarktis gegoogelt und die „Angebote“ hatten ihn fast vom Stuhl kippen lassen. So ein Trip konnte um die 80.000 Euro kosten – und der Kerl bezahlte ja nicht nur seinen Teil dieser Kosten mit, sondern auch noch den Preis der Agentur. Das war hart. Er müsste 24 Stunden am Tag an Keanus Schwanz lutschen, und es würde trotzdem noch lange nicht reichen, um das auszugleichen. Verrückt, einfach verrückt.

Keanu hatte so zurückhaltend gewirkt. Nicht wie jemand, der auf so einen Marathon-Blowjob stand. Er war der nachdenkliche Typ Mann, der minutenlang in die Ferne starrte und unheimlich melancholisch dabei aussah. Das hatte was ... vor allem, wenn man so ein angenehm geschnittenes Gesicht besaß. Es gab wirklich Schlimmeres, als einem schönen Mann beim Grübeln zuzusehen und ihm nachts das Bett zu wärmen.

Am Südpol. Darüber würde er nie fertigwerden.

 

Johann traf früher am Flughafen ein, als verabredet. Seine Schritte hallten laut durch die Eingangshalle. Das Ding war riesig. So viel Glas und Metall. Warteinseln aus Bänken und Tischchen und jeder Menge großer Pflanzen hießen ihn willkommen.

Uniformierte Menschen wuselten hinter den Info- und Buchungsschaltern herum. Obwohl es früh am Morgen war, herrschte reger Betrieb.

Johann versuchte, sich nicht zu sehr davon beeindrucken zu lassen. Er nahm auf einer der Bänke platz und klemmte sich den Koffer zwischen die Beine. Sein Blick glitt zu den Tafeln, die die Ankunfts- und Abreisezeiten der Flüge verkündeten.

Aus den Lautsprechern drang eine weibliche Stimme, die Ansagen zu den einzelnen Flügen machte und hin und wieder Sicherheitshinweise streute. Gepäck nicht unbeaufsichtigt lassen und wo das Rauchen erlaubt war und so weiter.

Er kam sich jetzt schon sehr international vor. Dabei hatte er das Land zuletzt verlassen, als er zehn gewesen war. Belgien-Urlaub mit seinen Eltern. Er erinnerte sich an einen grandiosen, riesigen Spielplatz, auf dem er Stunden verbracht hatte, aber an viel mehr nicht.

Urlaub hatten sie sich meistens nicht leisten können. Wenn, dann nur innerhalb Deutschlands.

Sie waren nie arm gewesen, aber auch weit entfernt davon, große Sprünge zu machen. Wahrscheinlich hatte sein Vater deswegen immer so darauf gedrängt, dass er ‚was aus sich machte‘.

Aber dafür war er letztendlich nicht gut genug gewesen. Jedenfalls nicht auf diesem Weg. Dieser Neue, den er jetzt ging, hatte ihn immerhin bis hierher geführt. Und er hatte ihm einen neuen Reisepass beschert. Das hatte zum Einsteigs-Drumherum der Agentur gehört.

Johann schaute auf die Uhr. Wie bei jedem seiner Jobs hatte er eine Armbanduhr angelegt. Das wirkte edler, als ständig aufs Handy zu schauen. Solche Details waren wichtig. Seine Kunden bezahlten für etwas Edles. Oder für etwas, das sie zumindest dafür halten konnten.

Entsprechend viel Zeit hatte er auch heute in die Vorbereitung gesteckt. Er hatte sich frisch rasiert, die Haare gestylt und eine gute Stunde in die Überlegung gesteckt, was er anziehen sollte. In einer dicken Daunenjacke sah niemand besonders sexy aus, aber die würde er ja erst überziehen, wenn sie das Ziel erreichten.

Im Moment lag sie neben ihm auf der Bank.

Immer, wenn er zu den Drehtüren blickte, und jemand Neues hereinkam, lief ihm ein kleiner Schauer über den Rücken. Das war die Aufregung, gemischt mit einer Prise Lampenfieber. Immerhin war das hier sein größter „Auftrag“ seit er ins Escort-Geschäft eingestiegen war.

Jemandem nicht nur für einen Abend oder eine Nacht zur Verfügung zu stehen, sondern durchgehend für mehrere Tage – das war neu. Auf seinen anderen Treffen hatte er immer eine Art Rolle gespielt. Den Verführer. Das hübsche Accessoire. Was genau er für Keanu auf dieser Reise sein musste ... tja, das war wohl das Erste, das er herausfinden sollte.

Als Johann das nächste Mal aufschaute, war es, als hätte er irgendwie gespürt, dass Keanu sich näherte. Gerade betrat er die Halle. Keanu sah gut aus. Hellwach, kein bisschen zerknittert. Die dunklen Haare waren ordentlich zurückgekämmt, ein grüner, halblanger Wollmantel mit Kragen schmiegte sich um seine breiten Schultern. Den Koffer schob er neben sich her. Das Ding war lautlos ... keine Spur von Quietschen, so wie bei seinem – der Grund, weswegen er ihn getragen hatte.

Johann erhob sich, um seinen Kunden zu begrüßen.

„Schönen guten Morgen“, sagte er und schenkte Keanu ein Lächeln. Ab jetzt begann der Job.

Der Blick aus den braunen Augen streifte ihn nur kurz. Noch kürzer als bei ihrem ersten Treffen. Und da schien er auch eher seine Kleidung als sein Gesicht begutachtet zu haben.

Vielleicht gebot das der Anstand. Vielleicht war der Gute auch tatsächlich schüchtern.

„Morgen“, kam es schließlich zurück. „Wartest du schon lange?“

„Ich warte schon mein ganzes Leben auf eine Reise in die Antarktis.“ Johann grinste. Ein bisschen hoffte er, dass Keanu ihm mehr über diesen Trip verraten würde. Was er dort unternehmen wollte und was der Anlass so einer ungewöhnlichen Reise war, zum Beispiel. Aber er hielt seine Zunge im Zaum. Er war kein Schulkind auf einem Ausflug. Keanu würde ihm die Dinge, die wichtig waren, sicherlich von selbst offenbaren.

Er legte sich die Jacke über den Arm und nahm seinen Koffer.

„Interessierst du dich für den Südpol?“

Johann lief schräg hinter Keanu, damit der sie beide anführen konnte.

„Ich hab was für besondere Orte übrig“, erwiderte er diplomatisch. Ehrlich gesagt wäre so ein Strandurlaub schon eine nette Sache gewesen. Da hätte er sich ihm auch viel besser präsentieren können ... „Ich meine, wann hat man schon die Gelegenheit, in die Antarktis zu reisen? Dafür möchte ich mich jetzt schon mal bedanken. Ich freue mich wirklich, dass ich dich begleiten darf.“

Keanu nickte nur, sah ihn aber nicht an. Musste er so auf die Schilder und Beschriftungen achten, um den richtigen Weg durch den Flughafen zu finden? Kannte sich so ein Geschäftsmann wie er nicht blind hier aus?

Gedanklich machte Johann einen weiteren Strich in der Spalte für Schüchternheit und hakte die Sache ab. Wäre er jemand gewesen, der über ein fehlendes ‚Gern geschehen‘ nach einem Danke, sauer war, hätte er diesen Job nicht machen können.

Sie traten an eines der Pulte und er ließ Keanu die Dinge regeln. Tickets wanderten von Hand zu Hand, wurden gescannt. Johann zog seinen Pass aus der Tasche und reichte ihn Keanu.

Während sie eincheckten, sich selbst und das Gepäck durchleuchten ließen und dann im Wartebereich platz nahmen, herrschte Funkstille zwischen ihnen. Johann wollte sich nicht aufdrängen. Er nutzte die Zeit vor allem, um zu beobachten.

Keanu wirkte heute anders als auf der Feier ... er konnte nur nicht genau sagen, was es war. Ruhiger – ja, das auf jeden Fall, aber sie waren hier ja auch nicht von Familie und Bekannten umgeben. Er hatte hier keine Verpflichtungen. Die Stille schien ihm auch nicht unangenehm zu sein. Keanu wirkte nicht wie jemand, der händeringend nach einem passenden Smalltalk-Thema suchte. Normalerweise wussten Leute wie er auch ohnehin gut genug, wie das ging.

Also begnügte Johann sich damit, neben ihm zu sitzen und sich unauffällig umzuschauen.

„Hast du ausreichend warme Schuhe dabei?“, fragte Keanu nach einer Weile und besah sich seine Stiefel.

„Die sind nur für den Weg vom Flughafen zur Unterkunft. In meinem Koffer sind richtig warme Schneestiefel. Hätte ich sie direkt anziehen sollen?“, erkundigte er sich.

„Nein, schon gut. Ich wollte nur sicher sein. Wir machen den einen oder anderen Ausflug und kalte Füße sind was Furchtbares.“

„Vor allem im Bett“, sagte Johann und hätte die Worte am liebsten wieder in seinen Mund zurückgestopft, als er sah, dass jede Regung in Keanus Gesicht ausblieb. Er grinste nicht, er verzog nicht den Mund – gar nichts. War das zu plump gewesen? „Ausflug klingt gut“, meinte er dann und räusperte sich. „Ich bin echt gespannt. Solche Landschaften kennt man ja nur aus dem Fernsehen. Darf ich fragen, ob du schon mal da warst?“

Nun stellte er doch eine Frage, um von seinem weniger gut platzierten Kommentar abzulenken.

„Nein. War ich noch nicht.“

Johann nickte. Viel mehr bekam er aus Keanu nicht heraus. Stille kehrte wieder ein, und als sie eine ganze Weile später in das Flugzeug stiegen, spürte Johann bereits, dass diese Reise eine ganz besondere Herausforderung werden würde ...