Kapitel 13

Auf einmal waren so viele Bilder in seinem Kopf. Johanns Worte und der Klang seiner Stimme hatten sie gemalt und nun wurde er sie nicht mehr los.

In seiner Hose wurde es warm und eng, als er vor sich sah, wie Johann Hand an sich selbst anlegte und seinen Ständer anschließend wieder fein säuberlich in der Jeans verstaute, um zum Kunden zurückzukehren.

Es kam ihm falsch vor, auf einmal so erregt zu sein. Vorhin hatte er noch über Oli gesprochen und jetzt ... Nein, vielleicht war es gut so.

Er sah Johann an, der ihn mit funkelnden, aufmerksamen Augen musterte. Er konnte ihm ansehen, dass er auf etwas wartete. Dass er bereit war. Bis jetzt hatte er seinem Angebot weder zugestimmt, noch es abgelehnt.

„Würdest du dich für mich ausziehen?“

Seine Stimme gehörte ihm nicht mehr. Dieser raue Klang war ihm fremd geworden. Weit weg.

„Du musst nicht so höflich zu mir sein“, sagte Johann und stand mit einem Grinsen vom Sofa auf. „Sag mir gerade heraus, was du willst.“ Er zog sich den Pullover und das darunterliegende Thermoshirt über den Kopf und warf es beiseite.

Eine hübsche Beule formte sich unter dem Hosenstoff ab. Johann öffnete den Gürtel, den Knopf, dann den Reißverschluss. In einer einzigen, fließenden Bewegung entledigte er sich der Hose, stand ohne jegliche Anzeichen von Scham vor ihm. Sein Körper war wunderschön. Die Bauchmuskeln zeichneten sich ganz sanft unter der Haut ab, Johanns Nabel war eine niedliche kleine Mulde, der Intimbereich sauber rasiert.

Wenn er die Hand ausgestreckt hätte, hätte er ihn berühren können. Aber gerade jetzt beschlich ihn eine Angst, die ihn davon abhielt, genau das zu tun. Er sah ihn nur an und spürte die Hitze in seinem Schoß wachsen.

Johann neigte den Kopf zur Seite und ließ die Hände über seinen eigenen Körper gleiten. Wie ein lebendig gewordener Werbespot. Keanus Blick folgte den Bewegungen. Es war unmöglich, wegzuschauen.

Er wusste, dass er hätte aufstehen und Sex mit ihm haben können. Hier und jetzt, einfach so. Der Gedanke war wahnsinnig verlockend und verstärkte die Hitze in seinem Schoß. Aber er trug auch eine Angst huckepack, die dafür sorgte, dass er sich nicht bewegte. Er blieb sitzen, schaute nur zu und fühlte, wie sein Körper darauf reagierte.

Vielleicht konnte Johann seinen inneren Kampf sehen. Seine Züge waren sanft unter der aufglimmenden Erregung.

„Fangen wir ganz langsam an, hm?“ Er lächelte und schloss die Hand um den Schaft. Vor seinen Augen begann er, es sich selbst zu machen. Langsam und aufreizend.

Keanu schluckte. Zuerst schaute er nur zu, aber schon nach ein paar Sekunden hielt er es nicht mehr aus. Fahrig öffnete er seine eigene Hose und befreite sich aus der Enge des Stoffs, der ihn zurückhielt.

Ganz am Anfang war ihm selbst das schwergefallen. Jede Art von sexueller Erregung hatte ihn sofort an jene Nacht erinnert. Aber ein Körper war ein Körper und mit der Zeit hatte er eingefordert, was er brauchte, auch wenn er es oft sehr lieblos abgehandelt hatte. Einfach nur den Druck ablassen, damit es aufhörte.

Wirklich Appetit zu haben, hatte er sich monatelang nicht zugestanden. Und jetzt saß er hier und konnte nicht anders, als sich anzufassen. Weil der Mann vor ihm ihn dazu einlud und ihm das Gefühl gab, dass es einfach war. Dieses Mal war es seine Angst, die gelähmt war. Sie hielt ihn nicht auf.

Keanu leckte sich über die Lippen. Er betrachtete nicht nur Johanns Hand bei ihrer Arbeit, sondern auch sein Gesicht. Wie ihm die Haare ins Gesicht fielen, als er an sich hinabschaute, und wie sich seine Lippen zu einem neckenden Lächeln verzogen, wenn er seinen Blick auffing.

Sie musterten sich gegenseitig. Obwohl sie es getrennt voneinander machten, fühlte es sich wie etwas Gemeinsames an. Johann atmete schnell und immer öfter kam auch ein leises Stöhnen über seine Lippen. Es klang nicht übertrieben oder gespielt. Seine erregte Stimme drang ihm bis unter die Haut. Sein Blick ...

Keanu keuchte. Der Griff seiner Finger wurde fester. Er schloss die Augen und das heftige Prickeln seines Höhepunktes übermannte ihn. So viel mehr als bloße Erleichterung. Er genoss den Moment, wie er ihn lange nicht mehr genossen hatte. Das Kitzeln in seinen Adern und das Gefühl, wenn das Ziehen im Unterleib nachließ.

Als er blinzelte, sah er noch, wie Johann sich den eigenen Saft von der Hand leckte. Ein verschmitztes Grinsen traf ihn. Keanus Blick wanderte zu seinem eigenen Schoß. Er musste die Hose saubermachen.

Mit der unbefleckten Hand zog er sie sich aus und erhob sich, um damit ins Bad zu gehen. Mit eiligen Schritten verschwand er aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.

Das angenehme Prickeln in seiner Brust passte nicht ganz zu der Hektik in seinen Füßen. Wo wollte er denn hin? Keanu stieß den Atem aus und legte die Hose über das Waschbecken. Sorgsam reinigte er den Stoff an den Stellen, die etwas abbekommen hatten und versuchte, nebenbei seine Gedanken zu sortieren.

Es war ein Schritt nach vorn. Er hatte Sex gehabt, ohne mittendrin abbrechen zu müssen. Sex im weitesten Sinne. Ein intimes Erlebnis.

Nachdem die Hose ihre Behandlung bekommen hatte, wusch Keanu sich noch Hände und Gesicht und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück. Johann stand – noch immer nackt – vor dem Bett und strahlte ihn an. Er sagte jedoch nichts und ging nur an ihm vorbei ins Bad.

Was für ein seltsames Arrangement.

Normalerweise war er es gewohnt, dass Leute gingen, wenn man seinen Spaß miteinander gehabt hatte. Selbst Oli war damals am nächsten Morgen gegangen wie alle anderen. Aber Johann würde hierbleiben. Vor ihnen lagen noch mehrere gemeinsame Tage. Kein Gedanke, der ihn störte.

Keanu nahm sein Handy vom Nachtschrank und überprüfte die Nachrichten. Es gab nichts Neues. Ganz oben in der Liste stand immer noch sein Chat mit Johann. Das Foto mit den Pinguinen.

Er flirtet mit dir.

Vielleicht würde er dank Johann wirklich nach Hause zurückkehren und neu anfangen können. Jemanden treffen, den seine Kühle nicht störte, und sich nach und nach wieder wie ein normaler Mann fühlen. Sich neu verlieben. Vielleicht konnte er irgendwann wieder glücklich sein.

Danke für das Foto , tippte er, obwohl diese Nachricht natürlich Tage zu spät kam.

„Oh, hab ich gern gemacht“, sagte Johann und schloss die Badezimmertür hinter sich. Er war wieder komplett angezogen und hielt das Smartphone in der Hand.

„Ich hab auch eins vom Eisklettern ... wenn du möchtest.“ Er schaute kurz zu ihm und dann wieder auf das Display.

Augenblicke später erschien ein neues Foto auf seinem Handy. Darauf war er selbst zu sehen, wie er an der gefrorenen Wand des Eisbergs hing, sein Körper komplett unter Spannung und der Blick nach oben gerichtet.

„Ich fand dich so beeindruckend, dass ich es festhalten musste. Ein Video wäre wahrscheinlich besser gewesen, aber so geistesgegenwärtig war ich nicht. Und es ging ja auch so schon ganz schön auf die Arme bei mir.“

Johann lächelte und setzte sich auf den Stuhl, der am Schreibtisch neben dem Bett stand.

Das Foto war überraschend gut für einen Schnappschuss. Sein Gesichtsausdruck wirkte so ... entschlossen. In diesem Moment hatte er nicht an die Vergangenheit gedacht, sondern an das, was direkt vor ihm lag. Oder über ihm.

„Ist das okay, dass ich dich einfach fotografiert hab? Ich hab in dem Moment nicht drüber nachgedacht. Und fürs Fragen hätte mir wahrscheinlich eh die Puste gefehlt.“

„Ich freu mich über das Foto“, erwiderte er. „Aber ich habe keins, mit dem ich mich revanchieren kann.“

„Das ist besser so. Ich sah sicher auch nicht annähernd so heroisch aus wie du. Eher das andere Wort mit h: hilflos.“

Keanu hob die Mundwinkel. Irgendwie tat es ihm dennoch leid, dass er Johann keine Erinnerung von diesem Tag schicken konnte.

„Du hast dich doch gut geschlagen für einen Anfänger. Ich würde beim Yoga auch nicht so routiniert aussehen wie du.“

„Das können wir ausprobieren. Ich kann dir ein paar Übungen zeigen.“

Über Yoga hatte er schon einige Male nachgedacht. Im Büro war das vor einer Weile mal aufgekommen. Eine Chance gegeben hatte er der Sache trotzdem nie. Keanu sah sich um. „Hier ist ein bisschen wenig Platz dafür, schätze ich.“

„Oh, du hast keine Ahnung“, sagte Johann und lachte. „Du müsstest meine Wohnung sehen. Die ist zwar nicht rund, aber trotzdem zu klein für gefühlt alles . Hier ist genug Platz, wenn jeder auf eine Seite vom Bett geht.“ Er deutete auf den Boden. „Ich kann dir gerne was zeigen ... wenn das nicht einfach nur eine Ausrede war.“

„Ausrede?“

„Yoga ist halt nicht so ein männlicher Sport wie Fußball oder Klettern“, sagte Johann trocken. „Was auch immer einen Sport männlich oder weiblich macht.“

„Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen.“ Keanu bezog neben dem Bett Stellung und schaute Johann abwartend an. „Was muss ich machen?“ Es hieß ja, dass Yoga den Kopf frei machte oder eine beruhigende Wirkung hatte. Ein paar Übungen zu beherrschen, würde ganz sicher nicht bei seinem Neuanfang schaden.

„Okay, cool.“ Johann grinste und ging auf die andere Seite. „Also erst mal die Beine ein gutes Stück auseinander, in eine Art Ausfallschritt.“ Keanu tat, was Johann sagte. „Hüfte und Schultern gerade, Hände ans Becken. Dein rechtes Knie muss senkrecht über dem Sprunggelenk stehen.“

Keanu runzelte die Stirn und versuchte, nacheinander alle Anweisungen umzusetzen. Dabei warf er einen Blick nach drüben, wo Johann dieselbe Übung ebenfalls durchführte.

„Noch weiter auseinander, die Beine.“ Johann hatte gar nicht rübergeschaut. „Eigentlich bräuchten wir Matten, damit wir nicht wegrutschen und so, aber ich schätze, die gehören hier nicht zur Grundausstattung.“

Seine untere Körperhälfte war angenehm gespannt. Er mochte den Zug in den Beinen und die Kraft, die durch seine Muskeln floss, wenn er sie so beanspruchte.

„Okay, und jetzt die Arme gerade nach oben strecken. Den unteren Rücken langmachen und den Brustkorb öffnen.“

Keanu versuchte, der Anleitung zu folgen. Allerdings hatte er keine Ahnung, was ‚den Brustkorb öffnen‘ bedeutete.

„Das ist eine Kriegerposition“, erklärte Johann und drehte den Kopf. „Bleib so, ich helf dir kurz, wenn ich darf.“

Er kam ums Bett herum und berührte sein rechtes Knie. „Nicht nach innen knicken lassen. Immer mittig.“ Sanft schob er sein Bein etwas nach außen. Dann fasste er nach seinem Becken. Die Berührung prickelte. Johanns Hände waren sanft, aber wiesen ihm mit Nachdruck die Richtung. „Genau. Und das linke Bein lang und gerade. Drück die Füße richtig in den Boden. Daraus soll man die Kraft ziehen. In den Körper rein quasi. Klingt ein bisschen esoterisch, aber es hilft beim Entspannen, finde ich.“

Johanns gut gelaunte Stimme an seinem Ohr brachte seine Nackenhärchen zum Tanzen, obwohl Keanu versuchte, sich auf seine Füße und den Boden zu konzentrieren.

„Ich kann’s nicht anders sagen ... Wette verloren – sieht leider ziemlich perfekt bei dir aus.“

Keanu musste lachen. Es war nur ein kleiner Moment, als wäre der Laut durch seine Barrikaden hindurchgeschlüpft. Der kurze Ausbruch sprengte die Konzentration und die Spannung in seinen Muskeln. Keanu kippte gegen das Bett und fing sich darauf ab.

„Okay, das war nicht ganz so elegant. Normalerweise gehen wir in den herabschauenden Hund, bevor wir es auflösen.“ Die seriöse Lehrerstimme hatte Johann gut drauf. „Ich schätze, ein toller Körper sieht in jeder Sportart gut aus. Halten wir das einfach für die Wissenschaft fest.“

„Deine Ausführung hatte sicher mehr Schliff als meine. Wir müssten das von einem Yoga-Lehrer beurteilen lassen. Alles andere ist sehr subjektiv.“

Johann ließ sich neben ihn aufs Bett fallen.

„Ich hab keinen Yoga-Lehrer. Ich mach alles mit YouTube-Videos.“

„Ach so.“

Als ob das so einfach wäre. Johanns Ausbruch von gestern fiel ihm wieder ein. Geld zu haben oder eben nicht zu haben, beeinflusste die Möglichkeiten, die sich einem boten doch stärker, als ihm bewusst war. Natürlich wusste er diese Dinge. Zum Beispiel, dass Yogalehrer Geld kosteten und YouTube-Tutorials gratis waren. Aber diese Lebensrealität war nicht so gegenwärtig in seinem Kopf. In seiner Welt war es egal, ob der Yoga-Lehrer 80 Euro die Stunde kostete oder 180.

Es war nicht so einfach , sobald es um Geld ging.

Aber ... es war einfach, hier neben Johann zu liegen und sich nicht mehr ganz so bedrückt zu fühlen. Nach allem, was sie heute getan hatten, füllte eine ungewohnte Leichtigkeit seinen Körper aus. Er fühlte sich ein bisschen lebendiger.

„Danke, dass du dein Wissen mit mir geteilt hast. Vielleicht gucke ich mir auch mal ein paar Videos an. Ich muss mindestens noch herausfinden, was der herabschauende Hund ist.“

 

*

 

Es klang komisch, aber es kam ihm vor, als hätte die kleine Nummer von vorhin bei Keanu einen Schalter umgelegt. Er wirkte viel offener und auch lebendiger, seit er aus dem Bad zurückgekehrt war, redete mehr, hatte sogar gelacht. Es war wie ein Zauber.

Selbst beim Abendessen mit den anderen erzählte er etwas mehr als sonst und beteiligte sich an den Gesprächen. Johann saß daneben und beobachtete die kleine Verwandlung voller Faszination. Wenn ein bisschen Handarbeit das konnte, was würde wohl passieren, wenn sie den wirklich fest sitzenden Knoten lösten?

Johann aß und hörte zu und beobachtete. Er nahm sich absichtlich zurück, um Keanu den Raum zu geben, der ihm eigentlich von Anfang an gehört hatte. Als das Gesprächsthema sich auf Autos verlagerte, hatte er ohnehin nichts mehr beizutragen. Mit einem Mal fühlte sich alles so vollkommen natürlich an, wie er es von Anfang an erwartet hatte: Reiche Leute redeten über reiche Themen.

Als Barry ihn nach seiner Vorliebe fragte, lächelte er entschuldigend. „Ich gehe lieber zu Fuß.“

„Ich bewundere dein Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein. Ich versuche ihn schon so lange für ein elektrisches Auto zu begeistern ...“

Johann schmunzelte in sich hinein. Natürlich gingen sie davon aus, dass es eine ganz bewusste Entscheidung gegen den Luxus eines PKW war. Wer wäre auch gern jederzeit mobil?

Von dort aus wurde es nur noch schwieriger und Johann kämpfte gegen das Bedürfnis an, sein Smartphone herauszuziehen und sich damit abzulenken. Reiches Gerede war ihm von seinem Job zwar vertraut, aber eine so geballte Ladung war doch etwas schwierig zu verarbeiten. Vor allem, weil diese Leute nicht so redeten, um vor ihm anzugeben, sondern weil sie glaubten, sie seien unter sich.

„Wir ziehen uns dann langsam zurück“, hörte er Keanu sagen. Barry protestierte, aber Ginger besänftigte ihn.

„Die jungen Herrschaften haben sicher noch etwas Besseres mit ihrem Abend vor, als dir beim Reden zuzuhören, Liebling. Wir sehen uns morgen, ihr beiden. Habt eine gute Nachtruhe.“

Ein wenig verwundert folgte Johann ihm nach draußen.

„Wir hätten noch bleiben können“, sagte er.

„Das geht alles von unserer Vorlesezeit ab.“

Keanu sagte das so schlicht und klar, dass Johann schmunzeln musste. Dass ihm ihr kleines Ritual tatsächlich wichtig war, bewegte etwas in ihm. Er dachte daran, Keanu zu umarmen. Einfach so – ohne richtigen Grund. Aber das hätte wohl irgendwie unangemessen gewirkt.

Bald fand er sich neben Keanu im Bett wieder, zog die Beine an und lehnte das aufgeschlagene Buch dagegen. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde ging weiter und während seine Stimme sie beide durch die Kapitel trug, glitt sein Blick immer wieder zu Keanu.

Anfangs lag er auf dem Rücken und schaute zur Decke, dann drehte er sich auf die Seite, von ihm weg – wahrscheinlich in der Absicht, tatsächlich einzuschlafen. Johann lauschte zwischen seinen Worten auf Keanus Atemzüge, um nicht zu viel ohne ihn zu lesen, doch er schien die ganze Zeit wach zu sein, also machte er weiter.

Irgendwann drehte Keanu sich wieder um, dieses Mal zu ihm hin. Seine Augen waren geschlossen, die Miene ruhig. Keine aufgesetzte Ruhe. Seine Züge wirkten entspannt und Johann ertappte sich dabei, wie er sein Gesicht auf eine ganz neue Weise studierte.

Damit er beim Lesen nicht stolperte, sprach er ein bisschen langsamer. All das passierte wie von selbst, während er Keanus dunkle Augenbrauen musterte, die geschlossenen Lider, seine Wangen, die Form seiner Nasenflügel, das blasse Rosa seiner Lippen und die Stoppeln, die sein Kinn übersäten.

Johann hatte schon viele Gesichter betrachtet. Stundenlang teilweise. Details in ihnen gesucht, die ihn von den drögen Gesprächen ablenkten. Bei einem hatte er sogar angefangen, die Wimpern zu zählen, weil ihn die Hin und Her zuckenden Pupillen halb wahnsinnig gemacht hatten.

Manche hatte er objektiv betrachtet für attraktiv befunden. Aber bei niemandem hatte er dieses Urteil auch wirklich gefühlt. Für sich selbst. Ganz privat. Vielleicht, weil sie sich automatisch disqualifizierten. Selbst die erträglichen und netten waren am Ende Kunden.

Wenn du anfängst, sie an dich ranzulassen, wird es schwierig. Denn dann trifft dich auch ihre Kritik. Wenn sie nur Kunden sind, dann ist das, was du tust nur eine Dienstleistung. So hältst du nicht nur Beruf und Privates getrennt, sondern auch deine Seele rein.

Das war einer der Ratschläge, die ihm Ken gegeben hatte, Bernds bestes Pferd im Agentur-Stall. Der Crashkurs hatte den Einstieg erleichtert. Dennoch war es ein Sprung ins kalte Wasser gewesen. In sehr kaltes Wasser.

Aber es war sicher gut so.

Hätte er jemanden wie Keanu als seinen ersten Kunden gehabt, jemanden der mit ihm umging, als stünden sie auf Augenhöhe, dann hätte er ein falsches Bild von dieser Welt bekommen, in die er sich da begeben hatte. Keanu war eine angenehme Ausnahme. Nicht die Norm.

Deswegen war es vielleicht auch okay, ihn nicht wie einen Kunden anzusehen. Wahrscheinlich war es für diesen Versuch sowieso schon zu spät. Er wusste etwas über ihn, das über käufliche Intimität weit hinausging. Er wusste, was ihn verletzt hatte. Er hatte ihm nicht nur die Narbe gezeigt, die jeder sehen konnte, der etwas länger hinsah, sondern das Messer, das ihn geschnitten hatte. Und die Angst, mit der er lebte.

Vor ihm lag ein Mann, der viel nackter war, als er es jemals gewesen war, vor niemandem. Egal ob bezahlt oder nicht. Er hätte den ganzen Tag unbekleidet vor Keanu herumtanzen und mit dem Hintern wackeln können und hätte doch nie so viel von sich gezeigt.

Es gab ja auch nichts. In dieser Hinsicht war sein Leben doch ziemlich entspannt gewesen. Keine Messer. Keine Todesfälle. Keine großen Dramen. Die Auseinandersetzung mit seinen Eltern war nicht sehr viel anders als in jeder dritten oder vierten anderen Familie. Das würde sich irgendwann von selbst klären. Eine der beiden Parteien würde einknicken. Wenn er mit Keanu zurückkehrte und der tatsächlich ein Lob aussprach und ihn gut bewertete, würde das seine akuten Probleme vorerst mildern und das Geld für den Job würde ihm etwas Zeit verschaffen.

Vielleicht würde es noch einen oder zwei Monate dauern, aber letztendlich würde sein Vater sich entschuldigen.

Ein leises Schnarchen riss ihn aus den Gedanken. Johann zuckte. Wann hatte er aufgehört, vorzulesen? Vorhin hatte er noch umgeblättert und darauf geachtet, den Satz flüssig fortzusetzen.

Seine Augen suchten nach der Stelle. Ja, da irgendwo. Oben auf Seite 169. Er merkte sich die Zahl, klappte das Buch zu und legte es beiseite. Dann schaltete er die Lampe aus und rutschte an seinem Kissen hinab in eine liegende Position.

Bevor er die Augen schloss, sah er noch einmal zu Keanu. Bis jetzt schlief er ganz friedlich. Vielleicht würde er heute Nacht ja ganz normale Dinge träumen. Oder sogar etwas Positives. Kaum vorstellbar, dass in diesem Unterbewusstsein nur finstere Dinge zu finden waren.

Mit diesem stummen Wunsch für Keanu zog Johann die Decke über seine Schulter und gab der einkehrenden Müdigkeit nach.