Kapitel 16

Johann stand am Fenster und schaute hinaus. Es war Nacht, aber da immer noch der Polartag über diesen Teil der Erde herrschte, war die Wüste aus Schnee und Eis hell erleuchtet.

Es hatte aufgehört zu schneien. Irgendwann, während sie beim Abendessen gesessen hatten.

„Ab morgen wird es nochmal sportlich“, sagte Keanu, der schon auf dem Bett saß.

„Oh, echt?“ Er zog die Vorhänge zu und kniete sich auf die Matratze.

„Wir machen einen zweitägigen Snow-Kite-Kurs.“

„Ist das das, wo man mit Skiern oder Snowboard von so einem Gleitschirm gezogen wird?“

„Ja.“ Keanu schmunzelte. Johann spürte selbst, dass sich eine kindliche Begeisterung auf sein Gesicht stahl. Das klang echt zu gut. „Warst du schon mal Skifahren?“

„Nein.“

„Gut, es ist wahrscheinlich sowieso vollkommen anders.“

Johann lachte. „Ich freu mich sehr darauf.“ Seine Gedanken füllten sich mit Bildern aus Film und Fernsehen, während er versuchte, sich vorzustellen, wie das sein musste, wenn man so schwerelos über den Schnee düste.

Dann bremste ein Gedanke seine Euphorie. Nach diesen zwei Tagen stand bereits der Abflug vor der Tür. Ob Keanu und er es vorher noch schaffen würden, ihr Ziel zu erreichen?

Er zog Hose und Shirt aus und stieg ins Bett.

Wenn er an vorhin dachte, regte sich etwas in ihm. Johann zog die Decke sicherheitshalber bis zur Hüfte. Er war wirklich bereit gewesen. Aber Keanu nicht. Nicht genug. Sie würden es sicher nochmal versuchen. Oh Mann, wann war er zuletzt wirklich scharf auf einen Kunden gewesen?

Johann nahm sein Handy in die Hand, weil Keanu dasselbe tat.

Du schreibst gar nichts mehr. Konntest du dein Problem lösen?

Diegos Nachricht war schon ein paar Stunden alt.

Er konnte ihn nicht in alle Details einweihen. Aber anlügen wollte er ihn auch nicht. Also schrieb er: Meine Karriere ist nicht mehr in Gefahr. Danke für deine Tipps.

Das sollte reichen. Verstohlen warf er einen Blick auf den Mann neben sich.

Er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der ihn so sehr zum Nachdenken brachte. Das, was er vorhin gesagt hatte ... die Narbe an seinem Arm. Dieses Bild. Das ging ihm die ganze Zeit durch den Kopf.

Aber auch ihre Umarmung. Als Keanu sie erwidert hatte, war er so froh gewesen, so erleichtert, obwohl er gleichzeitig auch seine Verzweiflung gefühlt hatte. Seine Schwäche. Es war verrückt und durcheinander und wenn er so darüber nachdachte, klang dieses Chaos nicht nach etwas, das man sich wünschen würde – aber ... irgendwie tat er es trotzdem.

Er wollte noch mehr Umarmungen. Aber jetzt – einfach so – ging es nicht. Vorhin war es okay gewesen, weil es der Endpunkt für ihren Versuch gewesen war. Eine stille Übereinkunft und das Versprechen, dass es nichts machte.

Er konnte sich nicht einfach so an Keanu schmiegen. Vielleicht, wenn er wieder schlecht träumte. Aber sich das zu wünschen, wäre unfair gewesen. Warum dachte er sowas überhaupt?

Johann wischt sich übers Gesicht und legte das Handy beiseite.

„Ob wir das noch schaffen, bevor wir abreisen?“

Verwundert wandte Johann den Kopf. Dass Keanu es so offen ansprechen würde – damit hatte er nicht gerechnet. Sein Herz geriet ins Stolpern. Wollte er es jetzt gleich nochmal versuchen? „Bestimmt. Ich meine ... wir ...“ Während er so vor sich hin stammelte und Keanu anschaute, fiel ihm auf, dass dessen Blick kurz über seine Schulter huschte. Dorthin, wo der Nachtschrank stand. Dorthin, wo das Buch lag, aus dem sie jeden Abend lasen.

Er meinte nicht den Sex.

Er meinte das Buch.

Johann stieß ein Lachen aus, das zwei Nummern zu überdreht klang, und drehte sich um. So fühlte sich das also an, wenn man rot vor Scham wurde. „Wir müssen halt dranbleiben.“ Hoffentlich hörte sich das halbwegs so an, als hätte er den Satz von Anfang an so beenden wollen. „Das einzige Hindernis könnte unsere Müdigkeit nach der sportlichen Betätigung sein.“ Er räusperte sich und schlug die Seite auf, auf der es weiterging.

 

*

 

Am nächsten Tag fuhren sie raus. Bis zu einer weiten Wüste aus Schnee und Eis. Dort parkte ihr Truck. Ihr Guide Steven prüfte den Wind, ehe er ihnen lächelnd den erhobenen Daumen zeigte und damit begann, die Ausrüstung auszuladen.

Heute war er fast ein bisschen aufgeregt. Viele Sportarten hatte er schon ausprobiert – Snow-Kiting noch nie. Neugier regte sich in ihm, als Steven die Schirme ausrollte.

Keanus Blick fiel auf Johann, der staunend dastand und die Snowboards musterte. Kindliche Begeisterung funkelte in seinen Augen und rang Keanu ein kleines Lächeln ab. Es war doch irgendwie schön, dass er jemandem so eine Freude mit diesem Urlaub machen konnte. Dass er Johann auch etwas geben konnte, das ihm in Erinnerung blieb. Etwas anderes als die bloße Arbeit. Auch wenn er oft lächelte und sagte, dass er es gerne machte – am Ende der Welt jeden Abend einem Fremden aus einem Buch vorzulesen, beim Essen jedes Mal so tun zu müssen, als sei man jemand anders und seinen Körper für eine Art therapeutisches Experiment herzugeben: Johann würde seine Tage sicher anders gestalten, wenn er die Wahl hätte.

Mit Freunden in Clubs, oder mit einer Pizza bei Leuten, die wussten, wer er war und woher er kam – und die ihn dafür nicht komisch angesehen hätten. In seiner Welt. Da konnte er auch Sex mit Typen haben, die normal waren.

„Zuerst müsst ihr lernen, den Schirm wie einen Drachen zu kontrollieren. Er ist euer Werkzeug zum Beschleunigen, Bremsen und Lenken.“

„Das wird so cool“, sagte Johann. „Ich hoffe, ich kriege das hin. Als Kind war ich nicht so gut im Drachensteigen ...“

„Das wird schon. Wir haben ja Steven, der uns anleitet. Drachen waren früher auch nicht so mein Ding. Ich mochte lieber Skateboards.“

„Echt? Du hast geskatet?“

„Nur eine kurze Zeit lang. Ich durfte das Board zwar besitzen, aber nur auf dem Hof des Internats damit fahren. Auf gerade Ebene hin und her sozusagen.“ Keanu schüttelte den Kopf. „War nicht unbedingt das, was ich mir vorstellte. Ich bin also nur in den Ferien gefahren, wenn ich zu Hause sein durfte. Im nächsten Schuljahr war es wieder vergessen, weil ich nicht regelmäßig genug üben konnte. Der Fußball hat es abgelöst – das durften wir auch dort spielen.“

„Verstehe. Dabei ist Fußball ja echt ziemlich anders.“

„Es war auch erst kein guter Ersatz. Aber ich mochte die Bewegung und ... ein paar der Jungs.“ Seine Mundwinkel zuckten, als Johann ihn angrinste. „Ich hab ja schon erzählt, dass ich brav war. Aber geguckt habe ich trotzdem gerne, keine Frage.“

„Ich wünschte, ich wäre da gewesen. Ich hätte dich schon überzeugt, dass du kein braver Junge bist. Und wir hätten es gut geheimgehalten.“

Steven kam wieder zu ihnen. Die Schirme lagen jetzt ausgebreitet auf dem Boden. Es konnte losgehen. Sie unterbrachten ihre Unterhaltung, um sich Stevens Weisungen anzuhören.

Mit ein bisschen Hilfen bekamen sie die Schirme tatsächlich in die Luft. Seiner war rot, der von Johann gelb. Ab jetzt ging es darum, sich an das Gefühl zu gewöhnen und zu lernen, wie sie die Schirme kontrollierten.

Die Kraft des Windes direkt in den eigenen Händen zu halten, machte Spaß. Wenn er auf dem Brett stand, würde es sich nicht anfühlen, als ob er allein fuhr – der Wind würde immer bei ihm sein, ihm seine Kraft leihen, um über Eis und Schnee dahinzugleiten.

Mit der Zeit stand Steven immer öfter bei Johann, um ihm bei seiner Haltung zu helfen. Er schien noch ein paar Probleme mit der Koordination zu haben. Keanu beobachtete seine Versuche, den Schirm in die „Power-Zone“ zu lenken. Mit ein bisschen Hilfe gelang es ihm, aber er musste sich ordentlich reinstemmen.

Johann hatte bei den Übungen mehr zu kämpfen als er, aber das schien ihn nicht zu entmutigen. Er ließ sich immer wieder von Steven belehren und wiederholte die Übungen so oft, bis sie klappten.

„Ich hab ja gesagt, dass ich kein Naturtalent bin“, seufzte Johann, als sie sich für eine Pause auf die Ladefläche des Trucks setzten und ihre mitgebrachten Sandwiches aßen.

„Übung macht den Meister. Das mit dem Talent ist doch überbewertet. Wille und Ehrgeiz sind das, was einen Profi formt. Beim Klettern bist du auch nach und nach besser geworden.“

Johann lächelte so viel, dass es ihm sofort seltsam vorkam, wenn er den Blick senkte, so wie jetzt, und nachdenklich wurde. Eine Weile kaute er schweigend und Keanu konnte nicht aufhören, ihn anzusehen.

„Ist alles in Ordnung?“

„Sorry, ich hab nur gerade an was gedacht. Na ja. Bevor ich herkam, dachte ich, mein Naturtalent sei, Männer zu verführen. Und dann war ich mega frustriert, weil ich an dir gescheitert bin.“

Keanu neigte den Kopf. „Das kannst du nicht in die Wertung miteinbeziehen. Du wirst sicher nie wieder auf jemanden wie mich stoßen.“

Johann sah ihn an. Seine schönen Augen musterten ihn ganz offen, nahmen sich Zeit, sein Gesicht anzuschauen. Keanu spürte seinen Blick direkt auf der Haut, wie eine Berührung. Sanft und warm. Wo war der kalte Wind hin?

Das Schmunzeln kehrte auf Johanns Züge zurück, aber es wirkte fast ein bisschen traurig.

„Ja, das glaube ich auch.“

 

*

 

„Ich würde dir empfehlen, mit den Skiern anzufangen. Da hast du mehr Kontrolle.“

„Die Bretter überlasse ich euch Profis“, erwiderte Johann. Er war schon froh, dass Steven ihn überhaupt fahren lassen wollte. Das Prinzip hatte er verstanden, doch im Kampf mit dem Schirm vertauschte er manchmal immer noch die Seiten, und dann riss der Wind so unerwartet an den Schlaufen, dass er kräftig dagegenhalten musste, um nicht umgeworfen zu werden.

Während die beiden sich auf ihre Snowboards stellten, befestigte er die Ski an seinen Schuhen. Hoffentlich blamierte er sich nicht. Keanu strahlte bei allem, was er tat, so viel Ruhe und Routine aus, ... Er würde auch hierbei eine perfekte Figur machen. Ganz lässig klickte er sich das Snowboard an die Füße und ging ein wenig in die Knie, so wie Steven es ihm gezeigt hatte. Dann bewegte er den Schirm.

Keanus Blick traf seinen, bevor der Schirm ihn in eine aufrechtere Position zog und er einen Schrei von sich gab, der Johann die Augen aufreißen ließ. Dann fuhr Keanu einfach davon.

Okay, er musste auch losfahren. Johann richtete sich auf und schaute hilfesuchend zu Steven.

„Ein bisschen runterziehen. In die Powerzone. Nur nicht zu weit. Zum Anhalten wieder senkrecht, denk dran.“

Johann nickte. Klang ja simpel. Etwas entfernt surfte Keanu wie ein Profi über den Schnee. Oh Mann, er war wirklich gut darin. Es sah so einfach aus!

Entschlossen lenkte er den Schirm etwas tiefer, damit er sich in den Wind legte. Auf einmal ging die Fahrt los. Beinahe ein bisschen zu leicht glitten seine Ski über den Boden. Als stünde er auf einem Laufband oder so. Eins, das ziemlich schnell an Tempo zulegte.

„Okay, okay, okay“, rief er aus und wusste nicht, wen er damit meinte. Den Wind, oder Steven oder sich selbst ... egal ... er fuhr! Nein, er snow-kitete. Johann lachte und schloss die Finger noch etwas fester um die Schlaufen des Schirms. Zuerst konnte er nur nach oben starren, aber bald wurde ihm klar, dass das eine schlechte Idee war.

Die Landschaft um sie herum war ihm vorher schon endlos erschienen. Jetzt bewies sie, dass sie es wirklich war. Egal, wie weit Keanu fuhr, egal wie weit er ihm folgte – die Welt ging hinter dem Horizont immer weiter.

Diese Weite, diese Freiheit ... irgendwie schien sie in ihn hineinzufließen, je länger er sie betrachtete. Es fühlte sich an, als würde alles in ihm mehr Platz zum Atmen haben. Seine Gedanken, seine Gefühle, seine Erinnerungen.

Bald dachte er nicht mehr an den Schirm und das Lenken. Nur noch an den Horizont und an Keanu, dessen Gesicht er zwar nicht erkennen konnte, weil er ihn nur als Silhouette in der Entfernung sah, aber dessen Lachen und euphorische Rufe der Wind immer wieder an seine Ohren trug.

Eine tiefe Zufriedenheit wärmte Johann von innen. Und als ihm wieder der Gedanke kam, dass er das noch bei keinem Kunden so empfunden hatte, durchdrang ihn die Antwort wie das Sonnenlicht eine dünne Schneedecke.

Du warst auch noch in keinen Kunden verknallt.