Kapitel 17

Laufen fühlte sich nach diesem Tag wirklich seltsam langsam und schwerfällig an. Nach dem Abendessen noch mehr als zuvor schon. Es war eine angenehme, zufriedene Trägheit, die sich da in ihm breitmachte.

Doch Erschöpfung war nicht alles, was das Snow-Kiting in ihm hinterlassen hatte. Er fühlte sich besser. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte er laut gelacht, sich richtig ... von sich selbst gelöst.

„Und morgen nochmal?“, fragte Johann, der hinter ihnen die Tür schloss. Kleidung raschelte.

„So ist der Plan.“

„Ich habe gelesen, dass das Gehirn Neugelerntes im Schlaf erst richtig verarbeitet. Vielleicht bin ich morgen dann doppelt so gut wie heute und kann auch das Snowboard ausprobieren. Oder ... ich bin eigentlich besser, aber sehe schlechter aus, weil ich den Muskelkater des Todes haben werde. Ich merk’s jetzt schon in den Schultern.“

„Hattest du Spaß?“

„Definitiv. Das war so ziemlich das Coolste, was ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren gemacht habe. Auch wenn die Pinguine dem Ganzen ein wenig Konkurrenz machen.“

Keanu öffnete den Schrank und nahm die Schlafsachen heraus. Jetzt noch eine Dusche und dann eine entspannte Nacht. Apropos Dusche ... würden sie wieder zusammen ...? Er warf einen Blick zu Johann, der ihn gut gelaunt anlächelte, aber dieses Mal keine Einladung aussprechen zu wollen schien.

Keanu zögerte einen Moment. Sollte er die Initiative ergreifen? Aber ... vielleicht war es auch besser, wenn sie es dabei beließen. Johann hatte ihn dazu ermutigt, ihn als eine Art Trainingspartner zu betrachten. Jemanden, vor dem er sich nicht schämen oder schlecht fühlen musste, wenn es nicht klappte. Viel leichter gesagt, als getan.

Sein kleiner Zusammenbruch gestern war ihm verdammt peinlich gewesen. Wie etwas so Einfaches – etwas, das man sogar wirklich dringend wollte – so unmöglich sein konnte, würde wahrscheinlich niemand verstehen, der nicht genau das erlebt hatte. Er war in diesem Moment so frustriert und verloren gewesen, bewegungsunfähig von seiner eigenen Unzulänglichkeit. Dann hatte Johann ihn einfach umarmt und all die Schichten seiner Wut, Scham und Traurigkeit beiseitegewischt.

Als Keanu den Kopf hob und wieder in der Wirklichkeit ankam, rauschte nebenan schon das Wasser. Ob Johann noch etwas zu ihm gesagt hatte, wusste er nicht.

„Ach scheiße“, murmelte Keanu und setzte sich aufs Bett. Er hörte den Geräuschen von nebenan zu und war sich fast sicher, dass Johann die Tür nicht abgeschlossen hatte. Sollte er doch noch hinterher?

Johann war wahrscheinlich auch jetzt vorbereitet. Dass es für ihn scheinbar normal war, jederzeit damit zu rechnen, dass es losging , hatte ihn ein bisschen geschockt. Wo hatte er das Kondom hergezaubert?

Unwillkürlich sah er Johanns nackten Rücken wieder vor sich. Die Aussicht, die sich ihm bot, wenn er nach unten schaute. Die Tropfen, die an Johanns Wirbelsäule hinab liefen und zwischen seinen perfekten Pobacken verschwanden. Er hätte ihn nur noch nehmen müssen.

Keanu schluckte. Er war hart. Seine Hand glitt zwischen seine Beine, als ob er sich selbst nicht glaubte. Dabei war das ja schon lange nicht mehr das Problem.

Das Geräusch des Wassers erstarb, bevor er sich dazu durchgerungen hatte, aufzustehen und seine Chance zu ergreifen. Keanu legte sich das zusammengefaltete Handtuch auf den Schoß, damit Johann beim Herauskommen nicht sah, dass er hier mit einem Ständer auf ihn gewartet hatte. Das machte alles nur noch peinlicher.

Als das Bad frei wurde, huschte er hinein und schloss die Tür hinter sich. Sobald das Wasser lief und seine kühle Haut erwärmte, glitten seine Hände ganz von allein dorthin, wo er es brauchte. Doch dann stockte er.

Der Abend war noch nicht vorbei ... wenn sie nachher wieder im Bett lagen und Johann dort einen neuen Versuch unternehmen wollte, ihm zu helfen ...

Keanu hielt die Luft an und zog die Hände weg.

„Was willst du? Entscheide dich mal“, murmelte er zu sich selbst. Wenn er seinen inzwischen ziemlich erhitzten Körper fragte, dann war die Antwort klar. Natürlich wollte er lieber Johann, als die Sache hier mit sich selbst auszumachen.

Keanu biss sich auf die Unterlippe und schob seine Ängste beiseite. Dann ging es eben nochmal schief. Johann hatte es schon miterlebt. Was machte ein weiteres Mal schon aus?

Die Dusche fiel sehr kurz aus. Keanu spülte sich wirklich nur den Schweiß vom Körper und trat wieder heraus, um sich abzutrocknen. Eilig schlüpfte er in den Pyjama. Alles zog ihn zurück ins Schlafzimmer, und als er es endlich wieder betrat und sein Blick auf Johann fiel, der so entspannt auf dem Bett lag und an seinem Handy tippte, kam er sich vor wie ein Tier.

Keanu stieg ins Bett und zog die Decke über sich. Der Zweifel war schon wieder zurück, aber sein Körper immer noch heiß.

Johann legte das Smartphone zur Seite und wandte sich ihm zu. Er lächelte dieses beiläufig verführerische Lächeln und in seinen Augen lag dieses Zwinkern. Konnte er ihm ansehen, was er dachte?

Gleichzeitig wirkte er ein bisschen schüchtern, so als sei er sich nicht sicher. Was für eine Sammlung an Unsicherheiten, die hier gerade in diesem Bett lag.

Keanu streckte die Hand aus und berührte Johanns Schulter. Diese einfache Geste schien alles zu sein, was er brauchte. Lächelnd rückte er zu ihm heran, überwand den Abstand zwischen ihnen, als sei da nichts, und kam seinem Gesicht so nahe, dass Keanu die Augen schließen wollte, um seinen Kuss zu fühlen.

Doch die Lippen berührten nur sein Kinn und küssten sich dann an seinem Hals entlang. Die Wärme der Decke verschwand und wurde durch etwas anderes ersetzt. Johann kniete über ihm, ein bisschen fremd, ein bisschen vertraut.

Sofort war sein Körper wieder voll dabei. Jedes kleine Streifen an seiner Erektion brachte ihn zum Seufzen. Johann war überall.

Keanus Finger strichen durch weiche Haare, die vom Duschen noch ein bisschen feucht waren. Ein sanfter Geruch, zusammengemischt aus dem Duschgel des Hotels, dem Duft von frischer Bettwäsche und Johanns eigener Note, füllte jeden Atemzug.

Zum ersten Mal dachte er nicht darüber nach, ob er ihn anfassen sollte. Er tat es einfach. Schob sein Shirt nach oben und berührte die Haut darunter, die sich unter seinen Fingern und regen Atemzügen bewegte.

Leider entzog sie sich ihm auch wahnsinnig schnell wieder, denn Johann wanderte zielstrebig an ihm hinab, er zog den Hosenbund herunter und umfasste seinen Schwanz, als wisse er ganz genau, wie sehr alles in ihm danach drängte.

Seine Hand war schnell und packte fest zu. So viel Entschlossenheit. Keanu keuchte und wand sich durch die Welle aus kribbelnder Hitze, die seinen ganzen Körper überlief.

Obwohl er alles bekam, was er brauchte, war er voller Ungeduld. Seine Hände wollten etwas anfassen. Er wollte sich aufsetzen und Johann zu sich ziehen. Ihn küssen und seinen Atem auf der Haut spüren.

Aber er tat es nicht.

Vielleicht wäre das zu viel gewesen.

Bestimmt wäre es zu viel gewesen.

Es war nur eine Übung. Eine Hilfestellung. Peinlich wurde es erst, wenn er mehr daraus machte.

Sein eigenes, lautes Stöhnen löschte all seine Gedanken aus. Ein verzweifeltes Geräusch aus Angst und Sehnsucht. Auf einmal war er viel zu weit, um sich aufzuhalten. Er hatte sich selbst überholt. Eine bittersüße Welle aus gelöschtem Feuer überspülte ihn, kribbelnd, heiß und kalt.

Schwer atmend und ein bisschen fassungslos lag Keanu da, krallte die Hände ins Laken, und erbebte unter den feuchten Liebkosungen in seinem Schoß. Johann blieb so lange bei ihm wie das Prickeln in seinem Schoß, löste sich erst, als die Welt ihre Farbe zurückbekam.

Mit erhitzten Wangen und einem feuchten Glänzen auf den Lippen grinste er ihm entgegen. Keanu wusste nicht, was er sagen sollte. Danke oder gut gemacht oder ... Oh Gott, ich dachte nicht, dass das möglich ist ... das war alles so unsagbar dämlich, dass er gar nicht erst Atem daran verschwendete.

Johann schien auch so zu wissen, wie glücklich und erleichtert er war. Es war nicht ganz das Ziel, das sie sich gesetzt hatten, aber ein großer Schritt auf dem Weg dorthin. Er hatte keine Sekunde mehr an seine Angst gedacht. Nur den Moment gefühlt. Nur Johann.

„Danke.“ Das hatte er doch schon als dämlich abgehakt ...

„Das Vergnügen war ganz meinerseits.“

Keanu legte sich auf die Seite und betrachtete den Mann vor sich. Die Aussicht war noch immer verlockend. Johanns Hitze spürte er bis hierher. Keanu wollte nach ihm greifen, aber genau da drehte Johann sich zum Nachtschrank und nahm das Buch in die Hände.

Er hatte wohl beschlossen, dass sie fertig waren.

Wollte Johann nicht, dass er sich revanchierte? Ein wenig unschlüssig lag er da und sah zu, wie Johann das Buch aufschlug und die Seiten umblätterte, bis er an der richtigen Stelle angekommen war. Das sanfte Rascheln des Papiers hatte etwas Beruhigendes. Keanu ließ sich wieder auf den Rücken sinken und seufzte.

Vielleicht ging das, was er wollte, zu weit.

Unerwartet viel Enttäuschung legte sich über die anfängliche Euphorie. Es ergab keinen Sinn. Keanu schloss die Augen.

 

*

 

Ich hab einen Fehler gemacht , schrieb er an Diego. Inzwischen war es spät und Keanu schlief. Er selbst war müde, aber verdammt wach.

Was denn? Hast du ihn gebissen? Ist der Eiszapfen abgebrochen?

Scheinbar hatte Diego einen guten Tag gehabt. Ich hab mich verknallt.

Alter ...

Ich weiß.

Weißt du nicht, sonst würdest du solche Scheiße nicht anfangen.

Ist ja nicht so, als hätte ich das mit Absicht gemacht. Ich hab keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich schau ihn an und bin ganz woanders. Vorhin hätte ich ihn fast geküsst.

Ihr seid ja bald fertig, oder?

Die Frage zog an ihm wie bleierne Gewichte. Ja, wir reisen bald ab. Morgen ist der letzte volle Tag.

Mach bis dahin noch deinen Job, Dienst nach Vorschrift, nicht mehr! Und mach dir währenddessen klar, was ihr seid. Bevor du auf dumme Ideen kommst: Ihr seid Kunde und Escort. Ihr seid nichts mehr, wenn das endet.

Diego schrieb selten so viel, und dass er es tat, gab jedem einzelnen Wort noch mehr Bedeutung. Das waren Erfahrungen. Die Wahrheit. Es stimmte ja. Er hatte vollkommen Recht. Es gab keinen Grund, anzunehmen, dass Keanu mehr in ihm sehen könnte. Natürlich schenkte er ihm Aufmerksamkeit – er war der einzige andere Mensch hier. Außerdem war Keanu höflich, das hieß aber noch lange nicht, dass das etwas bedeutete . Es war eigentlich nur normal. Er war es nur nicht gewohnt. Scheiße, seine Realität war einfach vollkommen verzerrt.

Sorry, wenn dich das trifft, aber du brauchst das, damit du dich nicht noch mehr da reinsteigerst. Genieß den Urlaub, nimm mit, was du kannst, fick ihm das Hirn raus, aber dann vergiss ihn.

Johann musterte den schlafenden Mann neben sich und ließ das Handy auf seinen Schoß sinken. Was hätte Keanu getan, wenn er ihn einfach geküsst hätte? Vielleicht hätte er geglaubt, dass es einfach zum Service gehörte. Er konnte ja nicht wissen, dass er die Kunden nie von sich aus küsste. Aber vielleicht hätte er gespürt, dass da mehr war.

Gut, dass er sich davon abgehalten hatte.

Gut, dass er nicht erfahren würde, wie es sich anfühlte. Dann konnte ihn die Erinnerung daran auch nicht verrückt machen. Alles richtig gemacht. Er konnte froh sein. Nur noch morgen und ein halber Tag, in dem sie nur in Flugzeugen saßen, dann war es geschafft.

Du hast Recht , tippte er, damit Diego ihn nicht für einen undankbaren Arsch hielt. Ich versuch’s.

Viel Erfolg.