Kapitel 19

Das Bett war so unfassbar bequem. Johann stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ sich in das Kissen sinken. Nachdem Harry ihn untersucht hatte, fiel auch das letzte Bisschen Anspannung von ihm ab. Es gab zwar keinen Arzt im Team, aber ein paar der Leute waren für solche Fälle ausgebildet. Wäre es akut gewesen, hätte er heute noch in einen Flieger steigen müssen und alles wäre noch schneller vorbei gewesen. Johann war erleichtert, dass er noch eine Nacht bleiben konnte.

Die Hüfte war geprellt und er würde einen tollen Bluterguss bekommen, den Knöchel hatte er sich ordentlich umgeknickt, aber gebrochen schien nichts zu sein. Außerdem hatte er sich eine leichte Unterkühlung zugezogen. Deswegen holte Keanu gerade warmen Tee und Suppe von nebenan.

Oh Mann.

Er hatte wirklich für einen Moment gedacht, dass es vorbei war. Dass er einfach dort liegen und erfrieren würde. Er konnte froh sein, dass Keanu ihn im Auge behalten hatte. Dass er ihn hatte finden können. Im Gegensatz zu seinem Schirm. Der hatte die Chance genutzt und führte jetzt ein Leben in Freiheit.

Johann gluckste. Vielleicht hatte die Kälte irgendwas mit seinem Hirn gemacht.

Vorhin, da hatte er sich ganz schön verplappert. Hoffentlich legte Keanu das als reine Dankbarkeit aus und nicht so, wie er es gemeint hatte. Es war so oder so Blödsinn. Er hatte ihn ja nicht. Das konnte er gar nicht. Er war nur froh, gerettet worden zu sein.

Aber was hatte Keanu ihm sagen wollen? Wahrscheinlich irgendwas in der Art, dass es ihn mitgenommen hätte, wenn er tatsächlich erfroren wäre. Wenn der Typ, mit dem gemeinsam er sein Trauma bekämpft hatte, auf einmal auch starb.

Johann schüttelte den Kopf über diesen grausamen Gedanken. Selbst wenn sie kein Liebespaar waren, wäre das furchtbar für Keanu gewesen. Wie war er auf die Idee gekommen, sich so zu übernehmen? Mit seinem Leichtsinn hatte er mehr riskiert, als ihm bewusst gewesen war.

Keanu war wieder da. Die Jacke raschelte, Schuhe rumpelten, dann tauchte er in der Schlafzimmertür auf, eine große Schüssel und eine Thermoskanne in den Armen.

„Das riecht unfassbar gut“, kommentierte Keanu. „Und extra für dich gekocht.“ Er lächelte. Mit einem Mal schien es ihm leicht zu fallen, oder? Wann war das passiert?

Du solltest das öfter machen. Wieder ein paar Worte, die er nicht aussprechen durfte. Aber sie stimmten. Keanu wurde noch attraktiver, wenn er lächelte. Es war schon fast unfair.

Er stellte die Thermoskanne auf den Nachtschrank, wo auch das Buch lag.

„Soll ich aufstehen?“

„Nein, bleib liegen. Harry hat gesagt, du sollst dich ausruhen und wenig bewegen.“

Keanu war süß. Oh Mann, das hörte nicht mehr auf. Sicher, dass er keine Gehirnerschütterung hatte? Der Aufprall hatte irgendwas gelockert. Die Schrauben seiner Selbstkontrolle. Dass er nicht einfach alles direkt ausplapperte, war noch das Beste.

„Ich hab mich nur verkühlt ... ich lag ja nicht im Koma oder so.“

„Trotzdem.“

Keanu stellte ihm die Schüssel auf den Schoß und reichte ihm einen Löffel.

Die Suppe roch wirklich lecker. Nach Huhn und Karotte und Basilikum und noch einigem mehr. Keanu musste ihn nicht erst dazu auffordern, sie zu probieren.

Wohlig warm breitete sich der perfekt komponierte Geschmack in seinem Mund aus. Hühnersuppe war immer gut, vor allem wenn man krank war, aber diese war tatsächlich nochmal etwas Besonderes. Klar, die hatten hier ja auch eine Sterneköchin. Sowas würde er nie wieder bekommen.

„Ich soll dir von den anderen Besserungswünsche ausrichten.“

„Danke, das ist nett.“

„Ich gehe schnell duschen. Wenn du was brauchst, dann ruf mich, okay?“

„Sicher, aber ich bin gut gerüstet für die nächsten sieben Minuten.“ Er grinste und aß weiter.

Wie das wohl war, mit jemandem zusammenzuleben? Mit einem Partner? Ungefähr so vielleicht. Johann seufzte. Er konnte Keanu nicht haben, aber vielleicht konnte er diese seltsame Sehnsucht als Anstoß nehmen, um sein Leben ein bisschen umzuräumen. Platz für so jemanden zu schaffen.

Wenn er zurückkam, würde er sich nach neuen Perspektiven umsehen, die Escort-Sache nur noch so lange fortführen, bis er eine Alternative hatte. Es würde sich kurz wie eine Niederlage anfühlen, dafür wappnete er sich schon. Aber letztendlich war es ehrlicher. Er hatte das nur so forciert, weil er wütend gewesen war. Frustriert. Und weil er vielleicht auch ein bisschen den Glauben an sich selbst verloren hatte.

Die Schüssel leerte sich zusehends. Er hatte ganz schönen Kohldampf gehabt, aber alles schaffte er trotzdem nicht. Noch ein Schluck Tee, dann sank er wieder in die Matratze und drehte sich auf die Seite, damit er die Badezimmertür im Auge behalten konnte.

Eigentlich hätte ja heute das Finale stattfinden müssen. Ihre letzte gemeinsame Nacht. Sie hätten es nochmal versuchen können ... Er hätte ihm wirklich gern über diese Schwelle geholfen. Ihn ganz nah bei sich gespürt und ihm gezeigt, dass nichts Schlimmes passierte. Dass er sich sicher fühlen konnte.

Er wusste, dass er das jetzt gar nicht erst zu versuchen brauchte. Sex war schließlich auch Bewegung. Anstrengung. Er wollte sich diesen letzten Abend nicht mit einer Zurückweisung kaputtmachen.

Keanus Körper dampfte noch ein bisschen, als er aus dem Bad kam. Er wandte ihm den Rücken zu, während er in seinen Pyjama stieg.

„Wie geht es dir jetzt?“

„Gut. Warm und satt.“

Keanu kam ins Bett und zog die Decke über sich.

Das allein reichte, um wieder neue Gedanken heraufzubeschwören, die er loswerden wollte. Wie gerne er näher an ihn herangerückt wäre. Oder dass er es bereute, ihn gestern nicht einfach geküsst zu haben. Jetzt ging es nicht mehr, weil der Kontext, in dem das gefahrlos möglich war, fehlte.

„Was ... ähm ... wird eigentlich aus dem Schirm, den ich verloren habe?“ Es war die dümmste Frage, die ihm einfiel. Er wollte einfach nur irgendetwas sagen, um zu verhindern, dass sie jetzt schliefen. Und alles war besser, als die Worte, die ihm sonst so im Kopf herumschwirrten.

„Du hast ihm die Freiheit geschenkt. Vielleicht hast du jetzt einen Wunsch frei. Ich müsste das erst mal googeln.“

Johann schmunzelte. „Wie viel kostet sowas?“

„Ist doch egal. Wenn sie dir das in Rechnung stellen, dann ruf mich an, ich gleiche es aus. Meine Nummer hast du ja.“

„Ja“, murmelte er. Er hatte die Nummer. Er könnte ihn anrufen. Für so etwas.

Keanu lag da, den Kopf auf den Arm gestützt und betrachtete ihn. Immer noch mit einem kleinen Hauch Besorgnis, aber inzwischen vor allem mit Zufriedenheit. Vielleicht wollte er auch , dass der Abend noch länger ging.

„Ich bin dir wirklich dankbar“, sagte er nach einer Weile. „Es war vielleicht eine ungewöhnliche Woche und du hattest es schwer mit mir, aber ich bin sehr froh, dass du durchgehalten hast und dass alles so gelaufen ist. Ich fühle mich besser. Wieder mehr bereit für die Arbeit und den Alltag und ...“ Neue Männer? „Alles andere.“ Keanus Blick schweifte in die Ferne. „Ich habe diese Reise zwar genau deswegen gemacht, aber ich habe nicht wirklich daran geglaubt, dass sie mir helfen würde. Ich dachte schon im Flugzeug, dass ich mir etwas vormache. Als ob die pure Distanz etwas bringen würde ...“ Er schüttelte den Kopf.

„Der Weg, den man gehen muss, liegt wahrscheinlich eher innen. In einem selbst“, sagte Johann. Vermutlich war der Sturz auch für diese plötzliche Weisheit verantwortlich.

„Ja. Ich brauchte einfach jemanden, der mit mir geht.“

Oh Mann, wenn er weiter solche Dinge sagte ... Johann biss sich auf die Lippe.

„Ich hab auch ein paar Sachen gelernt“, sagte er. „Also nicht nur, dass nicht alle Kunden Wichser sind, ... auch über mich. Ich hab viel nachdenken können. Dinge anders betrachten können. Wahrscheinlich ist es das, was die Leute immer ‚Tapetenwechsel‘ nennen. Eine andere Umgebung stößt andere Gedanken an ... oder so.“ Er lächelte. „Und ich hab viel erlebt. Viel Spaß gehabt. Na ja, und das heute war die Prise Abenteuer, die noch fehlte. Sowas kann man später gut als Anekdote verwenden.“

„Ja, das ist wahrscheinlich besser als: ‚Ich habe mal 6.000 Pinguine in freier Wildbahn gesehen‘. Da muss man dabei gewesen sein.“

„Zum Glück war ich dabei.“ Okay, er konnte nicht anders. Wenn Keanu so nah war, wenn das ihr letzter Abend war und dann sowieso alles vorbei ... „Wäre es okay, wenn ich zu dir rüber rutsche und mich so noch ein bisschen wärme?“

In Keanus Miene zeichnete sich Überraschung ab, keine Ablehnung. Er rückte ein Stück nach hinten und hob seine Decke an. Mehr Aufforderung brauchte Johann nicht. Mit einem heftigen Kribbeln im Bauch kroch er heran und lehnte sich gegen den Mann, von dem er eigentlich hatte Abstand halten wollen. Er war zu schwach für Diegos Regeln. Aber scheiß drauf. Jetzt gerade machte es ihn glücklich.

Keanu legte sanft den Arm um ihn. Er roch nach Geborgenheit, Mut und Stärke. Johann schloss die Augen und schmiegte sich an ihn. Keiner sagte mehr etwas, aber das war auch okay. Er konnte jetzt schlafen.

 

*

 

Mit gemischten Gefühlen ließ Keanu sich in den Sitz sinken. Nun saßen sie wieder im Flieger nach Hause, zurück in die alte Welt, die er noch vor einer Woche unbedingt hatte hinter sich lassen wollen.

Jetzt war alles ein bisschen anders. Er freute sich auf zu Hause, auf Mak und die Arbeit. Natürlich hafteten auch noch Zweifel an diesen Gedanken ... hatte er wirklich genug Kraft geschöpft, oder war das nur der Moment? Würde wieder alles schwerer werden, wenn er in seinem alten Umfeld war? Er konnte es nur herausfinden.

Sein Blick fiel auf Johann, der neben ihm saß und heute Morgen auffällig still war. Vielleicht hatte er Halsschmerzen. Immerhin lächelte er, wenn sich ihre Blicke trafen, aber Keanu wurde das Gefühl nicht los, dass die Distanz zwischen ihnen wuchs.

Der Auftrag war beendet. War es das?

Keanu schloss die Finger um das Ende der Armlehne.

So wie er zurückkehrte, tat es auch Johann. In sein normales Leben, in seinen Job, zu seinen Leuten. Dass man sich nahekam, gehörte zu seiner Arbeit. Es war nichts Besonderes.

Keanu war sich sicher, dass er sein Geheimnis für sich behalten würde. Darum musste er sich keine Sorgen machen ... es gab keinen Grund für ungute Gefühle.

Und doch waren sie da.

Sein Herz war nicht kalt – es war schwer.

„Was machst du als Erstes, wenn du wieder zu Hause bist?“, fragte er.

„Einen Schal kaufen?“ Er würde seine Stimme vermissen. Und sein Lächeln.

„Guter Plan.“

Aus dem Lautsprecher kam der Hinweis zum Start und Stewardessen liefen durch die Gänge, um den Sitz der Gurte zu überprüfen. Und obwohl der Blick aus dem Fenster beim Start immer etwas Besonderes war, sah Keanu nur die Erinnerungen der letzten Tage.

 

Der Trubel der Ankunftshalle hüllte sie ein. Das Rollgeräusch von Transportkoffern, Gemurmel und Lachen von An- und Abreisenden. Zwischen ihnen beiden war alles still. Keanu suchte nach den richtigen Worten. Was sollte er sagen? Das, was er fühlte, war viel größer als ein Danke und reichte viel weiter als ein Vielleicht-sieht-man-sich-mal-wieder .

„Danke, dass ich mitkommen durfte. Das war sehr besonders für mich.“ Johanns Haltung wirkte, als wolle er auf ein Händeschütteln hinaus. So viel Zögern in seinen Augen. Die Stimme leise und beherrscht.

„Für mich auch“, erwiderte Keanu schnell. Seine Hände kribbelten. In ihm wuchs etwas, das sich anfühlte, als hätte er es wahnsinnig eilig. Etwas, das ihm das Herz bis zum Kinn springen ließ.

Er sah Johann an und wollte ihn in seine Arme schließen. Er wollte ihn an sich drücken und ihm sagen, dass er ihn gern hatte.

Er hatte ihn gern.

Sie standen immer noch voreinander. Bereit, zu gehen und doch schien jeder von ihnen auf etwas zu warten. Mit diesen Worten in seinem Kopf und seinem Herzen, kam noch etwas anderes in ihm auf. Verletzlichkeit. Das, was er fühlte, war schön, aber es konnte ihm auch wehtun. Mehr als alles andere.

Keanu schluckte.

„Also dann ... alles Gute, Keanu.“ Johann streckte ihm die Hand hin und aus einem Reflex heraus ergriff er sie. Johanns Blick wirkte unstet und obwohl Keanu seine Hand fest in die eigene geschlossen hatte, entglitt sie ihm wieder.

„Alles Gute“, hörte Keanu sich wiederholen. Es war viel zu wenig. Da war mehr, aber seine Gefühle lähmten ihn. Er konnte nur hier stehen und zusehen, wie Johann sich mit einem letzten angestrengten Lächeln abwandte und ging.