Kapitel 22

Als er am Morgen erwachte, glaubte er für ein paar Sekunden, dass er noch in der Antarktis war. Nach einem Blinzeln jedoch wurde ihm klar, dass die Zeit längst weiterlief. Er lag in Keanus Bett, und die Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, wurde ihm wieder bewusst.

Sein Herz wurde schwer, als er den Mann neben sich betrachtete. Minutenlang sah er ihm beim Schlafen zu und machte sich klar, dass es das letzte Mal war, dass er ihn so sah.

Sie hatten es geschafft, die Mauer eingerissen, die Keanu davon abgehalten hatte, jemand Neues kennenzulernen. Er brauchte keine Angst mehr davor haben, was passieren würde, wenn sie intim miteinander wurden.

Neid regte sich in ihm. Johann unterdrückte ein Seufzen und schob sich vorsichtig unter der Decke hervor. Es war Zeit, dass er ging. Er war viel zu lange geblieben und vor allem viel zu tief in das hier hineingesunken. In diese Übung. Mehr war es nie gewesen. Er hatte es selbst angeboten. Dass es so schmerzte, war seine eigene Schuld.

Während er seine Sachen vom Boden sammelte, und gegen die Erinnerung an Keanus Küsse kämpfte, entschied sich gegen eine morgendliche Dusche. Er wollte nicht riskieren, dass Keanu aufwachte. Jede Minute mehr, jedes nette Wort – und Keanu würde sich sicherlich bei ihm bedanken – würde es schlimmer machen. Es war Zeit, dass er ging.

„Hast du es so eilig?“

Ertappt erstarrte er in der Bewegung, seine Hose zu schließen. Mist, er war zu langsam gewesen. Sein schweres Herz pochte laut.

„Sorry, ich wollte dich nicht wecken. Ich ... muss nur nach Hause.“

„Ich hatte gehofft, dass wir den Morgen miteinander verbringen können.“

Johann drehte sich nicht um und tat so, als müsse er sich sehr auf das Zuknöpfen seines Hemdes konzentrieren. Warum sollte Keanu den Morgen mit ihm verbringen wollen? Aus Höflichkeit ... oder weil er inzwischen vielleicht so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen sah. Etwas in ihm zog sich zusammen.

Hoffentlich konnte er aus seiner Stimme heraushalten, wie schwer es ihm fiel.

„Ich hab heute Abend einen Kunden und muss mich noch darauf vorbereiten“, sagte er.

Wie sah Keanu jetzt aus? Es war wahnsinnig schwer, dem Drang zu widerstehen, einen Blick über die Schulter zu werfen. Dass er nicht sofort antwortete, machte Johann nervös.

Das Bettzeug raschelte. Dann stand Keanu hinter ihm.

„Was ist mit morgen? Ich würde gerne mehr Zeit mit dir verbringen.“

Johann schüttelte den Kopf. „Wieso?“ Scheiße, wenn Keanu wirklich sein Kumpel oder sowas sein wollte, dann musste er eine klare Grenze ziehen. Das würde er nicht aushalten.

„Wieso?“, wiederholte Keanu mit Verwirrung in der Stimme. „Gleich nach dem Aufstehen solche bedeutungsschweren Fragen.“ Keanus Hand legte sich auf seine Schulter und brachte ihn dazu, sich nun doch zu ihm umzudrehen.

Und da war er ... direkt vor ihm. Nackt und mit vom Schlaf zerzausten Haaren. Johann wandte den Blick ab.

„Ich laufe wohl Gefahr, mich komplett lächerlich zu machen, aber ... ich hatte den Eindruck, dass mein Interesse an dir auf Gegenseitigkeit beruht.“

Interesse an ihm?

Sein Zögern schien Keanu zu verunsichern. Das leichte Amüsement schwand aus seiner Stimme, als er weitersprach. „Du dachtest, es wäre eine Buchung.“ Immer mehr Erkenntnis floss in Keanus Worte. „Deswegen warst du so förmlich. Und ...“

War es denn keine? Johanns Hand ballte sich zur Faust. Verliebt zu sein war grausam. Dieser Reflex, in jede Geste und jedes Wort Hoffnung hineinzuinterpretieren ... fast musste er darüber lachen.

„Wir waren noch nicht fertig mit der Sache, die ich dir angeboten hatte.“

„Hast du nur deswegen mit mir geschlafen?“

Er wollte ja sagen. Er musste, wenn er sich nicht vollkommen lächerlich machen wollte. Aber es wäre die dreisteste Lüge gewesen, die er sich selbst jemals erzählt hatte. Oder jemand anderem.

„Nein“, flüsterte er.

Keanu seufzte und seine Miene sprach von purer Erleichterung. Eine warme Gänsehaut überzog Johanns Schultern. Auch die Stelle, an der Keanus Hand lag.

„Ich hätte das vielleicht klarer kommunizieren sollen“, sagte er. „Ich war nie gut in diesen Dingen. Das hat Oli übernommen.“ Er ließ die Finger kitzelnd an seinem Arm hinabfahren und nahm schließlich vorsichtig seine Hand. So vorsichtig, als wolle er ihm damit klarmachen, dass er sie jederzeit wegziehen konnte, wenn es ihm missfiel. „Ein paar Monate nach seinem Tod fingen alle an, mir mehr oder weniger subtil zu sagen, dass ich versuchen sollte, jemand anderen kennenzulernen. Ich war irgendwann so genervt davon ... wollte meinen Freunden und der Familie aber auch keine Sorgen bereiten, also habe ich dich für diese Feier gebucht, damit sie diese Sache für sich abhaken. Der Junge trifft wieder jemanden, alles gut. Ich hatte nie vor, das zu vertiefen, sowieso nicht, bevor ich nicht wieder klarkam. Mit allem, nicht nur mit dem Sex.

Und jetzt ... habe ich angefangen, jemanden kennenzulernen, und ich will nicht damit aufhören. Ich weiß kaum etwas über dich, über dein Leben abseits der Antarktis, das ist mir klar, aber ich weiß, wie ich mich mit dir fühle, und das sagt mir, dass ich es sollte.“

Sein Herz klopfte schnell. Ein Schlag für jede Silbe, die Keanu sprach. Bei den letzten Sätzen schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, das er nicht kontrollieren konnte. Sein Körper reagierte schneller als seine Gedanken. Verstand schneller, was das alles bedeutete.

„Du bist wirklich nicht gut darin“, hörte er sich sagen. Er hob den Kopf und traf Keanus Blick. Die Aufrichtigkeit und die leichte Scham in seinen Augen zu sehen, war mehr, als er brauchte. Er schlang die Arme um Keanus Nacken und brachte ihre Lippen zueinander. Dieses Mal war es Keanu, der ihn küsste. So innig, dass es sein Herz mit Sicherheit und Mut füllte. Mut, Keanu zu zeigen, wie gut er darin sein konnte.

„Ich bin ein bisschen verliebt“, gab er zu, nachdem sie sich wieder getrennt hatten. Keanus Lächeln ließ alles in ihm flattern. Er hätte ihn direkt nochmal küssen können, aber ihm fiel etwas ein. „Kann ich kurz telefonieren?“

 

Es gefiel Bernd ganz und gar nicht, dass er die Buchung canceln wollte, aber er tat es, nachdem er ein paar Mal in den Hörer gehustet hatte.

Keanu schmunzelte, als er eine große Tasse herrlich duftenden Kaffees vor ihm abstellte. „Du bist gut im Flunkern.“

„Eine der Qualitäten, die man in meinem Job braucht“, murmelte er und legte das Handy beiseite. Er fühlte sich gut damit, den Auftrag losgeworden zu sein. Sein Herz war immer noch im Freudentaumel und der Gedanke daran, heute Abend einen anderen Mann zu treffen und sich von ihm anfassen zu lassen, erzeugte nur Übelkeit.

„Ich kann nicht sagen, dass ich nicht froh darüber bin, dass du das abgesagt hast, aber wirst du keine Schwierigkeiten bekommen?“ Er setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und goss etwas Milch in seine Tasse.

„Ich kann das heute nicht.“

Keanus Blick ruhte nachdenklich auf ihm.

„Ich will dir keine Probleme machen. Ich wusste vorher, was du tust, und werde irgendwie damit klarkommen.“

Dieser Mann beeindruckte ihn immer wieder. Es berührte etwas in ihm, dass er das sagte. Weil es bedeutete, dass Keanu nicht nur ihn respektierte, sondern auch seine Entscheidungen und seine Lebensrealität. Dennoch ... er wollte nichts lieber, als es zu beenden. Am besten sofort.

„Ich werde kündigen, sobald ich etwas anderes habe. Versprochen.“

Er wollte sich nur auf diesen einen Mann konzentrieren, der jetzt vor ihm saß und dessen bloßer Anblick alles in ihm tanzen ließ. Gott, er konnte nicht glauben, dass das alles so stimmte. Sie würden Daten. Ganz offiziell. Er musste Diego schreiben. Nein, am besten schickte er ihm ein Knutsch-Selfie mit Keanu.

Johann grinste in sich hinein. Gott, er hatte gedacht, diese Gefühle zu unterdrücken und loszuwerden sei schwierig, aber sie so frei in sich wüten zu lassen, war auch ein Erlebnis ...

 

*

 

Das Licht der Februarsonne schwamm in den kleinen matschigen Pfützen, die der Regen heute Morgen hinterlassen hatte. Der Boden war nicht mehr gefroren, und die Luft noch kalt, aber sie roch bereits nach den ersten Zügen des Frühlings.

Die Rufe seiner Kameraden und das vertraute Geräusch des Fußballs, der übers Feld gekickt wurde, erfüllten Keanu mit alten und neuen Gefühlen. Zum ersten Mal fiel es ihm wieder leicht, sich ganz darauf einzulassen.

Er donnerte den Ball ins Tor und jubelte mit den anderen; er genoss die Gespräche und dummen Scherze in der Umkleide und den Duschen, und wenn er in den blauen Himmel schaute, wusste er, dass das für Oli okay war.

„Wie, du kuschelst nicht?“
„Nicht mit One-Night-Stands.“
„Wer sagt, dass ich nur eine Nacht bleibe?“

 

Er blinzelte die zwei kleinen Tränen aus seinen Augenwinkeln fort und warf sich die Sporttasche über den Rücken. Er fuhr nochmal in die Firma und traf sich mit dem Mann von der Arbeitsagentur. Die Normalität kehrte zurück.

Mak betrat den Raum, als der Mann ihn gerade verließ. Er sah gut aus, wie immer, strahlte diese Energie aus, die jeden in seiner Umlaufbahn motivierte. Vielleicht hatten seine Eltern ihn deswegen Makani genannt ... er war der Wind.

„Ein Snack?“, fragte er knapp und Keanu nickte.

Als sie in dem kleinen Café saßen, das auf halbem Weg zwischen der Firma und seiner Wohnung lag, fühlte sich das gut an. Alles war anders, aber alles war auch neu.

Gemeinsam vertilgten sie leckere Mini-Sandwiches, während Mak ihm mehr von den wichtigsten Projekten erzählte. Er hatte sich bereits eingelesen, aber die Unterlagen ersetzten kein Meeting.

Einmal mehr durchströmten ihn Dankbarkeit und Stolz. Mak war großartig. Er hatte die Firma so souverän gehändelt, als wäre es nichts. Und er hatte sich kein einziges Mal darüber beklagt, ihm nie Vorwürfe gemacht oder ein schlechtes Gefühl deswegen gegeben.

Hoffentlich konnte er genauso für ihn da sein, wenn er es irgendwann brauchte.

Nachdem Mak fertig war, erzählte er ihm von den Dingen, die er mit Gernwerth besprochen hatte. Er hatte zugestimmt, zwei jungen Männern, die allerlei Schwierigkeiten hinter sich hatten, die Chance auf einen Ausbildungsplatz anzubieten, wenn sie im Vorstellungsgespräch und beim Probearbeiten überzeugten.

Mak nickte zufrieden und schlürfte mit dem Strohhalm einen Schluck Cola.

„Und heute Abend treffe ich mich mit Johann.“

Ein fragender Ausdruck schlich sich auf das Gesicht seines Bruders. Wahrscheinlich verstand er nicht, warum er ihm das erzählte ... immerhin ging er davon aus, dass sie sich schon länger regelmäßig trafen.

Keanu seufzte. „Auf der Feier war Johann als Escort. Als meine bezahlte Begleitung. Im Urlaub auch ... ich habe ihn eingeladen, damit du beruhigt bist. Aber ... jetzt ist es tatsächlich so, dass wir uns privat treffen.“

Maks Augen wurden groß. Er blinzelte ein paar Mal und schien sich sortieren zu müssen. „Du hast früher nie ...“

„Für Gesellschaft bezahlt?“

Mak nickte. „Wir haben dich unter Druck gesetzt. Tut mir leid. Ich hab mir Sorgen gemacht. Du warst so schwermütig.“

„Es ist okay. Ohne das hätte ich ihn nicht kennengelernt.“ Er schenkte seinem Bruder ein Lächeln, um zu unterstreichen, dass er es auch so meinte, und nippte an seinem Tonic.

„Ich freue mich für dich“, sagte Mak. „Zugegeben, ich bin ein bisschen überrascht, aber ... wenn er dir deine Wärme zurückgebracht hat, dann habe ich keine Vorbehalte.“ Seine Miene wirkte aufrichtig. „Habt einen schönen Abend zusammen.“

 

*

 

Der ganze Tag war ein Wechselbad aus Gefühlen. Johann hatte versucht, sich mit Yoga auf den Boden zurückzuholen, aber das hatte nur mäßig funktioniert. Das Kribbeln war allgegenwärtig – er brauchte dafür nicht mal an Keanu zu denken.

Das mit ihnen passierte wirklich. Keanu mochte ihn. Er wollte Zeit mit ihm verbringen. Ihn richtig kennenlernen ... und so wie sich die Küsse anfühlten, war das nur der Anfang.

Als es immer schlimmer wurde, musste er jemanden anrufen. Nicht seine Eltern. Diego auch nicht. Keinen von der Agentur.

„Stornier das Ticket“, sprach er in sein Handy. Dann erzählte er Veit alles, was er loswerden wollte. Er schilderte ihm die letzte Nacht und vor allem den Morgen, wie gut sich alles anfühlte, und schwärmte geschlagene zehn Minuten, während denen Veit kaum etwas anderes tun konnte, als zustimmende Laute von sich zu geben. Trotzdem blieb er tapfer am Telefon und lieh ihm sein Ohr.

„Du bist echt durch“, stellte er schließlich fest. „Das freut mich enorm, Kleiner. Du hast es sowas von verdient. Nachdem ich nun bewiesen habe, dass mein Instinkt für dein Liebesleben gut funktioniert, lasse ich mich zu der Vorhersage hinreißen, dass das mit euch nur klappen kann.“

Oh ja, das hatte er bewiesen. Mehr als einmal sogar. Veit hatte ihm bereits vor seiner Nummer mit dem Chef gesagt, dass er ein schlechtes Gefühl bei ihm hatte. Das hatte er allerdings darauf geschoben, dass Veit generell unfassbar kritisch war.

„Ich darf’s nicht vermasseln“, sagte er.

„Wirst du schon nicht. Sei einfach du selbst.“

Er nickte, obwohl Veit das nicht sehen konnte. „Danke, dass ich dich zulabern durfte. Jetzt bist du dran.“

Veit lachte. „Alles gut, danke dir für das Angebot. Ich würde einfach hier weitermachen. Die Vorbereitungen für dieses Schaum-Ding.“