Ihr Mann machte sich Sorgen um sie.
Es war so wie immer, wenn sie wegfuhr und er Angst davor hatte, dass sie vielleicht nicht mehr zu ihm zurückkommen könnte. Robert umarmte sie, wollte sie nicht gehen lassen, doch Anna lächelte nur. Sie beruhigte ihn. Log ihn an. Sie müsse für einen Fall dringend nach Österreich, sagte sie.
Ein Klient bestehe darauf, dass sie sich persönlich darum kümmere. Sie verschwieg ihm dabei aber, um wen es sich handelte. Sie verlor kein Wort darüber, dass Bronski sie angerufen hatte, dass er wieder dabei war, durchzudrehen.
Anna küsste ihren Mann auf die Stirn und fuhr.
Mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch nach Tirol.
Robert hatte sich in all den Jahren immer noch nicht damit abgefunden, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken bereit war, sich in Gefahr zu bringen. Einfach, weil es ihr Job war.
Privatermittlerin.
Die Detektei war ihr Leben. Der Wachschutz. Zwölf starke Männer arbeiteten für sie, alle hatten Respekt vor ihr, sie war eine der wenigen Frauen in der Branche. Dass ihr Mann sie regelmäßig anflehte, vorsichtiger zu sein, nahm sie hin. Dass er ihr sagte, dass es nicht normal sei, in der Privatsphäre anderer Leute herumzuschnüffeln. Immer wieder prophezeite er ihr ein schlimmes Ende. Sie hatte mit den Clans zu tun, war für die Sicherheit an den Türen der Clubs verantwortlich, sie koordinierte alles, sie kannte Leute, die man besser nicht kennen sollte. Roberts Sorgen waren also berechtigt. Ein Jahr zuvor war sie angeschossen worden, neun Wochen hatte sie im Krankenhaus gelegen, Anna hörte trotzdem nicht auf. Sie versprach ihrem Mann, zu überleben. Immer wieder zu ihm zurückzukommen, für ihn und die Kinder ausgiebig asiatisch zu kochen, ihm mit ihren großen Detektivinnenhänden über den Rücken zu streicheln.
Robert musste sich einfach damit abfinden.
Anna konnte nicht anders.
Deshalb fuhr sie auch nach Tirol.
Bitte hilf mir , hatte Bronski gesagt.
Natürlich, hatte Anna geantwortet.
Er hatte kaum ein Wort herausbekommen.
Konnte nicht klar denken.
Wie früher war es. Als Bronski noch ein Kind war.
Der kleine Bruder.
Er war von der Schule nach Hause gekommen, Klassenkameraden hatten ihn verprügelt. Bronski hatte sich hilfesuchend an seine ältere Schwester gewandt. Immer war es so gewesen.
David und Anna.
Sie hielt die Familie zusammen, sie war dafür verantwortlich, dass Bronski nicht so endete wie Kurt. So oft war er schon knapp davor gewesen, sich fallen zu lassen und nicht mehr aufzustehen. Mit dem Saufen anzufangen, mit anderen Drogen. Aber Anna hatte es verhindert. Wegen ihr war er nach Berlin gezogen, sie hatte ihn und Mona damals dazu überredet, sie wollte ihn in der Nähe haben. Wollte für ihren Bruder da sein.
Bronski.
Eigentlich hieß er David.
Doch alle nannten ihn beim Nachnamen. Auch Anna.
Irgendwer hatte irgendwann damit begonnen, und dabei war es dann geblieben. Weil David es so wollte. Bronski klang härter, weniger verletzlich als David. Unnahbarer. Ein ganzes Leben lang schon versteckte er sich hinter seinem Namen. Anna hatte sich zwar immer darüber gewundert, aber sie hatte es nie in Frage gestellt. Er hatte sogar Mona dazu gebracht, ihn die meiste Zeit so zu nennen. Nur wenn sie allein waren, sagte sie David zu ihm. So wie Anna.
Wenn sie ganz zu ihm durchdringen wollte.
Bleib bitte ganz ruhig, David.
Wir werden herausfinden, was dahintersteckt.
Anna hatte eindringlich ins Telefon geflüstert.
Er drohte wieder in dem Loch zu verschwinden, in das er vor knapp zwanzig Jahren gefallen war. In dem Moment, in dem Anna den Hörer abgehoben und die Stimme ihres Bruders gehört hatte, wusste sie, dass es etwas damit zu tun haben musste. Bronski musste es gar nicht aussprechen, Anna hatte es gespürt.
Der Schmerz war wieder da. Die ganze alte Geschichte.
Ich habe etwas gefunden, hatte Bronski gesagt.
In der Geldtasche einer Toten.
Und Anna hörte zu.
Völlig wahnsinnig klang es, was Bronski erzählte.
Trotzdem kommentierte sie es nicht, sie machte sich Notizen, versuchte einfach nur seine Gedanken zu ordnen.
Eine verlassene Wohnung.
Die Leiche ohne Kopf.
Ein Foto in einer Geldtasche.
Es ist Judith, hatte Bronski gesagt.
Das Baby auf dem Foto.
Zuerst wollte Anna es nicht glauben.
Kurz zweifelte sie. Obwohl sie es immer gewesen war, die ihm erklärt hatte, dass er die Hoffnung nicht aufgeben durfte.
Dein kleines Mädchen lebt, hatte sie immer gesagt.
Anna hatte es nicht ertragen, ihren Bruder so zu sehen. Im Innersten verletzt. So traurig, dass er sich manchmal kaum bewegen konnte. Unerträglich waren diese Tage und Wochen, in denen die Vergangenheit auf ihn einschlug. Nur Annas Worte sorgten dafür, dass er weiterhin funktionierte.
Irgendwann wirst du sie wieder in den Arm nehmen.
Wir werden eine Spur von ihr finden.
Du darfst nicht aufhören zu hoffen, David.
Anna beschwor ihn. Auch wenn sie manchmal selbst nicht mehr an das glaubte, was sie ihrem Bruder einbläute, sie blieb dabei.
Und ihr Starrsinn wurde belohnt.
Plötzlich passierte es. Da war eine Spur.
Ein Polaroid.
Bronski hatte es mit seinem Handy abfotografiert und ihr geschickt. Sie öffnete die Datei, starrte das Foto an und versuchte, es zu begreifen. Ein kaum fassbarer Zufall war es. Dass Bronski genau dort eingebrochen war. Dass Kurt die Leiche gefunden und ihn angerufen hatte. Sie war wie elektrisiert von dem, was ihr Bruder erzählte.
Anna fragte sich, warum gerade Zita Laufenberg etwas mit dem Verschwinden von Bronskis Tochter zu tun gehabt haben sollte. Unglaublich war es.
Unvorstellbar.
Aber sie erkannte Judith sofort.
Diese unglaublich spektakulären Augen.
Ein grünes. Und ein blaues.
Wie bei David Bowie.
Eine Merkwürdigkeit der Natur.
Mona und Bronski hatten sich darüber gefreut, anstatt beunruhigt zu sein. Sie mochten Bowie, mit einem Lächeln nahmen sie das Geschenk an, das ihnen gemacht wurde. Sie hatten sich dieses Kind so sehr gewünscht, wollten für immer zusammen glücklich sein. Sie hatten Pläne, redeten Abende lang darüber, dass sie sich eine neue Wohnung nehmen würden, dass sie sich rechtzeitig um einen Kita-Platz kümmern wollten, dass sie dieses Leben zu dritt jeden Tag feiern wollten.
Schön war es für Anna, dabei zuzusehen.
Anna freute sich, dass auch Bronski nun eine eigene Familie hatte. Dass das Glück nun endgültig bei ihm eingezogen war. Bronski war so positiv damals, er sprühte vor Optimismus, lächelte die kleinen Probleme, die sie hatten, einfach weg. Er verschwieg, dass Mona schlecht schlief, dass sie oft stundenlang wach lag in der Nacht, seine Freude deckte das alles zu. Anna hatte nichts davon mitbekommen, dass es Mona schlecht ging. Dass sie am Limit war. Dass sie es längst überschritten hatte.
Wir haben alles im Griff, hatte Bronski gesagt.
Er hatte sich die Welt schöngeredet. Dass diese Welt acht Wochen später schon in sich zusammenbrechen sollte, damit hatte Anna keine Sekunde lang gerechnet. Judith war vier Monate alt, als Bronski sie das letzte Mal im Arm gehalten hatte. Als sie mit Mona und ihm im Bett gelegen und friedlich geschlafen hatte.
Nur hundertvierundzwanzig Tage lang hatte Bronski eine Tochter.
Hatte Mona sie gestillt.
War alles wie ein Geschenk.
Danach war alles nur noch ein Alptraum.
Judith war verschwunden. Von einem Augenblick auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt. Hilflos musste Anna zusehen, wie Bronski fast durchdrehte vor Sorge. Wie Mona sich zerfleischte. Wie die Verzweiflung der beiden von Tag zu Tag größer wurde. Weil man irgendwann davon ausging, dass das Kind tot war.
Es gab keine Spur, keiner der Ermittler glaubte mehr daran, dass Judith irgendwann wieder auftauchen würde. Dass das Unmögliche passieren sollte, wurde als äußerst unwahrscheinlich eingeschätzt.
Zwanzig Jahre lang.
Doch dann war da plötzlich dieser Hinweis.
Ein Lebenszeichen.
Ein Foto von Judith, wo es nicht hätte sein sollen.
Deshalb war Anna war auf dem Weg nach Tirol.
Mit Vollgas über die Autobahn.
Bin auf dem Weg, sagte sie.
Aus dem Auto rief sie Bronski mehrmals an.
Beruhigte ihn. Sorgte dafür, dass er keine Dummheiten machte.
Anna beeilte sich.
Bis gleich , sagte sie.