Einundzwanzig Jahre war es her.
Und es war so, als wäre es gerade erst passiert.
Mona sah mich nicht an. Sie starrte nur an die Wand, als ich sie damals in der Psychiatrie besuchte.
Wiederholte dieselben Sätze.
Wie ein Mantra war es.
Es tut mir so leid, David.
Du musst sie finden, David.
Ich habe ihr nichts getan, David.
Immer und immer wieder.
Auf der geschlossenen Abteilung ihre Tränen.
Ihre Verzweiflung.
Mona war vollgepumpt mit Medikamenten, weiß im Gesicht und schuldzerfressen. Man hatte sie ruhiggestellt, weil sie sich mit einem Polizisten angelegt hatte. Sie hatte herumgebrüllt, um sich geschlagen, sie war verzweifelt. Mehr als ich es jemals sein konnte.
Mona hatte einen Fehler gemacht.
Sie hatte ihr Glück einfach losgelassen, es aus der Hand gegeben. In einem Moment, in dem sie nicht mehr weiterwusste, hat sie alles verloren. Alles hatte sich gegen sie verschworen. Mona hatte sich schuldig gemacht. Weil ich nicht für sie da gewesen war. Weil ich es nicht gesehen hatte. Es nicht hatte wahrhaben wollen. Sie nicht gehört hatte.
Ich kann nicht mehr.
Habe keine Kraft mehr, David.
Bitte hilf mir.
Doch ich half ihr nicht.
Ich war mir sicher, dass sich alles einspielen würde, dass sie sich erholen und wieder Kraft finden würde.
Ein ignoranter Dreckskerl war ich.
Wir schaffen das schon , hatte ich zu ihr gesagt.
Ich hatte so getan, als wäre alles in bester Ordnung. Habe nicht hingesehen. Erst als Judith weg war, begriff ich, wie schlimm alles für Mona gewesen sein musste. Wie hilflos sie gewesen war. Ich habe es in ihren Augen gesehen. In der Psychiatrie.
Kaputt war alles.
In ihr. Und auch in mir.
Ich wollte sie umarmen, sie berühren, ich wollte wissen, warum sie es getan hatte. Ich wollte sie schütteln, ich wollte mit meiner Faust auf die Wand einschlagen. Ich wollte es verstehen, aber ich verstand es nicht. Ich war wütend. Und sprachlos. Ich hasste sie. Liebte sie. Ich vertraute ihr, und ich zweifelte. Alles im selben Moment.
Weil dieser Polizist mich verunsicherte.
Er war davon überzeugt, dass Judith tot war.
Wollte mich gegen Mona aufbringen, er drängte sich zwischen uns. Doch am Ende tat ich, worum Mona mich bat. Ich glaubte ihr. Auch wenn sich alle gegen sie stellten. Die Polizei, die Medien, sogar Bekannte und Freunde, die ganze Welt verschwor sich gegen sie. Mona wurde als Lügnerin hingestellt, in den Augen aller war sie die Mutter, die ihr Kind umgebracht und sich eine völlig absurde Geschichte zurechtgelegt hatte. Alle waren überzeugt davon, dass die Frau, der Mona angeblich das Kind in die Hand gedrückt hatte, gar nicht existierte.
Gemeinsam mit Anna suchte ich nach ihr, drei Tage lang verbrachten wir auf der Straße, vor dem Bahnhof, als die Polizei die Suche längst schon abgebrochen hatte, redeten wir immer noch mit Hunderten von Menschen. Aber niemand konnte uns helfen, keiner konnte Monas Geschichte bestätigen. Es gab keinen Beweis für ihre Unschuld.
Ich hatte nur ihr Wort, an dem ich mich festhielt.
Unerträglich waren diese ersten Wochen. Das leere Kinderzimmer, die Stille. Ich zerbrach beinahe daran. An dem Schmerz, der mich auffraß, an der Verzweiflung, die von Tag zu Tag größer wurde, an der Erkenntnis, dass unsere Suche nach Judith sinnlos war. Jeder Gedanke an sie war wie ein Messerstich, ich vermisste sie so sehr, dass ich nicht schlafen konnte, nicht essen, in jeder Minute, in der sie nicht da war, starb ein Stück von mir. Ich konnte nichts dagegen tun. Nur an sie denken. Sie nicht vergessen in all den Jahren, die vergingen.
Mein schönes Leben, es war nur noch eine Erinnerung.
Das Leben zu dritt. Es war zu Ende.
Mona begann sich vor meinen Augen aufzulösen.
Sie wollte nicht mehr leben, sah keinen Sinn mehr darin, ohne Judith auf der Welt zu sein.
Ich flehte sie an, nicht aufzugeben. Zu mir zurückzukommen. Wochenlang sagte ich zu ihr, dass ich ohne sie nicht weitermachen kann. Ich flößte ihr Hoffnung ein. Hoffnung, Judith wiederzusehen. Hoffnung, mit der Schuld leben zu können. Ich redete auf sie ein, bis sie mich hörte und mit mir weiterlebte. Oder so tat.
Unbehelligt von der Polizei, weil es keinen Beweis für diese wahnwitzige Theorie gab, dass Mona eine Mörderin war. Es gab keine Leiche, Judith blieb verschwunden, man konnte sie nicht verurteilen dafür, dass sie in einem Moment der Schwäche der falschen Person vertraut hatte. Alle, die sie anklagten, mussten ihre Geschichte akzeptieren.
Ein Unglück war es.
Jemand hatte Judith entführt.
Eine Fremde.
Anstatt Mona zu helfen, hatte sie uns das Wichtigste genommen.
Das wollte ich glauben.
Ich habe unserem Kind nichts getan, David.
All die Jahre habe ich mich an diesem Satz festgehalten. Ohne Gewissheit zu haben. Ich habe jeden anderen Gedanken immer sofort aus meinem Kopf verbannt. Die Vorstellung, dass ich mit der Mörderin meiner Tochter zusammenlebte. Die Vorstellung, dass Judith irgendwo in einem Fluss ertrunken war. Dass sie in einer Mülltonne erstickt und auf einer Deponie gelandet war.
All diese Gedanken dachte ich nicht.
Ich hoffte auf ein Wunder.
Einundzwanzig Jahre lang
Und dann war da plötzlich dieses Foto.
Es konnte nicht länger als ein paar Wochen nach Judiths Verschwinden aufgenommen worden sein. Wahrscheinlich von der Frau, die Judith damals mitgenommen hatte. Diese eine, die nicht so reagiert hat, wie alle anderen es getan hätten. Die Judith behalten hatte. Das Baby auf dem Foto mit den roten Bäckchen und dem hübschen Pyjama. Es lag in einem sauberen Bettchen. Jemand hatte Judith einfach gestohlen. Sie vielleicht verkauft. An reiche Leute.
Reiche Leute wie die Laufenbergs.
Zita Laufenberg.
Die Mumie im Schlafzimmer.
In ihrer Geldtasche steckte das Foto.
Laufenberg musste die Menschen gekannt haben, die Judith entführt haben. Selbst konnte sie es nicht gewesen sein, da sie damals bereits Mitte Vierzig war. Oder?
Mona aber sprach immer von einer Frau Ende zwanzig.
Ich verstand es nicht.
Versuchte es zu begreifen.
So gerne hätte ich einfach auf einen Knopf gedrückt und die Antworten auf meine Fragen erhalten. Ich wollte wissen, wo Judith jetzt war. Ob sie noch lebte. Was man ihr angetan hatte. Warum die Frau im Schlafzimmer so brutal ermordet worden war. Ob ihr Tod etwas mit Judiths Verschwinden zu tun hatte. Und wer sich zum Zeitpunkt des Mordes um Judith gekümmert hatte.
Ich schwor, es herauszufinden.
Um jeden Preis.
Während ich auf Anna wartete, informierte ich mich im Internet.
Ich las alles, was ich über diese Familie herausfinden konnte.
Ein paar Stunden lang war es noch ruhig.
Dann brach die Hölle los.