NEUN

Anna parkte in einer Seitenstraße.

Sie rief Bronski an und drückte kurze Zeit später die Eingangstür der Wohnanlage auf. Anna fuhr mit dem Lift nach oben und betrat das Penthouse von Zita Laufenberg. Niemand hatte sie gesehen, die meisten Menschen im Haus schliefen noch.

Sie umarmten sich. Lange und leise. Beinahe wortlos verstanden sie sich. David und Anna. Er war erleichtert, dass sie da war, und sie war müde nach einer langen Fahrt. Heimlich trafen sie sich in der Wohnung, in der Albert Laufenberg knapp achtundzwanzig Stunden später seine Mutter wiedersehen sollte.

Danke, dass du gekommen bist, sagte Bronski.

Lass uns sauber machen, sagte Anna.

Sie wollte keine Zeit verlieren. Mit Bedacht kümmerte sich Anna um alles. Bevor die Polizei kommen würde, musste sie dafür sorgen, dass keine Spuren zurückblieben, nichts, das auf ihren Bruder hinwies, das verriet, dass Bronskis Geschichte irgendwie mit dieser Frau im Schlafzimmer verknüpft war. Niemand sollte erfahren, dass es um zwei vermisste Menschen ging, und nicht nur um einen. Judith Bronski und Zita Laufenberg. Sie hatten nichts miteinander zu tun gehabt, lebten damals siebenhundert Kilometer voneinander entfernt in völlig verschiedenen Welten. Trotzdem hatte sich herausgestellt, dass sie sich kannten. Dass die Tote irgendwie mit Judith in Verbindung stand. Was völlig unmöglich schien.

Doch so musste es sein.

Bronski und Anna zogen erste Schlüsse, sie vermuteten, spannen verrückte Gedanken. Mehrere Verbrechen mussten damals passiert sein. Entführung. Mord. Erpressung vielleicht.

Anna fantasierte vor sich hin, sie versuchte Erklärungen zu finden, während sie die Wohnung scannte. Sie nahm alles genau ins Visier, zuerst die Leiche im Schlafzimmer, und dann alle anderen Dinge. Die kaputte Küchentür, den gedeckten Frühstückstisch, die Kleider am Boden und die Geldtasche, die Kurt im Einkaufskorb in der Abstellkammer gefunden hatte. Das alles bedeutete etwas. Erlösung für Bronski vielleicht. Endlich Aussicht auf ein bisschen Wahrheit. Gewissheit. Anna spürte es. Sog alles in sich auf.

Mit Bedacht machte sie einen Plan.

Sagte ihrem Bruder, was zu tun war. Klar und deutlich.

Sie entschied, was weiter passieren sollte, weil Bronski nicht mehr dazu fähig war. Er war müde, hatte kaum geschlafen, er hatte keine Kraft mehr. Seine Gefühle waren übermächtig, sie lähmten ihn. Er brauchte seine Schwester, sie ordnete alles, legte sich die Dinge in Gedanken zurecht, sie malte sich aus, was die Polizei am Ende herausfinden würde. Was passieren würde, nachdem sie die Wohnung verlassen hätten. Welche Schlüsse man ziehen würde. Anna schlich durch die Wohnung und flüsterte es vor sich hin.

Es war ein Obdachloser, der eingebrochen war.

Er fand die Leiche.

Und er schoss auch die Fotos.

Er wischte alles ab, was er berührt hatte.

Dann verschwand er.

Er war der Einzige, der hier war.

Keine Spur mehr von Bronski und Anna.

Dafür sorgte sie. Anna übernahm die Führung. Und Bronski war dankbar dafür. Sie wischten dort, wo kein Staub mehr lag, an allen Stellen, die Kurt und er berührt hatten, sie machten dort sauber, wo die beiden Männer gelegen, gestanden oder gesessen hatten. Mit Annas mitgebrachtem Desinfektionsspray und Tüchern ließen sie alle Spuren verschwinden. Fingerabdrücke, Speichel, Schuppen, Haare. Bronski tat, was seine Schwester ihm sagte, er hinterfragte es nicht, er folgte ihr, war froh, nicht allein sein zu müssen. Er konnte mit ihr teilen, was er fühlte. Nur Anna verstand, was in ihm vorging. Nur sie wusste, wie dieses Thema in den letzten zwanzig Jahren an ihm genagt hatte. Wie schwer alles war.

Ich bin hier, um zu helfen, sagte sie.

Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde, sagte er.

Bronski vertraute ihr. Niemand war so gut wie sie, wenn es darum ging, zu schnüffeln, zu graben, Zusammenhänge herzustellen, wo es keine gab. Anna hatte sich in Berlin einen Namen gemacht, sie war effizient, diskret, und sie hatte keine Angst. Sie war ein Fels. Anna war kräftig, wog knapp hundert Kilo, war einen Meter achtzig groß und strahlte eine beunruhigende Selbstsicherheit aus. Sie hatte keine Angst vor den Machotypen, mit denen sie es zu tun hatte, sie war verlässlich und verschwiegen, man respektierte sie. Kurzhaarfrisur, Kampfausbildung, zweifache Mutter und liebevolle Ehefrau. Leidenschaftlich, impulsiv, aber strukturiert, Anna wusste, worauf es ankam. Sie begriff schnell. Stellte Fragen.

Sie setzte die Puzzleteile zusammen.

Die Wohnungstür. Und die Schlüssel.

Sie wollte von Bronski wissen, ob die Tür versperrt gewesen war. Und wo er den Schlüssel gefunden hatte, um sie hereinzulassen. Anna hörte ihrem Bruder zu und sah es vor sich. Der Mörder musste ein Vertrauter gewesen sein, es konnte sich nicht um eine Zufallsbekanntschaft gehandelt haben, er hatte einen eigenen Wohnungsschlüssel, weil der von Zita am Schlüsselbrett hing. Er hatte von außen abgeschlossen und war gegangen, nachdem er Zita Laufenberg umgebracht hatte. Ihren Kopf trug er wahrscheinlich in einer Plastiktüte unter dem Arm. Seelenruhig war er aus der Wohnung spaziert, all die Jahre war er unbehelligt geblieben, nur Staub hatte sich angesammelt. Staub, den keiner wischte.

Das Verbrechen war ein Geheimnis geblieben.

Der brutale Mord blieb genauso unentdeckt wie das Foto von Judith.

Sie mussten herausfinden, ob der Mörder es übersehen oder ob er es absichtlich zurückgelassen hatte. Anna hatte noch keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte, aber sie wusste jetzt endlich, wonach sie suchten und mit wem sie reden mussten. Es gab viel für sie beide zu tun.

Bronski sollte sich vorerst um seinen Job kümmern, er sollte seinen Deal erfolgreich unter Dach und Fach bringen und mit seiner Kollegin Svenja offiziell recherchieren, Befragungen durchführen, mit Nachbarn reden, mit der Polizei, mit Hinterbliebenen. Anna wollte den Geliebten finden, der Familie der Toten unauffällig auf den Zahn fühlen, Dinge ausgraben, die sie vielleicht verbargen. Sie mussten den Vorsprung nutzen, den sie hatten. Sie durften nicht auffallen, die Sache mit Judith nicht öffentlich machen, niemand sollte erfahren, dass sie darüber Bescheid wussten, dass Zita Laufenberg das vermisste Baby von damals kannte. Nur wenige Wochen nach Judiths Verschwinden war sie getötet worden.

Die Dinge hingen irgendwie zusammen.

Sie mussten nur noch herausfinden, wie.