Ich wollte zu ihm nach Leipzig fahren.
Es ihm persönlich sagen. Aus irgendeinem Grund wollte ich vermeiden, dass er es von der Polizei erfuhr. Ich kündigte ihm also am Telefon meinen Besuch an, hielt mich aber, was den Grund des Treffens betraf, bedeckt.
Ich sagte ihm nur, dass es dringend war.
Laufenberg reagierte sofort. Er sei zufällig in der Stadt, sagte er, ich könne mir den Weg nach Leipzig sparen, er komme zu mir. Er fragte mich nach meiner Adresse, überrumpelte mich. Noch bevor ich ihm sein Vorhaben ausreden konnte, hatte er bereits aufgelegt.
Und ich geriet in Panik.
Von ihm besucht zu werden war mir unangenehm.
Ich versuchte schnell noch etwas Ordnung zu schaffen, aus irgendeinem Grund wäre es mir peinlich gewesen, hätte er meine Küche so gesehen, wie sie war. Schnell ließ ich das Geschirr im Spüler verschwinden und stopfte die schmutzigen Klamotten, die am Boden lagen, in die Wäschekiste. Ich wischte sogar Staub, versteckte die leeren Flaschen, überlegte, wie ich es ihm sagen sollte. Bis es klingelte und er nach oben kam, war ich damit beschäftigt, aufzuräumen und mir Sätze auszudenken, mit denen ich ihm das Unvermeidliche mitteilen würde.
Ich hatte Mitgefühl mit ihm. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihn beschützen, ich wollte dem Ganzen etwas von der Wucht nehmen, mit der es ihn umreißen würde. So wie es mich umgerissen hatte, als ich damals erfahren hatte, dass Mona nicht mehr lebte. Ich war nervös, als ich ihm die Tür öffnete. Mein Mund war trocken, als er sich mir gegenüber an den Küchentisch setzte.
Ich bot ihm einen Schnaps an, er lehnte ab.
Ich trinke nicht , sagte er.
Bitte sagen Sie mir, warum ich hier bin.
Ist etwas passiert? Ist etwas mit meiner Frau?
Ich kann sie nicht erreichen.
Er ahnte es. Irgendetwas in meinem Gesicht musste es ihm verraten haben. Er spürte meine Betroffenheit, man konnte es mir ansehen. Dass es mir unendlich schwerfiel, ihm zu sagen, was er wissen musste. Während ich es noch ein paar Sekunden lang hinauszögerte, fragte ich mich, wie viel Leid ein Mensch ertragen kann. Ich erinnerte mich daran, wie viel ich ertragen hatte.
Der Schmerz von damals war nah.
Kurz noch suchte ich nach Worten, dann sagte ich es ihm.
Ich ließ ihm keine Gelegenheit, mich zu unterbrechen, mir Fragen zu stellen. Ich brachte es so schnell wie möglich hinter mich.
Dann war es still.
Laufenberg starrte mich an.
Schwieg.
Er begann zu weinen.
Nein, er schluchzte. Und ich schaute ihm dabei zu.
Wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, wie er an der Nachricht, die ich ihm überbrachte, verzweifelte.
Zwanzig Minuten lang fiel kein Wort.
Wir hatten beide Zeit nachzudenken.
Seine Frau war tot. Sie hatte sich das Leben genommen.
Warum, fragte er sich.
Warum, fragte auch ich mich.
Ja, ich hatte Mitgefühl, aber nun tauchten wieder diese bohrenden Fragen auf. Nachdem ich ihm das Unvermeidliche gesagt hatte, brannte ich plötzlich wieder vor Neugier. Ich wollte endlich mehr erfahren.
Wie konnte es sein, dass er nichts von dem Baby wusste?
War es seine Frau, der Mona unser Kind in die Hand gedrückt hatte? Warum hätte sie sich sonst umbringen sollen?
Vielleicht war es das Geheimnis von damals, das sie jetzt dazu getrieben hatte, sich umzubringen. Der Druck nach dem Leichenfund musste unerträglich gewesen sein. Sie sah keinen anderen Ausweg mehr. So musste es gewesen sein.
Ich wollte, dass Laufenberg mir sagte, ob er seiner Frau zutraute, ein Kind entführt zu haben. Ich wollte wissen, ob er es für möglich hielt, dass sie es war, der Mona damals am Bahnhof begegnet war. Ich wollte sehen, wie Laufenberg reagierte, wenn ich ihm sagte, dass seine Mutter ihrem Geliebten ein Kind hatte schenken wollen.
Mein Kind.
Als er aufhörte zu weinen, fragte ich ihn.
Aber er verstand es nicht. Er war schockiert. Entsetzt darüber, dass möglicherweise wahr sein könnte, was ich sagte. Ich hatte den Eindruck, dass ihn das, womit ich ihn konfrontierte, mindestens genauso traf wie die Nachricht vom Selbstmord seiner Frau. Ununterbrochen schüttelte er den Kopf. So als würde er einen Geist damit vertreiben wollen.
So etwas hätte Margit nie getan, sagte er.
Und auch meine Mutter nicht.
Ich hätte das mitbekommen.
Meine Frau hätte das nicht vor mir verbergen können.
Es war, als würde er es sich einreden wollen. Er versuchte, es sich schönzureden, doch in seinen Augen konnte ich sehen, dass er es für möglich hielt. Dass er es ihnen zutraute.
Es tut mir leid, sagten seine Blicke.
Eine Weile lang schwiegen wir wieder beide.
Als ich mir Schnaps einschenkte, rührte er sich.
Für mich auch einen, sagte er.
Dann tranken wir.
Versuchten mit dieser Situation umzugehen.
Mit der Trauer, die den Raum füllte.
Mit dieser Schwere, die sich breitmachte.
Ich kannte das, wusste, was er fühlte, was in ihm vorging, auf eine seltsame Art waren wir verbunden in diesem Moment. Als ich ihm erzählte, dass auch meine Frau sich umgebracht hatte, hörte er nur wortlos zu. Er war betroffen und dankbar, dass er in diesem Moment nicht alleine war, dass da jemand neben ihm saß, der nachvollziehen konnte, was diese Nachricht mit ihm machte. Die Tatsache, dass er nie wieder mit seiner Frau sprechen konnte, nie wieder ihr Lachen hören würde, erschlug ihn.
Seine Frau hatte aufgehört, da zu sein.
Genauso wie Mona.
Da war plötzlich ein Loch, in das Albert Laufenberg fiel. Es war dasselbe Loch, in dem ich seit Jahren lebte. Unausgesprochene Solidarität war es, Mitgefühl auf beiden Seiten, so verrückt es klingen mag, wir taten uns gut an diesem Abend.
Ich bin Albert, sagte er irgendwann.
David , sagte ich.
Wir tranken miteinander.
Glas für Glas. Wir lenkten uns ab, taten irgendwann so, als wäre das alles nicht passiert, für ein paar Stunden blendeten wir es einfach aus. Wir redeten über Gott und die Welt, über seine Arbeit und meine. Wir lernten uns kennen, ließen uns Zeit, in meiner Küche ging es an diesem Abend nur darum, über Wasser zu bleiben, nicht unterzugehen. Wir wollten beide nicht allein sein. Er mit seinem Schmerz und ich mit meinen Erinnerungen.
Es war gut, dass er da war. Dass er mich fragte, wie mein Alltag war, was ich an der Fotografie liebte, welche Bilder ich gerne machte. Ich weiß nicht warum, aber ich erzählte ihm, dass ich an der Kunstakademie studiert hatte, dass mein Weg eigentlich ein anderer hätte sein sollen, dass ich ursprünglich von der Kunst hatte leben wollen und nicht von der Pressefotografie. Ich ließ mich hinreißen, ihm zu erzählen, was ich machte. Er verführte mich dazu. Albert sagte mir, dass er einige Galerien besaß in Leipzig, dass für ihn Kunst etwas vom Wichtigsten war in seinem Leben. Er brachte mich dazu, ihm zu vertrauen. Ich tat, was ich normalerweise nie tat. Ich teilte meine Leidenschaft, versuchte ihm zu erklären, woran ich seit Jahren arbeitete.
Sein Interesse war ehrlich. Er kannte sich aus, war gebildet, er referierte über die Fotografie in der Kunstgeschichte, es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören. Und es war dann am Ende auch leicht, ihm meine Arbeiten zu zeigen. Es fühlte sich gut und richtig an.
Ich ging mit ihm in meine Dunkelkammer. Er sollte sehen, wo ich am liebsten arbeitete. Ich schwärmte von der analogen Fotografie, von der händischen Ausarbeitung der Bilder, von dieser Langsamkeit, die mich so faszinierte. Und ich erzählte ihm von der Stille, die mich seit vielen Jahren umgab. Es war, als würde ich ihm mein größtes Geheimnis offenbaren, als würde ich etwas Verbotenes mit ihm teilen. Ich zeigte ein großes Stück Seele von mir, ich war verletzlich in diesem Moment, ein falsches Wort von ihm hätte ausgereicht, um mich zu erschüttern, mich aus der Bahn zu werfen. Doch dieses Wort fiel nicht.
Er hätte mich kränken können, doch er tat es nicht. Keine Sekunde lang gab er mir das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass es seltsam war, was ich machte. Im Gegenteil, er begann von der Post-Mortem-Fotografie Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu sprechen, er schwärmte von dem Thema, über das ich vor vielen Jahren an der Akademie meine Abschlussarbeit hatte schreiben wollen.
Totenfotografie im viktorianischen Zeitalter.
Man wollte die Angehörigen damals in Erinnerung behalten, man wollte sie einmal noch lebendig zeigen und dieses Bild dann konservieren. Bevor die Leichen verwesten, wurden sie noch einmal schön gemacht. Man fotografierte sie im Sarg, oder sie wurden in Position gebracht. Von Gestängen und Stativen gehalten, es entstanden Gruppenbilder, vor allem Kinder wurden gerne fotografiert. Mit Spielzeugen in Händen. Ein letzter Blick auf das Leben war es. Bevor sie für immer schliefen.
Fotos von toten Menschen.
Ich zeigte sie ihm. Viele.
Die besten, die ich gemacht hatte in den letzten Jahren.
Die meisten schwarz-weiß. Portraits. Manchen kam ich sehr nahe, zu manchen hielt ich Abstand. Es waren Fremde, Menschen, denen ich nie vorher begegnet war. Aber sie hatten mich berührt. Ich wollte ihre Schönheit festhalten. Sie konservieren.
Das sind Kunstwerke, sagte Albert.
Er verstand mich.
Ich hörte, was er sagte. Konnte es beinahe nicht glauben. Dass er sich dazu äußerte. Etwas so Schönes sagte.
Ich weiß nicht, warum, aber diese Bilder trösten mich.
Er empfand das Gleiche wie ich. Aus diesem Grund hatte ich all diese Fotos aufgenommen. Ich tat es für mich. Schadete niemandem damit. Ich stellte die Bilder nicht aus, veröffentlichte sie nicht. Ich hatte nie gedacht, dass es noch jemand anderen geben könnte, der ähnlich fühlen würde wie ich. Für viele wäre es abschreckend gewesen, aber nicht für Albert Laufenberg. Er war fasziniert von dem, was ich ihm zeigte. Was ich vor der Welt versteckte.
Ein Bild nach dem anderen sah er sich an. Er genoss es.
Hast du meine Mutter auch fotografiert, fragte er.
Ich nickte nur.
Sagte ihm, dass ich sie aber noch nicht entwickelt hatte.
Dann lass es uns jetzt tun, antwortete er.
Ich schaute ihn an, wollte wissen, ob er es ernst meinte. Er nickte. War neugierig, trieb mich an, verfolgte jeden Arbeitsschritt mit größtem Interesse. Er bat mich, dass ich kommentierte, was ich machte. Ich tat ihm den Gefallen.
In einer lichtdichten Box holte ich den Filmstreifen aus der Rolle, ich spannte ihn in eine Spule, legte die Spule in eine Entwicklerdose. Ich füllte Chemie ein, schwenkte die Dose, entwickelte die Negative. Dann knipste ich das Licht aus und schaltete das Rotlicht ein. Ich füllte die Chemiebäder, legte Fotopapier bereit und belichtete die Bilder mit dem Vergrößerer.
Es ist wie ein Wunder , sagte er.
Er sprach von dem Augenblick, in dem ich das belichtete Fotopapier in das Entwicklerbad legte, von diesen Sekunden, in denen auf dem Weiß plötzlich erste Konturen Form annahmen. Was ich abgebildet hatte, erschien. Aus dem Nichts tauchte diese Wirklichkeit auf, die ich geschaffen hatte. Eine andere als die auf den Digitalbildern. Geheimnisvoll war es, was wir sahen, verbotene Blicke waren es, intime Momente. Besondere Blicke. Zita in ihrem Bett. Ihr Körper, den ich für diese Fotos teilweise mit einem Laken abgedeckt hatte. Der stille Raum, in dem sie lag. Ihr Ende.
Der Tod hatte nichts Bedrohliches mehr, er machte keine Angst. Nur diese Ruhe blieb auf den Bildern. Diese Ruhe, aus der wir nach Stunden wieder herausgerissen wurden.
Alberts Telefon klingelte.
Vielen Dank für diese Bilder, sagte er.
Das Klingeln hörte nicht auf.
Wir wussten, dass es die Polizei war.
Man wollte ihm sagen, dass seine Frau tot war. Dass sie sich in einem Hotelzimmer in Innsbruck die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Was Albert bereits wusste und was er in diesen drei Stunden in meiner Küche und meiner Dunkelkammer verdrängt hatte, trieb wieder nach oben. Er hatte den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren. Kurz hatte er versucht, es auszublenden, doch jetzt hatte er keine Wahl mehr. Er musste das Gespräch annehmen. Es akzeptieren, dass es wirklich passiert war. Albert musste aus meiner Dunkelkammer zurück in die Wirklichkeit.
Aus meiner Welt der Toten zurück zu den Lebenden.
Er musste nach Hause zu seinen Kindern.
Ihnen sagen, dass ihre Mutter aus Tirol nicht zurückkommen würde.
Ich habe Angst davor, sagte er.
Ich verstand ihn.