Ich erinnerte mich an jedes Detail.
An alles, was Mona damals gesagt und getan hatte. Es hatte mich aufgewühlt, alte Wunden wurden wieder aufgerissen.
Mona war so aufgeregt gewesen, beinahe manisch.
Sie war von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte auf mich eingeredet. Mir von dieser Schülergruppe aus Leipzig erzählt, vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jugendliche, zwei Lehrer. Sie hatte sie nicht weiter beachtet. Dann aber stolperte sie. Fiel hin. Zum Glück hatte sie gerade keine Getränke serviert, nichts war passiert, nur ihr Schienbein war gegen die Tischkante geschlagen.
Eine junge Frau half ihr auf.
Hilfsbereit und freundlich nahm sie Monas Hand und zog sie hoch. Mit besorgtem Blick fragte sie, ob alles in Ordnung sei.
Danke, hatte Mona gesagt.
Alles gut. Nichts passiert.
Mona hatte jeden Augenblick dieser Begegnung nachgezeichnet.
Ihre Augen leuchteten. Sie wollte es mit mir teilen.
Dieses Gefühl, das sie hatte.
Wir haben uns angelächelt, hatte sie gesagt.
Vielleicht zehn Sekunden waren es.
Für Mona hatte es sich wohl angefühlt wie eine Ewigkeit.
Sie starrte in dieses Gesicht und fragte sich, wie das sein konnte. Völlig fremd war ihr das Mädchen gewesen, trotzdem spürte sie eine Nähe zu ihr. Es war eine Verbundenheit, die wehtat. In den ersten zwei oder drei Sekunden war es nur so eine Ahnung gewesen, nach sechs Sekunden war es Gewissheit. Nach acht Sekunden gab es kein Zurück mehr.
Mona war sich sicher.
Deshalb zog sie die junge Frau zu sich heran.
Und flüsterte in ihr Ohr.
Ich bin deine Mama .
Dann ließ sie die junge Frau wieder los.
Als sie es mir später erzählte, fragte ich sie, ob sie verrückt geworden sei. Im ersten Moment dachte ich sogar, dass sie sich über mich lustig machen wollte. Doch Mona meinte es ernst. Sie erzählte mir, dass sie wieder an die Arbeit gegangen war. So getan hätte, als wäre nichts passiert. Erst eine Stunde später verwickelte sie einen Lehrer in ein Gespräch, der zur Toilette ging. Sie fand heraus, auf welche Schule das Mädchen ging, in welcher Stadt sie lebte. Sogar ihren Namen brachte sie in Erfahrung. Still und heimlich beobachtete Mona die Gruppe, sie verlor sich in diesem Gesicht.
Sie war überzeugt, dass es Judith war.
Dass die Augenfarbe nicht stimmte, übersah sie.
Voller Freude schwärmte sie von diesem magischen Moment, sie bestand darauf, dass ich ihrem Instinkt vertrauen sollte. Von der Verbindung zwischen einer Mutter und ihrem Kind sprach sie. Egal wie viel Zeit vergangen war, seit sie Judith zum letzten Mal im Arm gehalten hatte, das Band zwischen ihnen war gespannt. Mona war überzeugt davon, dass sie unser Kind wiedergefunden hatte.
Ich hatte damals nur den Kopf geschüttelt.
Ich liebte sie, ich glaubte ihr aber nicht.
Ich konnte nur die verzweifelte Mutter sehen, die sich Hirngespinsten hingab. Mona blieb mit ihren Gefühlen allein. Nach all den Jahren war ich müde, ich konnte nicht mehr, Monas Depression begleitete uns ständig, sie hatte uns beiden alle Kraft geraubt.
Du bildest dir das nur ein, sagte ich.
Mona wehrte sich.
Nein, David.
Sie ist es.
Unsere Tochter, verdammt.
Ich habe sie in den Arm genommen. Alles getan, was ich konnte, um sie zu beruhigen. Ich wollte, dass sie still ist. Mona sollte nichts mehr sagen. Nicht mehr über diese Frau im Café reden. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass sie sich irrte. Sich verrannte. Mit letzter Kraft wollte ich unsere Beziehung retten.
Bitte tu uns das nicht an, Mona.
Das macht uns kaputt.
Bitte hör auf.
Für einen Moment brachte ich sie dazu, still zu sein.
Ich dachte, dass sie sich wieder beruhigt hatte, doch Mona ignorierte mich. Sie meldete sich krank und fuhr nach Leipzig. Wie besessen war sie, drei Tage lang wartete sie vor der Schule der jungen Frau, verfolgte sie durch die Stadt. Sie begleitete sie ungesehen bis nach Hause, verbrachte Stunden damit, zu klingeln und vor dem Haus zu warten. Am dritten Tag ließ man sie mit Gewalt entfernen. Security. Man legte ihr nahe, nicht wiederzukommen.
Mona fuhr nach Hause und weinte sich aus bei mir.
Ich täusche mich nicht, sagte sie.
Ich verzweifelte.
Flehte sie an, damit aufzuhören, fremde Leute zu belästigen.
Ich riet ihr, wieder ihre Tabletten zu nehmen.
Rang ihr ein Versprechen ab.
Ich hatte sie allein gelassen.
Wenig später sprang sie.