EINUNDVIERZIG

Laufenberg hatte jede Sekunde des Schauspiels genossen.

Auch wenn es geregnet hatte, es war wunderschön gewesen. Die vielen Trauergäste, die Beileidsbekundungen, die betroffenen Gesichter, die vielen aufmunternden Worte.

Es war alles so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die beiden Särge, die in der Erde verschwanden, das Blumenmeer, für das er eine beachtliche Summe ausgegeben hatte, das Ende seiner Beziehung zu Margit, das Ende dieser unsäglichen Geschichte mit seiner Mutter, und die durchaus kreative Lösung, die er für das Problem mit seiner ersten Tochter und ihrem aufgebrachten Vater gefunden hatte.

Albert hatte die Ordnung wiederhergestellt.

Kurz blieb er noch am Steuer seines Wagens sitzen.

Er schaute zu, wie Bronski ausstieg und völlig verstört auf seine Schwester und den Polizisten zuging. Albert hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Bronski alles dafür tun würde, um zu verhindern, dass seiner Tochter etwas zustieß. Er hatte dem aufgebrachten Wilden jeden Wind aus den Segeln genommen, ihm seinen Mut geraubt, er hatte ihm Angst gemacht. Angst, die ihn jetzt antrieb. Weil Bronski keine Ahnung hatte, wo Laufenberg Rebecca hatte hinbringen lassen und wozu dieser Alkoholiker, der dabei war die Kontrolle zu verlieren, fähig war.

Kurt Langer hatte alles richtig gemacht. Er hatte Alberts Anweisungen befolgt und einen hübschen Film gedreht, etwas theatralisch zwar, vielleicht eine Spur zu emotional, aber äußerst effektiv.

Geh, und sag dem Scheißbullen da draußen, dass du es warst.

Dann wird dein Mädchen überleben.

Und alles ist gut.

Ein Märchen war es.

Eines, das Albert Laufenberg für Bronski geschrieben hatte.

Weil Albert Märchen liebte. Märchen ließen einen immer an ein Happy End denken, so düster die Welt auch war, in der das Schreckliche geschah, man hoffte immer auf einen positiven Ausgang. Dornröschen ist aus ihrem hundertjährigen Schlaf wieder aufgewacht, und dem armen Königskind wurde das Herz auch nicht herausgeschnitten.

Daran sollte Bronski glauben. Und das tat er auch.

Albert hatte es in seinen müden, verzweifelten Augen gesehen, als Bronski ausstieg, war da keine Gegenwehr mehr, nur noch Sorge. Beinahe rührend. Der Vater, der nach so vielen Jahren endlich sein verschollenes Kind wiedergefunden hatte und alles dafür gab, es endlich wieder in die Arme schließen zu können. Ein schöner Gedanke war es, der Bronski antrieb, der ihm den klaren Blick auf die Dinge verstellte. Laufenberg hatte ihm Hoffnung gemacht. Hoffnung, für die es aber in Wirklichkeit keinen Anlass gab. Albert hatte nämlich weitergedacht, als Bronski es konnte.

Er hatte alle Weichen gestellt.

Die richtigen Entscheidungen getroffen.

In dem Moment, in dem Rebecca herausgefunden hatte, dass alles eine Lüge war, hatte er begonnen, die Zukunft zu gestalten. Es war ein Glück, dass er das Testergebnis in die Hände bekommen hatte. Er hatte bereits geahnt, dass sie so etwas vorgehabt hatte. Dieses Praktikum im DNA -Labor. Diese Zweifel, die er schon seit Jahren in ihrem Gesicht sah. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihre Neugier alles zerstören würde. Deshalb war Albert in ihr Zimmer gegangen, als sie nicht da gewesen war. Er hatte alles durchwühlt. Und diesen Zettel gefunden. Da standen keine Namen, aber es war klar, worum es sich handelte. Ein Testergebnis.

Übereinstimmung in Prozentzahlen.

Es waren zu wenig.

Von einem Tag zum anderen veränderte sich alles.

Rebecca wusste Bescheid. Und Albert ging damit um.

Alles, wofür er ein Leben lang gearbeitet hatte, war in Gefahr. Seine perfekte Welt drohte einzustürzen, das Geheimnis, das er und seine Frau so lange gehütet hatten, war keines mehr. Albert war überzeugt davon, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Rebecca die ganze Wahrheit herausfinden würde. Sie hätte nicht aufgehört, Fragen zu stellen, und es war klar, dass Margit früher oder später zusammengebrochen wäre und die Wahrheit gesagt hätte. Sie hätte Rebeccas Druck niemals standgehalten.

Sie hätte ihre Fragen nicht beantworten können.

Wer ist mein Vater?

Mit wem hast du damals geschlafen?

Mit wem hast du Papa betrogen?

Hattest du ein Verhältnis?

Das hatte sie nicht.

Alberts Frau war immer loyal gewesen, sie hatte ihm nie einen Grund gegeben, ihr zu misstrauen. Sie hatte es ihm immer gedankt, dass er ihr damals ermöglicht hatte, dieses Kind anzunehmen.

Margit war immer auf seiner Seite gestanden.

Und er hatte sie geliebt.

Aber die Liebe reichte nicht aus, um alles dafür aufs Spiel zu setzen.

Sie hatten all die Jahre eine perfekte Ehe geführt, Margit funktionierte wie ein Uhrwerk, sie log und spielte die liebevolle Mutter. Und dass sie sechs Jahre nach der vermeintlichen Geburt von Rebecca wie durch ein Wunder noch ein eigenes Kind bekam, band Albert und Margit noch mehr aneinander.

Alberts Traum vom eigenen Fleisch und Blut war in Erfüllung gegangen, das fremde Fleisch war plötzlich nicht mehr wichtig. Rebecca stand mit einem Mal in der zweiten Reihe, Albert entzog ihr seine Liebe. Seine Zuneigung verebbte. Rebecca löste sich auf. Mit den Jahren verschwand sie immer mehr aus seinem Leben, er hielt das Bild der glücklichen Familie nur aufrecht, weil er keine andere Wahl hatte.

Sophie war die geliebte Prinzessin.

Rebecca das geduldete Übel.

Als er die Chance bekam, dieses Übel loszuwerden, nutzte er sie.

Albert Laufenberg grinste zufrieden in sich hinein und startete den Wagen. Ohne sich noch einmal zu Bronski umzudrehen, fuhr er los. Guten Mutes verließ er das Friedhofsareal. Es würde alles so kommen, wie er es sich ausgemalt hatte.

Bronski würde endlich die Wahrheit sagen.

Die Polizei würde den Kopf in seiner Dunkelkammer finden.

Und die Medien würden darüber berichten.

Der gebürtige Innsbrucker David Bronski war besessen von der Idee gewesen, Zita Laufenberg habe 1999 sein Kind entführt. Blind vor Wut hatte er vor einundzwanzig Jahren eine Unschuldige getötet.

Weil der vom Schicksal gebeutelte und depressive Fotograf Geld brauchte, hatte er nach all der Zeit den Tatort wieder betreten, Bilder der Leiche gemacht und sie gewinnbringend verkauft.

Erneut hatte er sich von dem schrecklichen Gedanken antreiben lassen, dass die Familie Laufenberg hinter allem steckte. Der Schmerz über den Verlust seiner Tochter hatte ihn dazu gebracht, Albert Laufenbergs Tochter zu entführen, und sie mit aller Wahrscheinlichkeit zu töten und verschwinden zu lassen.

So ähnlich würde es in den Zeitungen stehen.

Es waren die Taten eines Verzweifelten, den die berufliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Tod und der Selbstmord seiner Frau in den Wahnsinn getrieben hatten.

So würde man es sich erklären.

Am Ende war alles gut.

Wie im Märchen.