FÜNFZIG

JUDITH BRONSKI & DAVID BRONSKI

– Ich hasse Krankenhäuser.

– Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme.

– Wo warst du denn so lange?

– Bei der Polizei. Sie haben mich stundenlang vernommen. Ich konnte nicht weg, bitte verzeih mir.

– War verdammt knapp, habe ich gehört. Anscheinend hast du ihn beinahe umgebracht. Er soll ganz schön was eingesteckt haben.

– Hat er.

– Das freut mich.

– Ich war so wütend. Verzweifelt. Ich dachte, dass ich dich nie wiedersehen werde.

– Wir hatten wohl beide Glück.

– Wenn du mich nicht angerufen hättest, wäre ich jetzt nicht hier. Fünf Minuten später und Laufenberg hätte aufgehört zu atmen. Wir hätten uns in den nächsten zwanzig Jahren nur in irgendeinem versifften Besucherraum sehen können.

– Das wäre schade gewesen.

– Wäre es.

– Obwohl er es eigentlich verdient hätte.

– Hätte er.

– Ich bin trotzdem froh, dass du es nicht getan hast. Und auch, dass Kurt mir mein Telefon dagelassen hat. Irgendwie habe ich es wohl gespürt, dass du in der Klemme steckst.

– Woher hattest du meine Nummer?

– Von deiner Chefin. Ich habe in der Redaktion angerufen und gesagt, dass es um Leben und Tod geht. War im Nachhinein gesehen ja gar nicht ganz falsch.

– Ich bin dir sehr dankbar.

– Gern geschehen.

– Wie lange musst du denn noch bleiben?

– Noch einen Tag zur Beobachtung. Schadet aber nicht, wenn man bedenkt, was dieser Psychopath alles in mich hineingepumpt hat. Dass ich noch lebe, ist ein Wunder, haben die Ärzte gesagt.

– Ja, das ist es. Ein Wunder.

– Weinst du?

– Nein.

– Natürlich weinst du. Erstaunt mich. Nach dem, was du mit Albert gemacht hast, dachte ich, dass du einer von den harten Jungs bist.

– Normalerweise mache ich so etwas nicht.

– Normalerweise? Ich muss also keine Angst vor dir haben?

– Nein, musst du nicht.

– Hat mir deine Freundin auch gesagt, als sie hier war, um das Interview mit mir zu machen.

– Sie ist nicht meine Freundin.

– Doch, das ist sie. Und ich denke, du kannst froh sein, dass du sie hast. Svenja hat mir nur Gutes über dich erzählt.

– Hat sie?

– Sie muss zwar ganz schön irre sein, wenn sie sich mit dir einlässt, aber mein erster Eindruck sagt mir, dass sie eine von den Guten ist.

– Ja, das ist sie. Kannst dich darauf verlassen, dass sie deine Geschichte nicht verdrehen wird. Svenja ist wirklich gut in ihrem Job.

– Du auch. Habe dich gegoogelt. Mir deine Bilder im Netz angesehen. Scheinst ein guter Fotograf zu sein.

– Du verstehst etwas davon?

– Nein. Würde ich aber gerne. Ich habe es immer gehasst, Medizin zu studieren. Albert wollte, dass ich das mache, nicht ich. Am liebsten würde ich damit aufhören. Etwas ganz anderes machen.

– Das kannst du. Laufenberg wird sich nie wieder in dein Leben einmischen. Man wird ihn für viele Jahre wegsperren, du musst dir keine Sorgen mehr machen.

– Das hat auch dieser Polizist aus Tirol gesagt. Weichenberger. Er war vorhin hier. Sagte, dass er zuversichtlich ist, ihn nicht nur wegen Kindesentführung dranzukriegen. Früher oder später wird er ihm auch die Morde an seiner Mutter und an seiner Frau nachweisen können. Er rechnet fest damit, dass er Kurt finden und ihn dazu bringen wird, auszusagen. Dann geht Albert Laufenberg endgültig unter.

– Weißt du, wo er hin ist? Kurt, meine ich. Hat er etwas gesagt? Angedeutet, was er vorhat?

– Er sprach von einem Strand in Südamerika. Aber ich denke nicht, dass er es so weit schafft. Der Mann ist völlig am Ende. Irgendwie hat er mir leidgetan.

– Er hat dich entführt. Dich beinahe umgebracht. Und er tut dir leid?

– Ja. Im Gegensatz zu dem Mann, der ein Leben lang behauptet hat, mein Vater zu sein, hat Kurt ein Gewissen. Was er getan hat, belastet ihn. Man könnte sagen, er hat seine Seele dem Teufel verkauft. Aber er hat es Gott sei Dank noch rechtzeitig begriffen. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum er mich hat laufen lassen.

– Wenn Weichenberger ihn nicht findet, dann werde ich es tun.

– Das musst du nicht. Der arme Kerl wird sich ohnehin zu Tode saufen. Sein Leben ist zu Ende. Unseres fängt gerade erst an.

– Wahrscheinlich hast du recht.

– Wobei Weichenberger noch etwas gesagt hat. Etwas über dich.

– Und das wäre?

– Du musst wohl mit einer Anklage wegen Körperverletzung rechnen. Er sagt, die besonderen Umstände würden aber für dich sprechen. Du hast das schließlich ja nur deshalb gemacht, weil du mich retten wollest.

– Könnte man so sehen.

– Er sagt, du sollest dir einen guten Anwalt nehmen.

– Das werde ich. Musst dir keine Sorgen machen, Judith.

– Judith?

– Oh, verzeih. Rebecca natürlich.

– Nein. Judith ist gut. Ich denke, ich kann mich daran gewöhnen.

– Ist für uns beide nicht ganz leicht, das alles.

– Ist es nicht, nein.

– Laufenberg hat mir erzählt, dass er deine Mutter umgebracht hat.

– Ich weiß. Kurt hat sie mit Chloroform betäubt, sie im Hotel in die Badewanne gelegt und ihr die Pulsadern aufgeschnitten.

– Ich meinte deine richtige Mutter. Mona. Die Kellnerin, die dich damals in Berlin angesprochen hat.

– Nein. Das hat er nicht.

– Doch.

– Was ist das nur für ein Unmensch.

– Ich dachte immer, dass sie es selbst getan hat. Ich dachte, dass sie dieses Leben nicht mehr ausgehalten hat. Dass sie keine Kraft mehr hatte, sich nach dir zu sehnen. Dass sie mich allein gelassen hat.

– Erzähl mir von ihr.

– Sie war der wunderbarste Mensch, den ich kenne. Liebevoll, witzig, sie war eine Kämpferin. Mona hat immer daran geglaubt, dass du zurückkommst. Du warst ihr wichtiger als alles andere sonst. Und das hat er ausgenützt.

– Wie meinst du das?

– Ich möchte dir nur sagen, dass sie dich geliebt hat. Von der ersten Minute an. Bis zu dem Moment, in dem sie gestorben ist.

– Wie hat er es gemacht?

– Das musst du nicht wissen.

– Doch, das muss ich. Du hast mir in der Kneipe doch erzählt, dass sie von einem Hochhaus gesprungen ist. Wie kann er sie umgebracht haben?

– Er hat sie dazu gezwungen. Sie musste springen.

– Er hat ihr gedroht?

– Mona hatte keine Wahl.

– Warum nicht?

– Sie musste sich entscheiden. Du oder sie.

– Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist.

– Das kann ich leider nicht.

– Dieses Schwein. Hat die Menschen immer schon dazu gebracht, das zu tun, was er von ihnen wollte. Er hat einen gegen den anderen ausgespielt. Seit ich denken kann, war das so.

– Das tut mir alles so leid, Judith.

– Mir auch.

– Dich wiederzusehen war alles, was ich mir gewünscht habe. Ich wollte nichts anderes auf der Welt. So lange Zeit. Und jetzt sind wir hier. Einfach so. Du und ich.

– Schön ist das.

– Darf ich deine Hand halten?

– Meine Hand?

– Ich dachte nur … Dass ich vielleicht … Ach, ich weiß nicht, was ich dachte. Auf keinen Fall möchte ich dich unter Druck setzen.

– Das machst du nicht. Fühlt sich nur irgendwie komisch an.

– Klar. Verstehe ich.

– Obwohl wir ja jetzt eigentlich eine Familie sind, oder?

– Sind wir, ja.

– Dann wäre das mit der Hand doch irgendwie in Ordnung.

– Wäre es.

– Dann nimm sie bitte.

– Jetzt?

– Du hast einundzwanzig Jahre lang darauf gewartet, oder?

– Das habe ich.

– Na dann.