Benny

War ich gemein? Ich hab es nicht so gemeint. Gemein zu sein, meine ich. Mist. Ich hasse es, wenn Wörter so was machen. Am besten fange ich noch mal von vorn an.

Ihr müsst verstehen, dass ich ein kleiner, ahnungsloser Junge war, der nur wusste, dass sein Dad, der ihn geliebt hatte, auf dumme, schreckliche Weise ums Leben gekommen war, und dass seine Mom, die ihn auch lieb hatte, gerade auf genauso dumme und schreckliche Weise durchdrehte. Aber weil ich es nicht besser wusste, dachte ich, das wäre normal. Ich meine, Dads verschwinden schließlich manchmal. Das wusste ich von den Kids in der Schule. Vielleicht werden sie nicht gerade von einem Hühnerlaster überfahren, aber sie lassen sich scheiden und Familien werden auseinandergerissen und Moms drehen durch. Bevor die Stimmen anfingen, war es mir nie in den Sinn gekommen, dass meine Situation nicht normal sein könnte, und auch dann begriff ich es zuerst nicht. Ich meine, es ist total normal, wenn irgendwelche Leute verrückte Sachen machen, aber wenn Alltagsgegenstände und Kleider und sogar dein Abendessen sich plötzlich aufführen, als wären sie Disney-Figuren, mit Mündern und Augen und einer eigenen Meinung und einem freien Willen, dann muss man ja kapieren, dass irgendwas nicht stimmt. Willenskraft. Das ist das Wort, das ich meine. Die Spareribs und Flanellhemden. Die Glückskekse und die Gummiente. Sogar die Essstäbchen mussten unbedingt was loswerden.

Das mit den Disney-Figuren habe ich nicht wörtlich gemeint. Ihnen wuchsen nicht plötzlich riesige Goofy-Augen, oder sie bekamen elastische Münder oder so was. Es war eher so, dass sie die Fähigkeit entwickelten, sich auszudrücken – aber vielleicht konnten sie das auch schon vorher. Vielleicht haben sie uns schon immer beobachtet und schon seit Anbeginn der Zeit gejammert. Und nur weil wir Menschen sie nicht hören, denken wir, dass sie alle blind, stumm und gefühllos sind. Das trifft es wohl ganz gut. Und Dinge wollen nicht von uns beurteilt werden, da bin ich mir sicher.

Ich glaube, dass es am Anfang nichts mit mir persönlich zu tun hatte. Die Gegenstände haben nicht mit mir geredet, sonst wäre ich erst recht ausgeflippt. Am Anfang haben sie einfach nur geredet, vielleicht miteinander oder mit den Molekülen in der Luft oder mit dem ganzen Universum, wie sie es schon immer getan haben. Aber dann wurden meine Ohren empfindsamer, und als sie merkten, dass ich Ohren hatte, die hören konnten – übernatürliche Ohren –, versuchten sie, zu mir Kontakt aufzunehmen, aber sie redeten in der Sprache von Dingen, also konnte ich sie natürlich nicht verstehen.

Zuerst war ich mir nicht sicher, ob es überhaupt Stimmen waren. Menschen haben Stimmen und geben Laute von sich – okay, Tiere können Stimmen haben, und Vögel auch –, also sagen wir, lebende Dinge haben Stimmen. Und wenn eine Stimme was von sich gibt, hat es normalerweise eine Bedeutung. Aber das waren willkürliche, wahllose Laute, und falls sie irgendwas bedeuteten, dann konnte ich es jedenfalls nicht verstehen. Das muss den Dingen ganz schön gestunken haben. Ich meine, endlich taucht jemand auf, der sie hören kann, und dann ist es nur ein kleiner, ahnungsloser Junge! Kein Wunder, dass sie die ganze Zeit so patzig und gereizt klangen.

Manche hörten sich fürchterlich an, metallisch und schrill wie knirschende Gänge, sodass man sich am liebsten den Kopf eingeschlagen hätte. Andere waren zwar unmenschlich, aber trotzdem angenehm wie der Wind oder die Wolken oder das Wasser. Zuerst kapierte ich nicht, wo die Stimmen überhaupt herkamen. Wie wenn du das Gefühl hast, ein Gedanke ist außerhalb von deinem Kopf, aber du weißt genau, dass er drin ist. Okay, die Stimmen waren nicht meine Gedanken. Sie waren außerhalb. Sie waren irgendwie anders.

Irgendwann reimte ich mir zusammen, dass sie von den Gegenständen um mich herum stammten. Und ich dachte mir, dass man sie schon als Stimmen bezeichnen könnte, weil die Dinge immerhin versuchten, was Sinnvolles zu sagen, auch wenn sie nicht lebendig waren. Ich verstand vielleicht nicht alles, aber ich konnte ihre Gefühle ahnen. Dinge sind wirklich gut darin, ihre Gefühle zu vermitteln. Weißt du, es ist, wie wenn du deinen Schlüssel nicht finden kannst oder wenn dir der Verschluss der Zahnpastatube aus der Hand rutscht und spurlos verschwindet oder wenn eine Glühbirne durchbrennt, genau dann, wenn du das Licht anknipsen willst. Dieser Scheiß bedeutet was, auch wenn du die Stimmen nicht hören kannst, aber wenn du sie hörst, hast du echt ein Problem. An einem miesen Tag konnte ich nicht mal in einen Coffeeshop gehen, ohne wahnsinnig zu werden, und das ist heute noch so. An miesen Tagen muss ich bloß die Tür von einem Starbucks öffnen, und schon surren die Neonleuchten, als hätten sie Angst, und die Kaffeebohnen fangen an zu schreien, und der Schmerz der Pappbecher und der Plastikstrohhalme springt mich an, und dann nervt auch noch das Geschnatter der arroganten Münzen in der Registrierkasse, die glauben, sie wären was wert. Der einzige Unterschied ist, dass ich inzwischen nicht mehr den Drang habe, meinen Kopf gegen die Vitrine mit den Muffins zu knallen. Ich höre den Schmerz und wehre mich nicht mehr dagegen, was offenbar eine beruhigende Wirkung auf sie hat.

Es ist allerdings nicht immer so schlimm. Manchmal sind die Stimmen auch richtig angenehm, wie bei dieser Gummiente, die meine Mom im Müll gefunden hat. Ich meine nicht dieses schreckliche Gequietsche, das die Ente von sich gibt, wenn man sie zusammendrückt, sondern die anderen Stimmen, die mehr wie ihre Erinnerungen ans Meer und an die Gezeiten, an die Wellen und die Küste klingen, oder manchmal auch verträumt, weicher und sanfter, als hätte jemand ganz Besonderes sie mit dem Finger berührt.

Und da ist noch etwas, was ihr wissen müsst, damit ihr euch keine falschen Vorstellungen macht. Es sind nicht nur die menschengemachten Dinge, die reden. Wahrscheinlich ist es für sie einfacher, weil ihnen die Stimmen ihrer menschlichen Erzeuger noch anhaften wie ein Geruch, der in den Kleidern hängenbleibt und den man nicht mehr los wird. Nicht-menschengemachte Dinge wie Bäume oder Kieselsteine sprechen auch, aber ihre Stimmen klingen anders. Nicht-menschengemachte Dinge sind normalerweise viel stiller, schreien nicht so viel herum und haben eine tiefere Stimmlage. Keine Ahnung, warum das so ist, aber vielleicht kann das Buch es erklären. Ich weiß nur, dass es eine Weile gedauert hat, meine Ohren auf die nicht-menschengemachten Dinge einzustellen, damit ich sie trotz des Lärms der menschengemachten verstehen konnte.

Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich es war, der sich auf die Stimmen eingestellt hat, oder ob es die Dinge selbst waren, die gelernt haben, sich so auszudrücken, dass ich sie hören konnte. Wahrscheinlich beides. Wahrscheinlich haben wir uns gegenseitig trainiert. Und es hat eine Weile gedauert. In den ersten Monaten tauchten die Stimmen auf und verschwanden wieder, und manchmal hörte ich sie wochenlang nicht. Vielleicht waren sie einfach nur frustriert, haben mich aufgegeben und sind verschwunden. Aber sie kamen immer wieder zurück. Jedes Mal, wenn ich sie fast vergessen hatte und schon dachte, dass ich ja vielleicht wieder normal werden könnte, machte plötzlich ein Hefter oder ein Eiswürfelbehälter eine Bemerkung, und schon quasselten alle los. Jeder hatte eine eigene Meinung. Jeder wollte seine Geschichte erzählen.

Seit ich sie zum ersten Mal hörte, habe ich viel über die Stimmen nachgedacht, habe mit meinen Therapeuten darüber geredet, mit der Schulpsychologin und später auch auf der Station in der Klinik. Aber dazu komme ich noch – oder das Buch übernimmt das, da es ja die Geschichte erzählt. Aber das ist okay für mich. Ich bin es gewöhnt, dass man über mich redet, und es stört mich nicht, solange es nicht irgendwelche bescheuerten Ärzte sind, die mich irgendwie wieder hinkriegen wollen. Es ist besser so, weil Teile meiner Geschichte, zum Beispiel, wie meine Mom und mein Dad sich kennenlernten, vor meiner Geburt geschahen oder als ich noch zu klein war, um mich daran zu erinnern, und weil es andere gibt, die ich gern vergessen möchte. Also ist es okay für mich, wenn vor allem das Buch erzählt. Ich denke, es ist im Grunde ein ehrliches Buch und ziemlich zuverlässig, und es stört sich nicht daran, wenn ich ab und zu auftauche und es unterbreche, um meine Meinung von mir zu geben.

Es geht mir vor allem darum, dass ihr wisst, dass ich ernsthaft darüber nachgedacht habe, was mir passiert ist, damit ihr mich nicht als irgendeinen Irren abstempelt, der sich einbildet, eine Art Botschafter für die Dinge der Welt zu sein. Ich glaube nicht, dass ich auserwählt bin. Schließlich habe ich es mir ja nicht ausgesucht, der Fürsprecher von so einem scheiß Tischbackofen zu sein, auch wenn der das glaubt.