Das Buch

Benny? Bist du da? Redest du immer noch nicht mit uns?

Du kannst versuchen, uns auszublenden, aber die Erinnerungen sind noch da. Und wir wissen, wo wir sie finden.

Also schön. Du lässt uns keine andere Wahl. Dann müssen wir leider ohne dich weitermachen.

63

Deine Lehrerin fand das Buch aus der Bibliothek, das du verunstaltet hattest. Sie sah die durchstochenen Punkte, die durchlöcherten Seiten und stellte dich zur Rede. Zuerst hast du alles abgestritten, aber dann hielt sie ein Blatt ans Fenster.

»Sieh’s dir an!«, sagte sie.

Das Licht der tief stehenden Herbstsonne fiel durch die Löcher; dünne, helle Strahlen schossen durch die winzigen Nadelstiche. Es sah wunderschön aus. Warum waren nicht alle Seiten so schön? Aber als du genauer hinsahst, warst du irritiert. Du hattest erwartet, dass das Blatt weiß und leer sein würde, aber die Wörter waren alle noch da. Du dachtest, du hättest sie befreit, ihnen die Flucht ermöglicht, aber stattdessen standen sämtliche Wörter und Buchstaben ordentlich in Reih und Glied und dienten ihren Sätzen, während die Seite vor Schmerz aufschrie. Das war zu viel. Wie konnten Wörter nur so unterwürfig sein? So blind gegenüber den Konventionen, die sie einschränkten? Kritiklos den Status quo akzeptieren?

Du schlugst mit der Stirn auf den Tisch, immer wieder. Daraufhin rief die Lehrerin den ärztlichen Notdienst.

In Dr. Melanies Praxis hast du beschlossen, die Wahrheit zu sagen.

»Es ist ein Buch «, hast du geflüstert.

Dr. Melanie beugte sich vor. An diesem Tag waren ihre Nägel hellblau lackiert. »Ich versteh dich nicht, Benny. Warum flüsterst du? Kann du nicht etwas lauter sprechen?«

»Nein. Dann hört es mich.«

»Was hört dich?«

»Das Buch. Es kommt in meinen Kopf. Es liest meine Gedanken. Es macht lauter beschissenes Zeug.«

»Was für Zeug, Benny?«

Du warst nicht bereit, ihr zu erzählen, dass du das Aleph auf dem Berg geküsst hattest. Das ging niemanden was an. Du hast die Arme um dich geschlungen und zu schaukeln angefangen.

»Benny? Erzählst du mir davon?«

»Irgendwelches Zeug. Es baut Scheiße und erzählt dann jedem von meinem Leben, und ich kann nichts dagegen machen. Ich komm nicht von ihm los!«

»Ist dieses Buch eine deiner Stimmen?«

»Ja, natürlich!«, hast du gerufen. »Es ist die Stimme aller Stimmen, führt sich auf wie Gott der Allmächtige. Es weiß alles über mich, meine Mom und über irgendwelche anderen Leute. Auch über Sie.«

»Über mich?«

Du hast sie lauernd angesehen. »Es gelangt auch in Ihren Kopf. Es weiß, was Sie denken, und erzählt es dann weiter. Spüren Sie es nicht?«

Sie wich zurück und machte ein verdutztes Gesicht. »Ich spüre nichts, Benny!«

Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Resigniert hast du den Kopf auf den Tisch sinken lassen.

»Benny? Sprich mit mir.«

»Was soll das bringen?« Du hast gespürt, dass sie dich mit einem verständnisvoll-besorgten Blick beobachtete. »Warum versuchen Sie nicht mal, mir zu glauben? Was ist, wenn ich die Wahrheit sage?«

»Dass in meinem Kopf ein Buch ist, das weiß, was ich denke?«

»Ja.«

»Weil ich nicht glaube, dass das stimmt, Benny. Warum sollte ich?«

»Weil es wirklich da ist! Es sieht alles, und wenn Sie nicht aufpassen, dann bringt es Sie auch dazu, Scheiße zu bauen.«

»Bringt es dich dazu, bestimmte Dinge zu tun?«

»Ja! Das hab ich Ihnen doch gesagt! Warum hören Sie mir denn nicht zu?«

»Benny, beruhig dich. Atme tief ein. Jetzt erzähl mir mal genau, was du glaubst, wozu das Buch dich bringt.«

Du hast deine Atemzüge gezählt.

»Sagt dir das Buch, dass du dich verletzen sollst?«

Deine langen Ärmel verdeckten die Sterne auf deinem Unterarm. Die Wunden waren gut verheilt, und man sah nur noch kleine Narben. Du hast an deinem Ärmel gezupft und den Kopf geschüttelt. »Nein.«

»Sagt dir das Buch, dass du andere Menschen verletzen sollst?«

»Nein, natürlich nicht«, hast du entnervt geantwortet. »Es ist ein Buch! Und keine Schere!«

Du warst dir so sicher. Es leuchtete dir ein, dass ein Buch Gedanken lesen konnte, aber dass es dich dazu bringen könnte, jemanden zu verletzten, war dir nie in den Sinn gekommen. Aber als Dr. Melanies Frage zwischen euch im Raum stand, kamen dir Zweifel.

»Ich glaub nicht, dass Bücher so was können …«, sagtest du. »Oder?«

Ein Schatten ging über dein Gesicht, und in diesem Moment änderte sich etwas. Wir merkten es sofort. Zum ersten Mal hast du begriffen, welche Macht Bücher haben und wozu wir fähig sind. Und du hast es mit der Angst zu tun bekommen. Sobald ein Gedanke gedacht wird, lässt er sich nicht mehr rückgängig machen. Wenn Vertrauen missbraucht wurde, wie kann es je wieder hergestellt werden? Es gibt keine einfachen Antworten.

64

Warum versuchen Sie nicht mal, mir zu glauben ?

Sie saß mit geschlossenen Augen und Ohrenstöpseln an ihrem Schreibtisch und versuchte, den Kopf freizubekommen, bevor ihr nächster Patient eintraf. Aber die Frage des Jungen ließ ihr keine Ruhe, und die neue Meditations-App war ihr da auch keine große Hilfe. Als Hintergrundmusik hatte sie »Regentropfen auf Blättern«, gewählt, aber der Regen hörte sich an wie Radiorauschen, und das irritierte sie. Sie öffnete die Augen und suchte nach einer entspannenderen Untermalung. Es gab verschiedene Arten von Niederschlägen. Wäre »Strömender Regen« vielleicht besser? Oder »Nieselregen«? Wie wär’s mit »Gewitter«? Nein, zu viel Donner. Vielleicht sollte sie es mit Schnee versuchen. »Schneeflocken im Mondlicht« klang gut.

Früher brauchte sie keine Hintergrundmusik zum Meditieren, aber in letzter Zeit war ihr Geist zu sprunghaft, und ihre Gedanken gönnten ihr keine Ruhe. Sobald ein Gedanke auftauchte, ließ er sie nicht mehr los. Fühlte sich so Perseveration an? War das ein Hinweis darauf, dass ihre geistige Flexibilität nachließ? Wurde sie langsam alt?

Warum versuchen Sie nicht mal, mir zu glauben ? Was ist, wenn ich die Wahrheit sage?

Natürlich gab es in ihrem Kopf kein Buch, das ihre Gedanken wiedergab und sie zwang, bestimmte Dinge zu tun. Das wäre wahnhaft, aber Bennys Frage ließ sie nicht los. Warum versuchte sie nicht, ihm zu glauben? Was hielt sie davon ab, sich vorzustellen, wie es wäre, die Stimme eines Buchs zu hören, das sich in ihrem Kopf befände, und daran zu glauben, dass sie real war?

Das waren Fragen, mit denen sie sich unbedingt eingehender beschäftigen sollte. Sie wünschte, sie könnte sich ihre Notizen zu Benny Ohs Fall daraufhin noch einmal genauer ansehen. Sie glaubte zwar nicht, dass in ihrem Kopf ein Buch war, aber ihr Kopf fühlte sich oft genug wie ein Buch an, vollgestopft mit den Geschichten ihrer jungen Patienten, die sie wirklich gern loswerden würde. Schreiben würde zweifellos helfen – Freud schrieb schließlich die Geschichten seiner Patienten auf, und seine Bücher hatten dazu beigetragen, dass sie sich diesen Beruf ausgesucht hatte. Aber die Zeiten detaillierter psychoanalytischer Fallberichte waren leider vorbei; jetzt kam sie kaum noch dazu, eine kurze Einschätzung und Behandlungsvorschläge zu notieren. Die Klinik war aus Angst vor Klagen auch nicht an ausführlicheren Berichten interessiert. Aber wenngleich es nicht ratsam war, ihre Bedenken aufzuschreiben, hieß das noch lange nicht, dass sie keine hatte. Benny Ohs Fall gab ihr Rätsel auf. Obwohl der Junge Symptome von Schizophrenie zeigte, hatte sie Zweifel an ihrer Diagnose. Und jetzt, da er offenbar in eine akute psychotische Phase eintrat, musste sie unbedingt eine wirkungsvolle Behandlungsmethode finden. Sie war noch eine junge Ärztin und verfügte über relativ wenig klinische Erfahrung. Sie nahm ihren Beruf ernst, war gewissenhaft und hatte den Jungen und seine Mutter ins Herz geschlossen. Sie litten, und sie wollte ihnen helfen. Als wir das begriffen, empfanden wir so etwas wie eine Seelenverwandtschaft zwischen uns. Ihr Wunsch war unserem nicht unähnlich.

Sie holte tief Luft, als ihr Bennys Frage wieder in den Sinn kam. Sie sollte wirklich versuchen, ihm zu glauben, und wenn ihr das nicht gelang, könnte sie zumindest versuchen, sich in ihn hineinzuversetzen. Was wäre, wenn es tatsächlich ein Buch in ihrem Kopf gäbe, das ihre Gedanken lesen konnte? Was, wenn ein Bleistift sprechen konnte? Was, wenn sprechende Objekte real waren? Und was war überhaupt »real«?

In diesem Moment unterbrach ein Donnerkrachen ihre Gedankenschleife. Donner? Gab es in »Schneeflocken im Mondlicht« Donner? Ungehalten zog sie ihre Ohrenstöpsel heraus und öffnete die Augen. Regen trommelte gegen das Fenster. Das Glöckchen im Wartezimmer bimmelte. Ein Blitz erhellte den dunklen Himmel.

65

Liebe Ms. Konishi,

ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten. Sie müssen mich für eine richtige Heulsuse halten, aber eigentlich bin ich ein ziemlich optimistischer Mensch. Ich mache nur gerade eine schwierige Phase durch. Aber ich bin sicher, dass auch wieder bessere Zeiten kommen, und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie für mich da sind und dass ich Ihnen schreiben darf. Zuerst hatte ich gehofft, dass Sie mir antworten würden, aber inzwischen glaube ich, dass es so besser ist. Das heißt nicht, dass ich mich nicht riesig freuen würde, wenn ich eine E-Mail von Ihnen bekäme. Aber wenn Sie mir schreiben würden, dann wären Sie »real« und ich fände es schwieriger, Ihnen etwas anzuvertrauen. Aber so sind Sie für mich nicht real, und ich kann Ihnen alles erzählen, was mir in den Sinn kommt. Also schreiben Sie mir bitte auch in Zukunft nicht zurück. Und lesen Sie meine Mails am besten auch gar nicht.

Mein größtes Problem ist zurzeit, dass es Benny, meinem Jungen, nicht so gut geht und dass ihn seine Ärztin wieder in die Klinik einweisen will. Sie hat ihm schon wieder andere Medikamente verschrieben, was immer ein großes Problem ist, weil wir nie wissen, wie Benny darauf reagiert. Benny ist nicht sonderlich glücklich darüber, und ich bin ganz krank vor Sorge. Um ehrlich zu sein, bricht es mir das Herz.

Und dann ist vor Kurzem noch etwas ganz Merkwürdiges passiert, etwas, was mich sehr erschüttert hat. Sie erinnern sich bestimmt noch, dass ich Ihnen von den Krähen meines Mannes erzählt habe und dass sie mir immer kleine Geschenke gebracht haben. Nichts Wertvolles, aber es war für mich immer so, als kämen die Geschenke von Kenji. Benny lacht über mich, aber ich weiß, dass er die Krähen seines Dads auch mag. Wenn wir nach draußen gehen, fliegen sie immer zum Futterhaus, und letzte Woche habe ich Mister, meine Lieblingskrähe, dazu gebracht, einen Mondkuchen aus meiner Hand zu fressen. Ich war so glücklich! Aber gestern, als ich rausgegangen bin, wollten sie nicht näherkommen. Sie saßen ganz still auf dem Zaun und haben mich beobachtet. Das war richtig unheimlich. Ich hab die Mondkuchen ins Futterhaus gelegt, und gerade als ich wieder ins Haus gehen wollte, sah ich die beiden toten Vögel. Sie lagen am Fuß der Treppe, und ich wusste sofort, dass einer der beiden Mister war. Ich war ganz verzweifelt! Ich weiß ja, dass man Krähen nicht füttern soll, damit sie sich nicht an uns Menschen gewöhnen. Bei Wölfen und Bären, die im Wald leben, seh ich das auch ein, aber Krähen leben mitten in der Stadt, also sind sie sowieso schon an den Menschen gewöhnt. Mein erster Gedanke war, dass es alles meine Schuld war. Durch meine Fürsorge habe ich meine Lieblingskrähe getötet! Ich hab die beiden Vögel unter der Veranda versteckt, damit Benny sie nicht sieht. Ich wollte sie dann irgendwann später begraben.

Die Krähen wagten sich den ganzen Tag nicht zum Futterhaus, aber ich wusste, dass sie da waren. Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich, wie sie mich mit eingezogenen Köpfen beobachteten. Ich wollte Mister und seinen Freund begraben, aber ich konnte die Schaufel nicht finden, und dann musste ich arbeiten und dann kam Benny nach Hause. Er war völlig aufgelöst. Normalerweise sehen ihn die Krähen, wenn er aus dem Bus steigt, und begleiten ihn nach Hause. Aber an diesem Nachmittag fiel etwa einen Block von unserem Haus entfernt plötzlich eine Krähe vom Himmel und landete vor seinen Füßen. Sie war offenbar krank, bewegte sich aber noch, und so hob er sie auf. In diesem Augenblick fingen die anderen Krähen an zu kreischen und zu krächzen und griffen ihn an. Er rannte los, aber sie stürzten sich auf ihn, und eine hackte sogar auf seinen Kopf ein. Er zeigte mir die kranke Krähe, die er in sein Hoodie gewickelt hatte, aber da war sie schon tot.

Ehrlich gesagt, Ms. Aikon, wenn mein Sohn mir erzählt, dass Krähen vom Himmel fallen, dann frage ich mich natürlich, ob er lügt oder unter Halluzinationen leidet, auch wenn ich ihm gern glauben möchte. Aber an diesem Morgen habe ich mit eigenen Augen die beiden toten Krähen gesehen. Deshalb glaubte ich ihm. In meiner Situation lernt man, für Kleinigkeiten dankbar zu sein. Aber wir wissen natürlich immer noch nicht, was mit den Krähen los ist.

66

Sie beerdigten die ersten drei Krähen in ihrem Garten. Dazu gruben sie mit einem Schraubenzieher und einem großen Suppenlöffel ein Loch in die Erde. Das war ein mühsames Unterfangen, vor allem, weil Annabelle Angst hatte, dass die Ratten sie wieder ausgraben und auffressen würden, wenn das Loch nicht tief genug war. Benny sagte nichts dazu, aber nach einer Weile fragte er: »Warum tun wir das?«

Sie sah ihn überrascht an. Das war doch offensichtlich. Warum fragte er? »Die Krähen sind tot, Liebes. Wir müssen ein Grab ausheben, damit wir sie beerdigen können.«

Er seufzte. »Das weiß ich. Ich hab gefragt, warum.«

»Weil man das so macht, wenn jemand stirbt.«

»Du hast Dad auch nicht begraben. Du hast ihn verbrannt.«

»Wir haben ihn eingeäschert, Benny. So nennt man es bei Menschen. Und wir haben uns dazu entschlossen, weil man es in Japan so macht.«

»Ich nicht.«

»Stimmt. Du warst noch zu klein …«

Er wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab und blickte auf die toten Krähen. »Und Vögel grillt man?«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein.«

Er sagte nichts mehr und grub weiter, schlug mit dem Schraubenzieher auf den harten Boden ein, während sie mit dem Löffel die Erde wegschaufelte. Als das Loch groß genug war, legten sie die drei Krähen hinein. Ihre Körper fühlten sich ganz leicht an, fast schwerelos. Da kam ihr eine Idee. Sie humpelte ins Haus und kehrte mit einer Handvoll Nippes zurück – einer Schraube, einem Kronkorken, einem glänzenden Kieselstein –, die sie auf die toten Krähen legte.

»Bitte schön, Mister«, sagte sie und schaute traurig in das Loch. »Ein paar Spielsachen. Leb wohl. Du wirst mir fehlen. Du warst so eine lustige Krähe.« Sie wandte sich an Benny. »Möchtest du auch was sagen?«

»Zu den Krähen?«

»Ja, ein paar Worte zum Abschied?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Na gut. Dann begraben wir sie jetzt wohl besser.« Sie schob etwas Erde in das Loch. »Asche zu Asche, Staub zu Staub …«

»Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte Benny.

»Was wird ihnen nicht gefallen?«

»Verbuddelt zu werden. Es sind Vögel. Sie wollen an der Luft sein. Wir hätten eine Himmelsbestattung machen sollen.«

Sie wischte sich die Haare aus der Stirn. »Eine Himmelsbestattung? Was ist denn das?«

»Wie der Name schon sagt. Man beerdigt jemand an der Luft. So machen sie es in Tibet. Man trägt die Leiche auf einen Berg und lässt sie dort, damit sie bis zum Schluss im Freien ist.«

»Was für ein interessanter Gedanke!«

»Normalerweise macht man das mit Menschen, aber bei Tieren geht es auch.«

Woher wusste er so was? War das nicht irgendwie morbid? Musste sie sich Sorgen machen?

An diesem Abend konnte sie nicht einschlafen. Sie musste an Mister denken. Sie wusste nicht, warum, aber sie war sich sicher, dass er es war, der sie am Abend ihres Unfalls gefunden hatte. Mit einem Flattern war er auf ihrem Bauch gelandet und dann näher gehüpft, erst auf ihre Brust, dann zu ihrem Hals, bis unter ihr Kinn, wo er seinen Kopf schief legte und sie ansah. Sie erinnerte sich noch an die scharfen Krallen auf ihrer Haut, die er aber kurz darauf unter sein Gefieder steckte. Krah , krah , rief er, und nach und nach kamen die anderen Krähen angeflogen und bedeckten sie von Kopf bis Fuß, wärmten sie mit ihren Körpern und schützten sie mit ihren Flügeln vor dem Regen und der kalten Nachtluft. Es waren ihre Krähen. Sie hatten sie gerettet, und jetzt starben sie. Warum? Gab es etwa eine neue Variante der Vogelgrippe? Sie hatte vor einigen Jahren für eine Versicherungsgesellschaft die Verbreitung des H5 N1 -Virus verfolgt, als die Nachrichten voll waren von Geschichten über Massentötungen von Geflügel, das Hamstern von antiviralen Medikamenten und die drohende Gefahr einer Pandemie. Aber dann verschwand das Virus einfach aus den Schlagzeilen. Was war aus ihm geworden? War es mutiert? War es ansteckend? Auf Menschen übertragbar? Sowohl sie als auch Benny hatten die toten Krähen angefasst. Musste sie sich jetzt Sorgen machen?

Im Morgengrauen döste sie endlich ein. Nach dem Aufstehen suchte sie in ihrem Twitter-Feed nach #Krähen , #plötzlicher Tod , #Vogelgrippe , wurde aber nicht fündig. Erleichtert loggte sie sich in ihren Firmenaccount ein und überflog die ersten Nachrichten. In der Welt war so viel passiert, während sie sich von ihrem Sturz erholt hatte. In wenigen Tagen waren Wahlen, und die bizarren Wendungen im Präsidentschaftswahlkampf hatten enorme Auswirkungen auf die lokalen Wahlkämpfe, die sie auswertete. Ethnische Konflikte eskalierten, Kundgebungen arteten in Krawalle aus, und die Waldbrände an der Küste wüteten noch immer. Aber ihr fehlte die Zeit, um sich mit den Beiträgen zu befassen, die sie verpasst hatte. Sie starrte auf die maskenhaft-freundlichen Gesichter der Nachrichtensprecher, während ihre Worte an ihr vorbeidrifteten. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Litt sie immer noch unter den Nachwirkungen der Gehirnerschütterung?

Sie musste eine Pause machen. In der Küche fand sie einen trockenen Mondkuchen, der in den Wäschekorb gefallen war, und brach ihn in Stücke. Mister hatte es einmal geschafft, mit einem ganzen Mondkuchen davonzufliegen. Gieriger kleiner Kerl. Sie trat auf die Veranda, hoffte, das vertraute Krächzen zu hören, aber es waren keine Krähen zu sehen. Auch auf den Bäumen und Dächern rührte sich nichts. Es war ungewohnt still.

Da hörte sie von der Straße Kehrgeräusche. Sie humpelte die Stufen hinunter und schob mit ihrer Krücke den umgekippten Kinderwagen aus dem Weg. Das Geräusch kam aus der Richtung des Containers, den No-Good gemietet hatte. Sie bog um die Ecke des Doppelhauses und sah den Nachbarssohn mit einem alten Besen den Bürgersteig fegen. Auf dem Boden lag eine große Kehrschaufel und darauf war etwas Glänzendes, Schwarzes, Federiges. No-Good stellte den Besen zur Seite und entriegelte die Containertür. Sie schwang auf; das Ächzen des Metalls jagte Annabelle einen Schauer über den Rücken. Er hob die Schaufel auf und kippte den Inhalt hinein.

»He!«, rief sie und humpelte auf ihn zu.

Er drehte sich um, und die Containertür schlug zu. »Ich hab Sie gewarnt«, sagte er und versperrte ihr mit dem Besenstiel den Weg. »Ich hab Ihnen gesagt, dass Sie sie loswerden sollen.«

Sie drängte sich an ihm vorbei und riss die Tür auf. Zwischen den Müllsäcken lagen überall tote Krähen. Ihre kleinen, hübschen Körper waren wie Hände, die zum Gebet gefaltet waren. Ihr glänzendes Gefieder war staubig, und ihre Augen waren stumpf und leer. Sie stellte ihre Krücke ab und betrat den Container, um sie einzusammeln.

»Hey! Was soll’n das?«, rief No-Good.

Sie ignorierte ihn. Sie zog an der Vorderseite ihres Sweatshirts, machte ein kleines Nest und legte die toten Krähen hinein.

»Das dürfen Sie nicht«, sagte er und kam drohend mit seinem Besen auf sie zu.

Sie funkelte ihn an. »Sie haben sie umgebracht. Das heißt noch lange nicht, dass sie Ihnen auch gehören.«

Ein Krähenmord. Ein Krähenmörder.

»Das sind Drecksviecher. Ich hab Ihnen gesagt, dass Sie sie nicht füttern sollen.«

»Wie haben Sie es gemacht?«

Er zuckte mit den Achseln. »Rattengift«, antwortete er. »Sie haben mich auf die Idee gebracht. Mit den Mondkuchen, mein ich. Haben alles brav gefressen.« Er schien auch noch stolz darauf zu sein.

»Sie widern mich an«, sagte sie und wandte sich ab. »Sie sind ein grausamer Mensch.« Sie legte die letzte Krähe in die Kuhle ihres Sweatshirts und drückte das Bündel an sich.

»So dürfen Sie nicht mit mir reden. Ich hab Ihnen das Leben gerettet. Schon vergessen?«

»Nein«, erwiderte sie. »Das waren die Krähen. Die haben mir das Leben gerettet. Sie haben auf mir gesessen und haben mich warmgehalten. Wie ein Ei.«

No-Good schnaubte. »Sie machen wohl Witze. Die wollten Sie fressen! Erst Ihre Augen und dann den Rest. Die haben nur gewartet, bis Sie richtig weich wären.«

»Nein. Sie waren meine Freunde«, widersprach Annabelle und drückte die toten Krähen liebevoll an sich.

Er schüttelte den Kopf. »Oh, Lady«, sagte er, während er zu seiner Seite des Doppelhauses ging. »Ich könnt Sie vor die Tür setzen, weil Sie Krähen halten.« Und als sie nicht reagierte, fügte er hinzu: »Sie haben ’nen Spleen. Kein Wunder, dass Ihr Sohn so ’n durchgeknallter Spinner ist.«

Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. »Wie können Sie es wagen, so etwas über meinen Sohn zu sagen! Sie sollten sich schämen, Henry Wong. Was würde Ihre Mutter dazu sagen?«

Seine Züge verdüsterten sich drohend wie ein Gewitter, und sein Muttermal färbte sich tiefrot. Er machte einen Schritt auf sie zu und fuchtelte mit dem Besenstiel herum. »Lassen Sie meine Ma aus dem Spiel!«, schrie er mit schriller Stimme.

Annabelle griff nach ihrer Krücke und hielt sie schützend vor sich, während sie die toten Krähen an ihren Bauch drückte. Er stand etwas unentschlossen da, aber dann ließ er die Arme sinken. Er sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen.

»Henry, was ist denn los?«, fragte sie. »Ist etwas mit Ihrer Mutter? Ich dachte, sie wäre auf dem Weg der Besserung.«

Er wandte sich ab und umfasste den Besen mit beiden Händen. Der Besen gehörte seiner Mutter. Mrs. Wong kehrte fast täglich den Bürgersteig. »Sie hat irgend so ’ne Infektion gekriegt. Sie haben gesagt, dass sie’s nicht überleben wird.«

»Oh, Henry! Das tut mir so leid.«

Er drehte sich wieder zu ihr um. »Ach ja? Das sollte es auch. Ihre blöden Krähen haben sie verflucht, und deshalb ist sie die Treppe runtergefallen. Sie sind ja auch die Treppe runtergefallen. Sie haben gedacht, das wär halt Pech? Nix da! Die Krähen haben Sie auch verflucht und hätten Sie mit Sicherheit aufgefressen. Sie sollten mir dankbar sein, Lady. Weil ich Ihnen das Leben gerettet hab.«

Sie wollte etwas einwenden, ihre Krähen in Schutz nehmen, aber sie verkniff es sich. Er war wütend. Er trauerte. Trauer konnte verschiedene Formen annehmen; man durchlief viele Stadien. Sie wusste das. »Henry, kann ich irgendetwas für Sie tun?«

Einen kurzen Moment lang sah sie in seinem mürrischen Männergesicht den kleinen Jungen von früher. »Können Sie«, sagte er und wies mit dem Kopf in Richtung ihres Gartens. »Räumen Sie Ihren Scheiß weg, damit ich’s nicht machen muss, wenn ich Sie rausgeschmissen hab.«

»Ich denke nicht, dass es ein Kündigungsgrund ist, wenn man Krähen hält, Henry.«

»Okay, das vielleicht nicht«, räumte er ein. »Aber Zeugs horten schon. Mein Anwalt kümmert sich drum. Ich renovier dieses Loch, und dann verkauf ich’s. Und ich lass mir durch Ihren Schrott nicht den Preis vermasseln. Ich hab Ihnen ’ne Chance gegeben, Lady. Sie war’n bei der Besichtigung nicht da. Das war’s!«

67

»So viele traurige Geschichten. Wie die von dieser armen Frau.« Aikon drehte ihren Laptop so, dass Kimi den Bildschirm sehen konnte. »Ihr Mann kam bei einem Autounfall ums Leben, und ihr Sohn wurde dadurch traumatisiert und hört seitdem Stimmen. Sie schickt mir auch Fotos.«

Sie saßen zusammen an dem niedrigen Schreibtisch im Arbeitszimmer der Äbtissin. Es fiel ein leichter Regen, der die Blätter des Ahorns in dem kleinen Garten vor der Veranda purpurrot färbte. Sie tranken Tee. Aikon hatte Kimi ihre eigene Tasse angeboten, ein antikes, sorgfältig repariertes Stück, dessen eine Seite ein Gedicht in wunderschöner Kalligrafie schmückte. Ein Goldfaden wand sich durch die grazilen chinesischen Schriftzeichen und verband die einzelnen Teile der Tasse miteinander. Kimi wusste, dass es Aikons Lieblingstasse war, und fühlte sich geehrt. Sie liebte diese ungezwungenen Momente mit ihrer Lehrerin. Sie waren etwas Besonderes.

»Ich kann verstehen, warum Senju Kannons Kopf geplatzt ist«, sagte Aikon. »Bei diesem ganzen Leid.«

Kimi nahm einen Schluck Tee und betrachtete das Foto mit der Familie am Strand. »Der Junge sieht nett aus«, sagte sie. »Ich frage mich, was er wohl hört …«

»Das hat die Mutter nicht erwähnt. Nur, dass er Dinge hört, wie beispielsweise seinen Turnschuh, der mit ihm redet.«

In Japan war es nichts Ungewöhnliches, wenn ein Gegenstand, oder vielmehr sein Geist, redete. Laternen, Schirme, Teekessel, Spiegel, Uhren. Schuhe sprachen auch, aber normalerweise handelte es sich dabei um japanische Schuhe wie Bastsandalen.

Kimi zögerte. »Vielleicht ist der Schuh ein Tsukumogami

Aikon guckte skeptisch. »Gibt es in Amerika denn Tsukumogami ? Ich habe noch nie was von einem Sportschuh mit einem ruhelosen Geist gehört, du etwa?«

»Nein …«, stimmte Kimi ihr zu.

»Egal«, sagte Aikon und drehte den Laptop wieder zu sich. »Sie schreibt, dass sich der Zustand ihres Sohns verschlechtert und dass ihr Vermieter ihnen kündigen will, weil sie so unordentlich ist. Eine schreckliche Situation, findest du nicht?«

»Ja.« Kimi zögerte wieder. »Können wir ihnen irgendwie helfen?«

»Was könnten wir denn tun?«

Die Frage ihrer Lehrerin hörte sich wie ein Test an. »Wir könnten für sie singen?«

»Das haben wir bereits«, sagte Aikon. »Und natürlich werden wir das auch wieder tun. Die Mutter heißt Annabelle und der Sohn Benny. Bitte setz sie auf die Liste für die Zeremonie des Mitgefühls in dieser Woche.«

Kimi hatte das Gefühl, die falsche Antwort bekommen zu haben. Sie wiederholte laut die Namen und schrieb sie dann in ihr kleines Notizbuch. Sie spürte den Blick ihrer Lehrerin auf sich.

»Deine Aussprache im Englischen ist sehr gut«, sagte Aikon.

Kimi wurde rot. Sie hatte während der Highschool eine Zeit lang in den USA gelebt und später auf der Universität englische Literatur studiert, »Nein«, sagte sie. »Sie könnte viel besser sein …«

»Aber du kannst Englisch lesen und schreiben, oder?«

Kimi nickte.

»Und du bist fleißig und gewissenhaft. Würdest du dich als Perfektionistin bezeichnen? Erwartest du von dir, dass du jede Aufgabe auch zu Ende bringst?«

Kimi nickte wieder, diesmal etwas selbstbewusster.

»Ausgezeichnet!« Aikon nahm die Teekanne und schenkte Kimi nach. »Ich habe den perfekten Job für dich. Ich möchte, dass du die Beantwortung der internationalen Fanpost übernimmst und dich um die Social-Media-Accounts kümmerst. Und dann kannst du mich als meine Assistentin und Dolmetscherin auf meine Lesereise in die USA begleiten. Was hältst du davon?«

Kimi stellte ihre Tasse hin und verbeugte sich. »Ich fühle mich geehrt, aber ich könnte keinesfalls so einen anspruchsvollen Job übernehmen …«

»Natürlich!«, erwiderte Aikon. »Der Job ist unmöglich zu schaffen. Du wirst keine Zeit mehr haben, so perfektionistisch zu sein. Deshalb ist er ja auch ideal für dich. Du wirst niemals fertig werden. Das Leben geht weiter. Du wirst in Windeseile von deinen Beschwerden kuriert sein!«

Kimi meinte eine Spur von Belustigung in der Stimme ihrer Lehrerin zu hören. »Gut«, sagte sie. »Ich werde es versuchen.«

»Aber übertreib es bitte nicht. Du musst an dein Herz denken.«

Kimi schaute auf die Namen, die sie sich notiert hatte. »Soll ich auch die E-Mails beantworten? Und die Tweets?«

»Buddha hat gesagt, dass die Beantwortung von E-Mails und Twitter-Nachrichten genauso müßig ist wie den Sand von den Ufern des Ganges kehren zu wollen.«

»Das hat Buddha gesagt?«

»Na ja, vielleicht nicht wörtlich. Aber die Botschaft ist ja eindeutig. Manche Aufgaben sind einfach unmöglich zu bewältigen, selbst für einen Buddha. Selbst wenn du elf Köpfe und tausend Arme hast.«

»Also sollte ich nicht versuchen, sie alle zu beantworten  …?«

»Nur, wenn es etwas nützt.«

»Woher weiß ich das?«

Aikon trank einen Schluck Tee. »Das«, sagte sie, drehte die leere Tasse in der Hand und bewunderte die Glasur, »ist eine gute Frage.«

68

Du wusstest, dass die Wahlen unmittelbar bevorstanden, aber du nahmst sie meist nur als Hintergrundgeräusch wahr, das durch die Dielen zu dir heraufdrang. Als der große Tag schließlich gekommen war, erwachtest du mit Ohrenschmerzen, Halskratzen und erhöhter Temperatur, die gerade hoch genug war, dass Annabelle nach dem Fiebermessen entschied, dass du besser zu Hause bleiben solltest.

»Ich geh nachher wählen«, sagte sie, auf ihre Krücke gestützt. »Ich nehm ein Taxi. Wenn du dich bis dahin besser fühlst, kannst du ja mitkommen.«

»Ich darf noch nicht wählen«, hast du erwidert.

»Ich weiß. Aber ich dachte, dass du gern mal sehen würdest, wie Demokratie funktioniert. Ganz zu schweigen davon, dass es eine historische Wahl ist. Bei der letzten Wahl warst du erst zehn, und bei der nächsten bist du schon alt genug, um selbst zu wählen.« Sie starrte dich an, als wärst du ein Freak oder ein Naturwunder. »Unglaublich! Wie schnell du erwachsen wirst! Na, was hältst du davon?«

»Vom Erwachsenwerden?«

»Nein, Dummerchen. Ich meine, ob du zum Wahllokal mitkommst.«

»Ähm.« Du hast so getan, als würdest du darüber nachdenken. »Eher nicht.«

Sie seufzte und klemmte sich ihre Krücke unter die Achsel. »Ruh dich ein bisschen aus«, sagte sie. »Wenn du dich später nicht besser fühlst, bring ich dir was zu essen hoch.«

Den ganzen Morgen über drangen Stimmen aus der Kommandozentrale zu dir herauf: die aggressiven Stimmen der Kandidaten, die lebhaften der Nachrichtensprecher und die sonoren der Politikexperten, unterbrochen von aufpeitschender Orchestermusik. Dein von Deinem Vater geschultes musikalisches Gehör konnte mühelos die verschiedenen Intros und Outros unterscheiden: die düsteren, dramatischen Motive für Konflikte im Nahen Osten, die pompösen, patriotischen Motive für die neuesten Nachrichten aus den USA . Du lagst in deinem abgedunkelten Zimmer und lauschtest dem An- und Abschwellen der Musik, bis du schließlich in einen traumlosen Schlaf fielst.

Gegen Mittag weckte Annabelle dich mit Crackern und etwas Hühnersuppe in einer Thermoskanne. Auf ihre Krücke gestützt, ein Bein von sich gestreckt, saß sie neben dir auf der Bettkante und sah dir beim Essen zu.

»Wie geht’s dir?«

»Mein Kopf tut weh.«

Sie legte die Hand auf deine Stirn. »Dein Fieber ist gesunken.«

»Er tut wirklich weh. Es fühlt sich an, als würde er gleich platzen.« Du gabst ihr den halb leeren Becher zurück und sankst aufs Kissen zurück.

»Mehr isst du nicht?«

»Ich hab keinen Hunger.«

Sie trank den Rest, schraubte den Becher wieder auf die Thermoskanne und stand auf. »Ich fahr in ein paar Stunden los. Willst du wirklich nicht mitkommen?«

Du hast den Kopf geschüttelt, was den Schmerz noch verschlimmerte. Du legtest die Hände auf die Ohren, damit er nicht explodierte.

Am Nachmittag änderte sich etwas am Sound der Nachrichten. Es klang, als würde jemand die Saiten eines Instruments fester spannen. Die Tonhöhe stieg an, die Frequenz nahm zu, und die Geräusche verwandelten sich in zuckende Klangsplitter, die durch die Ritzen im Boden und unter den Türen hindurchkrochen, scharf und schneidend. Du hast den Kopfhörer aufgesetzt, aber das hat nicht geholfen. Du hast dir dein Kissen auf den Kopf gedrückt und laut gesummt, aber die Splitter bohrten sich durch dein klägliches Gesäusel. »Haltet die Klappe«, hast du geflüstert. »Haltet die Klappe, bitte.« Als du es schließlich nicht mehr ausgehalten hast, kam dir eine Idee. Du bist aufgestanden und in Annabelles Zimmer gegangen.

Seit Annabelle unten im Wohnzimmer schlief, wirkte ihr Bett einsam und verlassen. Es war über ein Jahr her, dass ihr beiden hier gesessen und Spareribs gegessen habt und dass du dich auf den Bauch gelegt hast, damit sie dir den Rücken kraulte. Damals warst du ein völlig Anderer. Jetzt hing ein muffiger, säuerlicher Geruch in der Luft. Hier und da lugte ein karierter Ärmel von Kenjis alten Flanellhemden aus dem klammen, verknäulten Bettzeug hervor – wie die Arme eines Ertrinkenden, der im Meer versinkt. In der Kommode fehlte immer noch eine Schublade. Das Loch sah aus wie ein klaffender, dunkler Rachen. Der Nachrichtenlärm war hier noch lauter. Er erinnerte dich daran, warum du hergekommen warst. Und so stiegst du über einen Stapel Bücher hinweg und gingst zum Wandschrank. In dem Karton mit dem alten Mischpult deines Vaters fandest du das Audiokabel für den Grundig-Kopfhörer. Du hast das eine Ende in den Kopfhörer, das andere in die Stereoanlage gesteckt und dann die Platte mit Benny Goodmans berühmtem Konzert in der Carnegie Hall 1938 aufgelegt.

Bei den ersten mitreißenden Trompetenstößen von »Don’t Be That Way« entspannte sich dein Körper mit einem tiefen Seufzen. Warum bist du nicht schon früher darauf gekommen? Die Musik schwoll an und übertönte den Lärm der Welt. Als das beschwingte Hauptthema einsetzte, wippte dein Kopf im vertrauten Rhythmus. Dann folgte das langsame, heitere »Sometimes I’m Happy«, und während du gelauscht hast, hobst du den Blick und sahst dich im Spiegel deiner Mutter. Ein ernster Junge mit einem riesigen Kopfhörer auf den Ohren schaute dich an – ein kleiner Astronaut. Du hast deinen Ärmel hochgezogen, und der Astronaut tat es dir nach. Du hast ihm deinen Unterarm gezeigt, auf dem die kleinen Einstiche verheilt waren und nur winzige Narben hinterlassen hatten. Dein Arm sah jetzt aus wie ihrer. Als du ihn an die Lippen geführt und die Sterne geküsst hast, zog sich dein Herz zusammen. Du hast dich vom Spiegel abgewandt und dich in dem Nest aus Kissen und Decken vergraben. Du hast die Augen geschlossen und bist in den sanften, ruhigen Jazz-Klängen versunken.

Als du aufgewacht bist, hast du das Kratzen der Nadel gehört, die in der Auslaufrille kreiste. Im Zimmer war es dunkel. Annabelle war über dich gebeugt und machte ein so trauriges Gesicht, dass du erschrocken hochfuhrst. »Was ist passiert?«

Sie nahm dir behutsam den Kopfhörer ab. »Entschuldige, mein Liebling. Ich wollte dich nicht wecken.« Sie stellte den Plattenspieler aus und legte ihre kühle Hand auf deine Stirn.

»Wieviel Uhr ist es?«

»Schon spät. Schlaf weiter.«

Aus dem Wohnzimmer war die gedämpfte Geräuschkulisse eines Nachrichtensenders zu hören. Und da fiel es dir wieder ein. »Ist es vorbei? Warst du wählen?«

»Ja«, sagte sie. »Es ist vorbei.«

Als du aufstehen wolltest, schob sie dich sanft aufs Kissen zurück. »Bleib ruhig liegen«, sagte sie. »Ich muss die Nacht durcharbeiten.«

Als du wieder aufgewacht bist, war es draußen hell und du hattest kein Fieber mehr. Die Nachrichten waren verstummt, aber es lag trotzdem eine seltsame Anspannung in der Luft, als wäre die Luft selbst aufgeladen. Du bist aufgestanden und in dein Zimmer zurückgegangen. Die Unruhe schien von draußen zu kommen, aber als du aus dem Fenster sahst, war die Gasse leer. Was war das für ein Geräusch? Es war etwas Wildes wie das wütende Summen von Millionen von Bienen. Oder hast du dir das nur eingebildet?

Nein. Es war real. Es kam von der Welt da draußen.

Du hast deinen schwarzen Hoodie und deine alten Nike-Sneaker angezogen. Unten schlief Annabelle auf dem Sofa. Du bliebst im Türrahmen stehen. Im Schlaf war ihr blasses Gesicht ganz entspannt, und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn waren verschwunden. Sie sah aus wie eine schlummernde Prinzessin, wie eine junge sorglose Mutter. Trauer schnürte dir die Kehle zu, aber du hast sie hinuntergeschluckt. Vor dem Sofa lagen zwei bunte Haufen T-Shirts, einer für den Müll, der andere für die Kleiderspende. Daneben stand die ausgeleerte Kommodenschublade, in die sie ein paar der T-Shirts, die sie behalten wollte, einsortiert hatte. Sehr weit war sie nicht gekommen. Und die wenigen T-Shirts waren mutlos in sich zusammengesackt. Du hast dich auf den Boden gekauert und angefangen, sie wieder ordentlich zusammenzulegen. Du hast nicht lange gebraucht. Denn du warst gut im Falten. Und schon bald lagen sie ordentlich aufeinandergestapelt in der Schublade.

Du hast sie betrachtet und in Gedanken gefragt: Geht’s euch jetzt besser? Aber es waren T-Shirts und keine Gedankenleser, deshalb antworteten sie nicht. Wahrscheinlich war es ihnen nicht so wichtig, hast du dir gesagt, aber wenigstens war die Schublade jetzt schön aufgeräumt. Wenn Annabelle später aufwachte, würde sie vielleicht denken, dass sich die T-Shirts selbst gefaltet hätten. Vielleicht würde sie aber auch erraten, dass du sie zusammengelegt hast, und dir verzeihen, dass du dich aus dem Haus geschlichen hast.

Draußen auf der Straße war das Summen lauter, als ob sich die Bienen zum Angriff bereit machten. Du bist die Gasse entlanggegangen, dem Geräusch gefolgt, und als du den kleinen Park erreicht hast und die riesige Menschenmenge sahst, wusstest du, dass du die Quelle des Geräuschs gefunden hattest. Du hattest noch nie so viele Menschen in dem Wäldchen gesehen. Sie drängten sich zwischen den Zelten der Obdachlosen und hielten Plakate mit wütenden Slogans hoch. Rings um den Park standen Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht, dahinter hatten sich mit Schilden und Waffen ausgerüstete Bereitschaftspolizisten postiert. Waffen wollen töten. Du hast deine Kapuze aufgesetzt und bist in die Menge eingetaucht. Mitten im Park sahst du Jake und die andern Jungs, alle schwarz gekleidet. Schnell hast du dich abgewandt, aber es war zu spät. Die Hunde hatten dich schon entdeckt. Der Rüde bellte los, und Jake blickte auf und sah dich ebenfalls.

»Hey, B-Boy!« rief er. »Hier sind wir!«

Genau in diesem Moment packte dich von hinten ein Arm, nahm dich in den Schwitzkasten und presste dein Gesicht gegen den schwarzen Lederärmel, der süßlich nach Gras roch. Ein Reißverschluss kratzte an deiner Wange entlang. Du hast dich gewunden und um dich getreten und versucht, dich zu befreien, aber der Würgegriff wurde nur noch fester. Und dann knurrte eine Stimme in dein Ohr:

»Ganz ruhig, Benny-Boy. Alles cool zwischen uns, oder?« Du konntest sein Gesicht nicht sehen, hast ihn aber an seiner Stimme erkannt. Du hast genickt. Aber das reichte ihm nicht. »Sag ja«, knurrte er jetzt lauter. »Los, sag schon!«

»Ja«, keuchtest du, und dann lockerte sich sein Griff um deinen Hals. Hustend hast du dich von ihm losgerissen und dich umgedreht. Freddy stand vor dir, er hatte eine Skimaske auf, die er jetzt bis zur Stirn hochgezogen hatte. Seine blutunterlaufenen Augen zuckten. Er hatte einen Baseballschläger in der Hand.

»Na bitte, geht doch«, sagte er, boxte dir gegen die Schulter und legte dann den Arm um dich. »Wir sind jetzt Kumpels, klar? Schwamm drüber. Aber raste bloß nicht wieder aus.« Und während sich die Menge in Bewegung setzte und sich wie eine riesige Welle auf das Stadtzentrum zubewegte, drückte er dir den Schläger in die Hand.

69

Oh, Benny, nein.

Wir wussten, dass das passieren würde. Am liebsten würden wir die Szene noch einmal zurückspulen. Du gibst Freddy den Schläger zurück, gehst nach Hause, verkriechst dich wieder in Annabelles Bett, um noch einmal aufzuwachen, diesmal ohne Fieber, aber hungrig. Also gehst du nach unten, um etwas zu essen. Und dann siehst du deine Mutter, die auf dem Sofa schläft. Und während du noch dabei bist, ihre T-Shirts zu falten, wacht sie auf und vergießt ein paar Freudentränen, so dankbar und glücklich ist sie. Dann bestellt sie etwas beim Chinesen. Und gerade als ihr mit dem Essen anfangen wollt, hörst du ein Geräusch an der Hintertür. Es ist Kenji, der von der Probe zurückkommt. Gerade noch rechtzeitig zum Abendessen! Er nimmt seinen Hut ab, legt seine Klarinette auf ihren Platz im Regal und setzt sich zu euch an den Küchentisch. Und dann gibt es ein köstliches Mahl aus Dim Sum, Rindfleisch Chow Fun und Schweinefleisch Mu Shu. Und ihr vergesst nicht, einen Mondkuchen für die Krähenbabys aufzuheben. Wäre das nicht eine gute Idee? Oder ist es dafür zu spät?

Natürlich ist es zu spät. Vergib uns Büchern unsere Vermessenheit zu glauben, wir könnten die Ereignisse in deinem Leben beeinflussen …

Schließlich wachte Annabelle auf. Sie hatte die Nacht durchgearbeitet, hatte die Berichte über die ersten Proteste verfolgt, die bereits am Morgen als Krawalle bezeichnet wurden. Nach den Frühnachrichten hatte sie sich schlafen gelegt. Und als sie jetzt erwachte und die ordentlich zusammengelegten, nach Farbe sortierten T-Shirts sah, konnte sie es kaum fassen. Es war wie Zauberei. Als wäre ein Weihnachtswichtel durch ihre Schublade gehuscht. Sie stand auf, humpelte in den Flur und rief: »Benny? Vielen, vielen Dank, mein Schatz! Die Schublade ist wunderschön! Du bist ein Genie!« Sie wartete. »Benny?«

Er schlief wohl noch, beruhigte sie sich. Immer noch krank, der Ärmste. Sie sollte noch einmal seine Temperatur messen. Gerade, als sie Treppe hinaufgehen wollte, fiel ihr ein, dass es schon nach zwölf war. Bestimmt würde er bald aufwachen und Hunger haben. Sie würde ihm etwas Leckeres kochen. Irgendetwas, was seine Lebensgeister weckte. Makkaroni mit Käse? Sie humpelte in die Küche und nahm eine Packung Nudeln vom Regal. Als sie in den Kühlschrank schaute, sah sie, dass er Milch besorgt hatte. Sie stellte den Herd an und setzte das Nudelwasser auf.

Eine Stunde später waren die Käsemakkaroni am Boden der Auflaufform festgebacken, aber das war Annabelles geringste Sorge. Sie stand in der Tür seines leeren Zimmers. Sein Rucksack hing über der Stuhllehne, die Schulbücher waren ordentlich auf dem Schreibtisch gestapelt. Sie ging ins Badezimmer und sah, dass sein Handy an das Ladegerät neben dem Waschbecken angeschlossen war. Sie humpelte die Treppe hinunter in die Küche, zögerte einen Moment und rief dann in der Schule an.

»Ja, wir haben Benny als fehlend eingetragen«, sagte die Sekretärin. »Die E-Mails sind rausgegangen. Haben Sie keine bekommen?«

»Doch, natürlich«, sagte Annabelle. »Ich wollte nur …« Aber dann hielt sie inne. Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Ich wollte nur wissen, ob er nicht doch wie durch ein Wunder aufgetaucht ist, ob er in seinem Klassenzimmer sitzt, ob er Algebra lernt, ob er in Sicherheit ist. Sie legte auf, bevor die Sekretärin ihr weitere Fragen stellen konnte. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und umschlang ihren Oberkörper, als wolle sie ihr Herz festhalten. Ihr versteht das einfach nicht. Ihr habt keine Ahnung, wie das ist. Dann straffte sie sich und rief noch einmal die Sekretärin an.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie schnell. »Wir sind wohl unterbrochen worden. Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass sich Benny heute Morgen nicht wohlgefühlt hat, aber jetzt geht es ihm wieder besser. Er ist auf dem Weg zur Schule. Könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass er mich anrufen soll? Er hat sein Handy vergessen, deshalb kann ich ihn nicht erreichen. Diese Kinder, Sie wissen ja!«

Dr. Melanie war die Nächste auf ihrer Liste. Sie sprach ihr auf den Anrufbeantworter, dass Benny wieder verschwunden sei. Dann schaute sie auf die Uhr. Wer noch? Sie suchte die Nummer des örtlichen Polizeireviers heraus, aber es hatte keinen Sinn, jetzt schon dort anzurufen. Und vielleicht war Benny ja wirklich auf dem Weg zur Schule. Das konnte doch sein. Aber ohne seinen Rucksack und seine Bücher … Sie schüttelte frustriert den Kopf. Mühsam stand sie auf. Mit ihrem gebrochenen Knöchel konnte sie ihn unmöglich suchen gehen. Sie humpelte zur hinteren Veranda, lehnte sich gegen das verwaiste Futterhaus und lauschte dem fernen Sirenengeheul. Nein, dachte sie. Du musst einfach Geduld haben. Bis jetzt ist er noch immer nach Hause gekommen. Du machst dich verrückt wegen nichts und wieder nichts. Ein Hubschrauber flog dicht über das Haus hinweg. Sie spürte das Knattern der Rotorblätter im zitternden Holzgeländer.

70

Es lag Wut in der Luft. Empörung und Fassungslosigkeit. Hubschrauber kreisten in der Luft. Unter ihnen zogen die Demonstranten durch die Straßen, blockierten den Verkehr, skandierten Parolen, die von einem wütenden Hupkonzert beantwortet wurden.

EINIGKEIT macht STARK !

Der geballte Zorn riss dich mit, setzte dich unter Strom. Freddy war da. Jake war da. Dozer war da. T-Bone war da, und einige andere auch, finstere Typen, schwarz gekleidet und mit Rucksäcken. Woher kamen sie? Nach und nach mischten sie sich unter die Demonstranten, und je mehr es wurden, desto stärker fühltest du dich, als wärst du Teil dieser besonderen Truppe – aber nicht »besonders« wie in der Schule, wo das Wort so etwas wie »gestört« bedeutete, sondern wirklich besonders wie in Sondereinsatzkräfte, Sondereinheit oder Sondereinsatzkommando. Ganz anders als die rechtschaffenen Bürger mit ihren handgeschriebenen Plakaten.

WAS ist Demokratie? DAS ist Demokratie!

»Scheiß auf die Demokratie!«, brüllte dir Freddy ins Ohr. Und du nicktest, weil Freddy im Moment dein Freund war, dein Anführer und dein Vorbild. Und weil sich alles, was er sagte, richtig anhörte.

Keine Gerechtigkeit, kein Frieden! »Scheiß auf die Gerechtigkeit!«, rief Freddy. »Scheiß auf den Frieden!«

Gebt uns die Moneten! Wir retten den Planeten! »Her mit den Moneten und scheiß auf den Planeten!« Er hielt dir ein schmutziges Halstuch hin und zog sich seine Skimaske über Mund und Nase. Obwohl du jetzt nur noch seine zuckenden, blutunterlaufenden Augen sehen konntest, wusstest du, dass er lächelte. »Bind dir das vors Gesicht«, sagte er. »Aber bleib in der Nähe«. Und genau das hast du getan.

Die anderen Typen, die ebenfalls vermummt waren, folgten ihm, während die Menschenmenge vorwärtsdrängte und auf das Stadtzentrum zusteuerte.

Nur wer LIEBT , der SIEGT !

Ihr seid entlang der Buslinie in Richtung Library Square marschiert. Kahle Bäume säumten den Mittelstreifen. Ihr kamt an Geschäften, Bürohäusern, Banken und Cafés vorbei.

SCHLUSS mit LUSTIG ! Keine WAFFEN für die BULLEN !

Eine schwarze Luxuslimousine parkte vor dem lokalen Fernsehsender. Als Freddy sie sah, gab er ein Zeichen, und eure Gruppe löste sich aus der Menge.

Legal, illegal, SCHEISSEGAL !

Dozer trat mit seinem Stiefel gegen eine Mülltonne, und der Abfall ergoss sich auf die Straße. »Los!«, brüllte Freddy. Da zog T-Bone ein Brecheisen unter seinem Mantel hervor und schlug auf die Motorhaube der Limousine ein. Das Blech dellte ein, die Alarmanlage heulte los. Du hieltest dir die Ohren zu.

»Nimm den Schläger! «, rief Freddy und schob dich zu dem kreischenden Wagen hin. Baseballschläger wollen zuschlagen, wollen Windschutzscheiben zerschmettern, wollen Glas zertrümmern, aber bevor du draufhauen konntest, ging der Wagen in Flammen auf. Du sprangst zurück, den wütenden Schläger fest umklammert. Dann sahst du den Benzinkanister in Jakes Hand, und Dozer, der die Fackel hielt, und Freddy, der aus dem dichten schwarzen Rauch, der unter der Motorhaube hervorquoll, herausschoss. Menschen scharten sich um das Fahrzeug und hielten ihre Handys hoch – wie viereckige Augen, mit ungerührtem, starrem Blick. Flammen schlugen aus dem Motorraum. Baseballschläger wollen zuschlagen. Feuer wollen brennen.

»Rückzug! «, rief Freddy, und dann hörte man Stiefelgetrampel. »Räumen Sie die Straße! Räumen Sie die Straße!« , plärrte ein Megafon, während die Bereitschaftspolizei auf die Menge zumarschierte. Eine Phalanx schwarzer Ritter. Mit erhobenen Schilden und heruntergeklappten Visieren, mit Brustharnisch, Stulpen und Helm, die Lanzen zum Angriff bereit. Du standest wie angewurzelt da. Nichts konnte sie aufhalten.

»Die haben Tränengas !«, schrie jemand. »Haut ab !« Die Demonstranten nahmen ihre Plakate herunter und stoben auseinander, nur um kurz darauf – wie Hunde, die Blut geleckt hatten – zurückzukommen und zu filmen, immer wieder zu filmen. Freddy stellte sich neben dich und zeigte auf das große Schaufenster des Nike-Megastores auf der anderen Straßenseite.

»Los !«, rief er. »Nimm den Schläger und hau zu !« Und deine Sneaker reagierten. Sneaker wollen rennen. Baseballschläger wollen zuschlagen. Die Schaufensterpuppen im Laden sahen aus, als wären sie mitten im Lauf erstarrt. Auf der Scheibe stand in großen schwarzen Buchstaben: JUST DO IT ! Das klang wie ein Befehl. Und du hast ihn befolgt. Du bist zum Schaufenster gerannt, hast ausgeholt und zugeschlagen. Das Glas knackte, das Holz in deiner Hand bebte. Du schlugst noch einmal zu. Und diesmal zerbrach das Glas in tausend Stücke, die wie funkelnde Diamanten auf den Boden rieselten. Das gezackte Loch in der Scheibe schien zufrieden zu sein, aber die Glasscherben auf dem Boden schrien verzweifelt. Dann hast du hinter dir schwere Stiefel gehört. Du hast dich hingekniet und die Splitter aufgesammelt, die wie gefrorene Tränen durch deine Finger rannen.

»Es tut mir leid« , hast du geflüstert und es wirklich so gemeint. Aber eine Scherbe, lang und spitz wie ein Dolch, war nicht so leicht zu besänftigen. Sie wollte zustechen. Und gerade, als du sie aufhobst, berührte dich etwas an der Schulter.

Alarmstufe Rot! Alarmstufe Rot!

Mit der Glasscherbe in der Hand sprangst du auf und fuhrst herum. Vor dir stand ein Alien, ein Monster, mit grässlichen Insektenaugen und einer langen Schweineschnauze. Gefahr! Gefahr ! Du hobst den Arm, und der gläserne Dolch funkelte in deiner Hand. »Stopp, Benny, ich bin’s!« , rief eine gedämpfte Stimme. Du hast sie erkannt, aber es war zu spät, die Scherbe sauste schon durch die Luft. Doch das Aleph wich ihr geschickt aus. Und dann hörtest du, wie das Glas klirrend auf den Boden fiel, aber vielleicht war es auch die Tränengaspatrone, die auf dem Bürgersteig aufschlug und auf euch zurollte. Deine Hand blutete, aber das Aleph war zum Glück unverletzt. Als eine dicke Gaswolke euch einnebelte, griff sie nach deiner Hand. Zuerst nahmst du den Geruch wahr, sauer und beißend. Dann brannten deine Augen wie Feuer, und als du einzuatmen versuchtest, war es, als würde man dir mit einer Streitaxt die Brust spalten. Du hast dir die Hände vors Gesicht gehalten und bist würgend auf die Knie gefallen, aber sie zog dich wieder hoch.

»Komm, schnell!«, rief sie, und du bist blind hinter ihr hergestolpert.

Sie zerrte dich in einen Hauseingang und zog dir die Hände vom Gesicht. Obwohl die Luft hier weniger verqualmt war, konntest du nicht aufhören zu husten, und deine Augen brannten immer noch. Dein Gesicht war blutverschmiert, offenbar von deiner verletzten Hand.

»Nicht reiben«, sagte sie und riss sich die Gasmaske herunter. Dann nahm sie ihr Halstuch ab und band es hastig um deine blutende Hand. Wieder einmal musste sie dich verarzten. Sie griff nach deinem Handgelenk und betrachtete die kleinen Narben. Stirnrunzelnd musterte sie dich, aber du kniffst immer noch die Augen zusammen. Sie holte eine Flasche aus ihrem Rucksack. »Guck nach oben«, sagte sie. Aber deine Augen brannten so sehr, dass du sie nicht aufbekamst. Sie goss eine weiße Flüssigkeit über dein Gesicht. Sie roch wie Milch. »Was für’n verdammter Scheiß«, sagte sie. Sie wischte dir über die Wangen, während du immer noch nach Luft gejapst hast. Und dann fiel es ihr ein. »Oh, Mist! Dein Asthma. Okay, wir müssen hier weg. Komm, los!«

Du zwangst dich, die Augen zu öffnen. Durch die Milch und die Tränen hindurch hast du gesehen, wie sich ihr von hinten zwei Polizisten in Schutzausrüstung näherten. Als sie sich umwandte und die beiden Männer sah, stieß sie dich energisch weg.

»Lauf!«, rief sie. Und in diesem Moment packten sie die Polizisten.

Taumelnd bist du losgerannt. Als du dich noch einmal umgedreht hast, sahst du, wie sie sich wehrte, wild um sich schlug. Die ganze Zeit über schaute sie dich an. Eure Blicke trafen sich. Dann gab sie ihren Widerstand auf. Selbst als die Polizisten sie unter den Armen griffen und wegschleiften, sah sie dich noch an. Du wolltest ihr nachlaufen und sie retten, aber sie schüttelte den Kopf.

Lauf  – sagte sie wortlos. Und während du auf ihren Mund gestarrt hast, hörtest du, wie eine andere Stimme, ruhig und vertraut, den Satz vollendete.

Zur Bibliothek.

71

Als die Wahlergebnisse bestätigt wurden, gingen im ganzen Land die Leute auf die Straße. In allen größeren Städten kam es zu Protesten, und die überregionalen Nachrichtensender berichteten live von den Ereignissen. Annabelle saß in der Kommandozentrale vor ihren Monitoren und schnitt die Berichte mit. Benny war immer noch nicht heimgekommen. Und Dr. Melanie hatte sich immer noch nicht gemeldet.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Demonstranten blockierten die Straßen und Highways. So viele Menschen. Sie sah auf die Uhr. Es war noch zu früh, um auf dem Revier anzurufen.

Der Lokalsender berichtete aus dem Stadtzentrum, wo ein Fahrzeug brannte. Schwarz gekleidete Randalierer mit Skimasken warfen Mülltonnen um, schlugen die Scheiben von Streifenwagen ein und zertrümmerten Schaufenster. Annabelle beugte sich zum Monitor vor und suchte die verwackelte Aufnahme nach Benny ab. War er das? Sie hielt den Film an. Nein, das war ein anderer Junge. Sie hörte die Megafon-Ansage: Räumen Sie die Straße! Verlassen Sie unverzüglich das Gelände! Polizisten in Schutzausrüstung rückten vor. Sie setzten Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Demonstranten zu vertreiben. Sie hörte immer noch Hubschrauber, aber sie war sich nicht sicher, ob das Geräusch aus dem Fernsehen oder von draußen kam. Mit den Sirenen war es dasselbe. Drinnen oder draußen? Nah oder fern?

Liebe Ms. Konishi,

ich sitze in meinem dunklen Wohnzimmer. Die Menschen randalieren auf den Straßen, das ganze Land ist in Aufruhr und steuert auf eine Katastrophe zu, und mein Sohn ist schon wieder weggelaufen. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Ich kann nur abwarten. Also dachte ich mir, ich schreib Ihnen einfach eine Mail.

Sie wissen wahrscheinlich, dass wir hier gerade Wahlen hatten. Ich weiß, dass Japan eine Demokratie ist so wie unser Land angeblich auch. Benehmen sich Ihre Politiker auch wie Raufbolde auf dem Schulhof? Randalieren Ihre Bürger auch nach einer Wahl? Ich weiß nicht mehr, ob ich Ihnen schon geschrieben habe, dass ich für eine Firma für Medienbeobachtung arbeite. Es ist kein toller Job, aber ich kann ihn von zu Hause aus machen und bin trotzdem krankenversichert. Ich glaube, in Japan ist man automatisch krankenversichert, oder? Das muss doch sehr beruhigend sein. Ich habe nicht sehr oft mit internationalen Nachrichten zu tun, deshalb weiß ich nicht besonders viel über Japan. Passiert es in Ihrem Land auch, dass sich Schulkinder gegenseitig erschießen? Brennen bei Ihnen auch die Wälder?

Eigentlich wollte ich nie mit Medienbeobachtung mein Geld verdienen. Es ist ein deprimierender Job. Schon als kleines Mädchen hab ich davon geträumt, Bibliothekarin zu werden. Ich hab sogar eine Bibliotheksausbildung angefangen, aber dann musste ich sie abbrechen, weil ich mit Benny schwanger war. Das war okay, denn ich liebe meinen Sohn. Er ist das Beste, was mir je passiert ist, aber ich wünschte, ich hätte Bibliothekarin und Mutter sein können. Und Ehefrau, aber leider war ich nicht sehr lange verheiratet. Ich vermisse Kenji so sehr. Ich frage mich ständig, ob Benny diese ganzen Probleme hätte, wenn sein Vater noch lebte. Und ob nicht alles meine Schuld ist.

Also, ich habe gerade bei der Polizei angerufen und eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ich weiß jetzt, wie man das macht. Ich bekomme langsam Übung darin. Bald kenne ich alle Beamten mit Namen. Heute habe ich mit einer Polizistin gesprochen, die mich gefragt hat, ob Benny und ich uns gestritten hätten. Nein, habe ich gesagt, diesmal nicht. Die letzten beiden Male schon, aber heute habe ich geschlafen. Vorher hat er noch meine T-Shirts zusammengelegt. Das war wie ein Geschenk! Er hat sie nach Ihrer japanischen Methode gefaltet, die ich ihm mal gezeigt hatte. Als ich aufgewacht bin, lagen alle T-Shirts nach Farben sortiert in der Schublade. War das nicht lieb von ihm? Welches Kind macht so etwas? Das habe ich der Beamtin allerdings nicht erzählt.

Am Abend vor Kenjis Tod hatten wir einen fürchterlichen Streit. Ich weiß nicht mal mehr, wie es angefangen hat. Wahrscheinlich war es irgendwas Banales. Wir waren im Schlafzimmer, und er hat sich für seinen Auftritt fertiggemacht. Vielleicht hat er gesagt, dass er spät heimkäme und ich nicht auf ihn warten soll. Ich hatte zwar die Nase voll davon, immer auf ihn zu warten, aber dass er wollte, dass ich nicht auf ihn warte, wurmte mich genauso, verstehen Sie? Ich wollte doch nur, dass er zu Hause bleibt. Ich wollte, dass er zu Hause bei seiner Frau und seinem Sohn bleiben will. Und ich habe wohl irgendwie geahnt, dass er wieder Drogen nahm. Ich weiß noch, dass ich ihm zusah, wie er sein Flanellhemd zuknöpfte. Und dann hab ich so was gesagt wie: »Du bist kaum noch zu Hause« oder »Wir bekommen dich kaum noch zu Gesicht.« Da hat er nur traurig gelächelt und seinen blöden Pork-Pie-Hut aufgesetzt. Eigentlich sieht er ja toll aus mit dem Hut, und das war’s wohl auch, was mich so wütend gemacht hat. Dass er so toll aussah und dass er so traurig lächelte. Einerseits schien er mir zuzustimmen und andererseits tat er so, als könnte er nichts dafür, dass er so toll aussah, im Club abhing und sich mit den Jungs von der Band zudröhnte, was natürlich totaler Quatsch war. Er hat vor dem Spiegel gestanden und seinen Hut zurechtgerückt. Und ich kochte innerlich. Ich hab auf dem Bett gesessen und kein Wort mehr gesagt. Da hat er mich auf die Stirn geküsst und ist nach unten gegangen. Ich hab gehört, wie er seine Klarinette aus dem Wohnzimmer holte und seine Jacke anzog.

Als ich dann in die Küche runterging, stand er vor der Kühlschranktür und spielte mit den Magneten herum. Da wusste ich noch nicht, dass er gerade ein Gedicht für mich legte. »Ich komm bald heim«, hat er gesagt. Aber wir beide wussten, dass das nicht stimmte.

»Vergiss es«, hab ich ihn angeblafft. Und als er zur Hintertür rausgegangen ist, hab ich meine rosa Lieblingsteekanne vom Küchentisch genommen und sie gegen die Kühlschranktür gedonnert.

Und hier ist das Gedicht, das er für mich auf dem Kühlschrank gelegt hat:

Meine Wunder schöne Frau Mutter Göttin Geliebte

zusammen sind wir Sinfonie

Ich bin verrückt nach dir

Ich hab das Gedicht erst entdeckt, als ich nachts aus dem Krankenhaus zurückkam. Aber da war er schon tot.

Sie lehnte sich zurück und sah auf den Bildschirm. Sie wollte die Mail mit etwas Positivem abschließen, deshalb hatte sie das Gedicht eingefügt. Es war nicht mal besonders gut. Nur ein albernes Magnet-Gedicht. Sie las sich noch einmal durch, was sie geschrieben hatte. Das Ganze war ein einziges von Selbstmitleid triefendes Gejammer. Es war ihr peinlich, die E-Mail abzuschicken. Aber gerade, als sie sie löschen wollte, sprang ihr das Wort Bibliothekarin ins Auge, und ihr fiel wieder die Sache mit der Toilette ein. Sie erinnerte sich an das Securitybüro, den Sicherheitsmann und die kleine Bibliothekarin. Wie hieß sie noch gleich? Sie hatte Annabelle ihre Visitenkarte gegeben und ihr gesagt, sie solle anrufen, wenn sie Unterstützung brauche. Sie war so freundlich gewesen. War sie deshalb auch eine Freundin ? Ein Mensch, mit dem sie reden konnte? Wo war nur die verdammte Karte?

Sie drückte auf »Senden«, stand auf und begann, die Stapel von Zeitschriften und Briefen auf ihrem Schreibtisch zu durchsuchen, schob sie vorsichtig zur Seite, um auch darunter nachzusehen. Sie hätte die Karte einscannen oder zumindest den Namen und die Nummer der Frau zu ihren Notfallkontakten hinzufügen sollen. Warum war sie bloß so unorganisiert? Sie fand einen Packen abgelaufener Einkaufsgutscheine, die von einer dicken Büroklammer zusammengehalten wurden. Sie warf sie weg. Sie fand eine unbezahlte Rechnung und einen Teller mit Bagel-Krümeln und eingetrocknetem Frischkäse. Sie fand die Briefe von No-Goods Anwalt – die sie vergeblich gesucht hatte –, aber die würden warten müssen. Jetzt musste sie erst mal Benny finden. Das war am wichtigsten. Sie hatte plötzlich das Gefühl – so etwas wie mütterliche Intuition –, dass die kleine Bibliothekarin ihr helfen konnte. Sie musste nur die Visitenkarte finden.

Frustriert ging sie in die Küche. Vielleicht hatte sie sie dort irgendwohin gelegt. Die Auflaufform mit den Käse-Makkaroni stand unberührt auf der Herdplatte. Sie hatte keinen Hunger, aber Benny vielleicht, wenn er nach Hause kam. Also deckte sie die Form ab und stellte sie in den Kühlschrank. Als sie die Tür schloss, fiel ihr etwas ins Auge. Die Magnete hatten sich erneut verschoben, leise und unauffällig. Das Wort Mutter hatte sich von Schmerz gelöst und sich zu dem nicht weit entfernten Mond gesellt. Neben Mutter befanden sich zwei weitere Magnete, die fast so aussahen, als wollten sie eine neue Zeile bilden:

5.jpg

Unter cool bleiben klemmte die Visitenkarte der Bibliothekarin.

Cory.

Cory Johnson.

72

Du bist durch die Eingangstür geschlüpft und hast dich an der Sicherheitskontrolle vorbeigeschlichen. Als du die Rolltreppe erreicht hast, kam die Lautsprecherdurchsage: Die Bibliothek wird in zehn Minuten geschlossen. Du fuhrst die Rolltreppe hinauf, ein Stockwerk nach dem anderen, während ein Strom von Besuchern an dir vorbei nach unten schwebte. Du hast dir deine Kapuze tief in die Stirn gezogen, weil deine Augen noch immer brannten und tränten. Zweite Etage, dritte Etage, vierte Etage. Die Altmännertoilette war immer noch da, wo sie sein sollte. Du bist hineingehuscht und hast dein Gesicht unter den Wasserhahn gehalten, bis das Brennen nachließ. Fünfte Etage, sechste Etage. Du hast am ganzen Körper gezittert. Und die Zeit spielte verrückt. Sie setzte ein und stand still, beschleunigte und verlangsamte sich. Vielleicht war es die Wirkung des Tränengases. Achte Etage. Neunte Etage. Oben angekommen, hast du die schwindelerregende Brücke überquert und bist zu den Lesekabinen gegangen. Der Austauschschüler war schon weg, aber die Tipp-Lady war noch da. Sie packte gerade ihren Laptop ein. Du wolltest dich wegducken, aber da hatte sie dich schon entdeckt.

»He«, sagte sie. »Du hast’s ja gerade noch geschafft. Lange nicht mehr gesehen.« Während du mit pfeifendem Atem dastandst, musterte sie dein geschwollenes Gesicht und deine roten Augen. Dann zuckte sie mit den Schultern, zog den Reißverschluss ihres Rucksack zu und streifte sich die Gurte über die knochigen Schultern. Aber als sie an dir vorbeikam, blieb sie noch einmal stehen. »Bleibst du über Nacht hier?«

Du hast auf den Boden gestarrt und geschwiegen.

»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?« Und bevor du antworten konntest, sagte sie, eigentlich mehr zu sich selbst: »Wahrscheinlich nicht. Die Ärmste. Sie wird sich Sorgen machen …« Sie sah dich prüfend an, dann tätschelte sie deinen Arm. »Also, pass auf dich auf. Du weißt, dass es unten im Personalraum, gleich neben der Buchbinderei, Snacks gibt. Da willst doch hin, oder?«

Du hattest nicht vorgehabt, in die Buchbinderei zu gehen, aber aus irgendeinem Grund gefiel dir die Idee, also hast du genickt.

»Dann sei vorsichtig. In der Buchbinderei ist alles möglich, weißt du. Du solltest nicht zu lange da unten bleiben.« Als sie deine verstörte Miene sah, tätschelte sie wieder deinen Arm. »Keine Angst. Du wirst es überleben.«

Das klang nicht gerade beruhigend.

Als sie weg war, hast du dich in deiner Lesekabine verkrochen, dich auf dem Boden zusammengerollt und die Arme um deine Knie geschlungen. Du hast immer noch gezittert. Und dann hast du den Geräuschen gelauscht – Schritte und entfernte Stimmen, das Rattern der Bücherwagen und das dumpfe Brummen einer Bohnermaschine, die sich langsam näherte. War das einer der beiden Hausmeister, mit denen der Flaschenmann befreundet war? Hatte er was getrunken? Die Art, wie er die alte Maschine lenkte, machte dich stutzig. Als ob er Musik hörte – einen Walzer vielleicht –, schwenkte er die schweren, rotierenden Bürstenköpfe schwungvoll über den Boden. Du sahst es genau vor dir. Und als er schließlich die Brücke überquerte und sich deinem Versteck näherte, die runde Schnauze der Maschine unter deine Kabine schob, gegen deinen Oberschenkel stieß und sich hinunterbeugte, um nachzuschauen, was das Hindernis war, warst du sicher, dass er dich nicht sehen würde. Nicht, weil er betrunken war, sondern weil du unsichtbar warst.

Zumindest dachtest du das, während du gewartet hast, bis sich das Brummen der Bohnermaschine entfernte und auch die übrigen Geräusche verstummten. Du hast gewartet, bis dir ein Klicken verriet, dass der letzte Mensch die Tür abgeschlossen und das Gebäude verlassen hatte. Bis eine tiefe, friedliche Stille in der Bibliothek einkehrte – das nächtliche Schweigen der schlummernden Bücher, deren Wörter sicher und geborgen zwischen ihren Deckeln ruhten. Und dann bist du aus der Lesekabine geschlüpft und hast dich auf den Weg in die Buchbinderei gemacht.

73

Cory Johnson war noch in der Bibliothek, als Annabelle anrief. Sie schaffte es nie, pünktlich um neun zu gehen, wenn die Bibliothek schloss. Und heute dauerte es noch länger. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und sie war total erschöpft. Letzte Nacht war sie erst spät ins Bett gekommen, weil sie die Wahlen verfolgt und bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, aber um drei Uhr nachts stand das Ergebnis unwiderruflich fest. Am nächsten Morgen im Bus hatten die Fahrgäste grimmig und mit versteinertem Gesicht dagesessen und sich gegenseitig misstrauisch beäugt. Der Personalraum der Bibliothek war ihr wie ein Bestattungsinstitut vorgekommen. Die Sozialarbeiterin hatte eine E-Mail herumgeschickt und allen, die sich gestresst fühlten, ihre Hilfe angeboten.

»Gestresst?«, hatte ihr Freund Julio gefeixt, als sie zusammen an der Mikrowelle standen. »Entsetzt trifft es wohl eher. Wie wenn du aufwachst und dich plötzlich in einem Science-Fiction-Roman von Philip K. Dick wiederfindest.«

Die Bibliothek kam ihr immer vor wie ein Spiegel der Gesellschaft, und an diesem Tag mehr denn je. Die Bibliothekarinnen liefen wie Zombies durch die Gegend, konfus und übernächtigt, und die Besucher waren nervös und ungeduldig. Während des Vormittags hatten bereits zwei Drogensüchtige in der Herrentoilette eine Überdosis genommen. Die zuständigen Bibliothekare hatten ihnen sofort Naloxon gespritzt – sie waren dafür ausgebildet, aber sie machten es trotzdem ungern –, und das war, makabererweise, eine willkommene Ablenkung gewesen, aber dann kehrte die Erinnerung an die Wahlen zurück. Wie konnte es dazu nur kommen? Als wäre jemand plötzlich gestorben, dachte Cory. Am einem Tag ist noch alles in Ordnung, und am nächsten erfährst du, dass deine Oma gestorben ist, und nichts mehr ist in Ordnung; es gibt nur noch eine große Leere in deinem Leben. Cory erinnerte sich noch, dass sie ängstlich auf den Anruf ihrer Mutter aus dem Krankenhaus gewartet hatte, und dann an ihren Schmerz, der sämtliche Stadien durchlaufen hatte. Das hier war ganz ähnlich. Als die Bibliothek abends schloss, hatte sie Schock, Fassungslosigkeit, Leugnung und Wut durchlebt und ein paar Stunden mit Recherchen zur kanadischen Staatsbürgerschaft verbracht, bevor sie in eine ausgewachsene Depression fiel. Von Akzeptanz konnte keine Rede sein.

Als das Telefon klingelte, saß sie nicht an ihrem Schreibtisch, sondern versuchte gerade, Naheed, die junge iranische Bibliothekarin, die zu Forschungszwecken in den USA war, zu trösten, deren Eltern sie nach Hause beordert hatten. Als sie zur Multikulti-Ecke zurückkehrte, um aufzuräumen, sah sie, dass ihr Telefon blinkte. Sie zögerte, aber dann gewann doch ihr Verantwortungsgefühl die Oberhand; sie bereute es allerdings noch im selben Moment. Die Nachricht stammte von der Mutter des seltsamen kleinen Jungen, der immer unter ihrem Hocker gesessen hatte. Er war inzwischen ein Teenager. Netter Junge, aber immer noch seltsam. Ob er autistisch war? Als sie ihm damals in der Buchbearbeitung begegnet war, hatte er einen ziemlich verwirrten Eindruck gemacht, und später hatte Jevaun ihn im fünften Stock gefunden, wo er an die Wand hämmerte und die Toilette suchte. Seine Mutter schien eine sympathische Frau zu sein, wirkte aber irgendwie überfordert. Sie tat Cory leid. Es war wirklich traurig, dass ihr Sohn verschwunden war, aber dass sie fragte, ob er sich vielleicht in der Multikulturellen Kinderecke versteckt hielt, war schon ein bisschen nervig. Natürlich war er nicht da. Cory kam gerade von dort. Sie steckte ihre Wasserflasche und die Schlüssel in den Rucksack und ließ ein letztes Mal den Blick über ihren Schreibtisch schweifen. Sie hatte die Nase voll von Leuten, die Witze über Gespenster machten und zu ihr kamen, wenn sie etwas verloren hatten. Sie hatte nichts gegen Geister, schon gar nicht gegen multikulturelle, aber darüber Witze zu reißen war überhaupt nicht komisch, sondern rassistisch. Nicht dass die Mutter des Jungen rassistisch war oder witzig sein wollte, aber trotzdem. Cory schulterte ihren Rucksack und ging zur Bushaltestelle.

Ihr Bus hatte Verspätung, und dann musste er wegen der Demonstrationen in der Innenstadt einen großen Umweg machen. Die anderen Fahrgäste waren entnervt, ebenso wie sie, aber als ein paar weiße junge Typen abfällige Bemerkungen über die Demonstranten machten, spürte sie, wie ihre Gereiztheit in Wut umschlug. Innerlich kochend, drückte sie auf den Knopf und stieg an der nächsten Haltestelle aus. Gestern noch hätte sie etwas gesagt, aber heute hielt sie den Mund, und das machte ihr zu schaffen. Hatte sie etwa Angst? Ihr kam eine Gruppe von Leuten mit Plakaten entgegen, die Richtung Downtown liefen, und sie hätte sich ihnen am liebsten angeschlossen. Gestern noch hätte sie das auch getan, aber heute ging sie direkt nach Hause, duschte und legte sich ins Bett.

Mitten in der Nacht wachte sie auf und musste an die Voicemail der Mutter des vermissten Jungen denken. Es ärgerte sie, wenn die Arbeit ihr auch zu Hause keine Ruhe ließ und sie am Schlafen hinderte. Warum war sie nicht fähig, Grenzen zu setzen? Die Frau hatte so schüchtern und verlegen geklungen. Ihr Junge war verschwunden. Wenn sie Hilfe brauchte, warum suchte sie sich dann nicht welche?

Aber das hatte sie ja. Sie hatte sie um Hilfe gebeten. Darum ging es bei dem Anruf, aber Cory war nicht darauf eingegangen. Warum hatte sie die Frau nicht zurückgerufen? Warum hatte sie nichts zu diesen weißen Typen im Bus gesagt? Warum hatte sie sich den Demonstranten nicht angeschlossen? Was stimmte nicht mit ihr?

Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Es war kurz nach zwei. Zu spät, um anzurufen. Sie fragte sich, ob der Junge inzwischen nach Hause gekommen war. Die arme Frau – Annabelle. Ein eigentümlicher Name. Bestimmt war sie noch auf. Machte sich Sorgen. War verrückt vor Angst. Vielleicht versteckte sich der Junge tatsächlich in der Bibliothek. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Sicherheitsdiensts. Jevaun hatte Nachtschicht, und sie wusste, dass er um diese Zeit vor der Konsole mit den Monitoren vor sich hin döste.

»Hey, wach auf! Du musst mir einen Gefallen tun.« Sie ignorierte seinen Protest und fuhr fort: »Erinnerst du dich noch an den Jungen, der versucht hatte, die Wand einzureißen?«

»Im fünften Stock? Klar doch. Netter Junge. Ein bisschen durchgeknallt. Was ist mit ihm?«

»Ich glaube, er ist in der Bibliothek.«

»Unmöglich. Dann hätte ich ihn bestimmt gesehen.«

»Er heißt Benny. Benny Oh. Kannst du mal in der Multikulti-Ecke nachsehen?«

»Dafür gibt’s doch Kameras.«

»Vielleicht versteckt er sich unter einem Schreibtisch oder so.«

»Okay.« Sie hörte seinen Stuhl quietschen, als er aufstand. »Ruf mich bitte zurück, okay? Ich kann sonst nicht schlafen.«

Als ihr Handy klingelte, kochte sie gerade Tee. »Und?«

»Nichts.«

Sie nahm ihre Teetasse mit ins Wohnzimmer. »Könntest du vielleicht auch mal im neunten Stock nachschauen?«

Sie hatte den Jungen dort ein- oder zweimal gesehen, wenn sie eine Kollegin vertreten hatte. Er hatte in einer der Kabinen gesessen und sich hinter einer Festung aus Büchern verbarrikadiert. Er sah immer so ernst aus, wie er mit hochgezogenen Schultern auf seinem Stuhl saß, vor und zurück schaukelte und konzentriert in dem Buch las, das vor ihm lag. Einmal, als er gerade nicht da war, hatte sie nachgeschaut, für was er sich so interessierte, und war erstaunt über seine Auswahl gewesen: Bücher über mittelalterliche Rüstungen, über den deutschen Film, surrealistische Kunst, Walter Benjamin und eine Märchensammlung. In der Nachbarkabine saß auch eine Stammkundin, eine Autorin. Sie sah auf, als sie Cory bemerkte.

»Letzte Woche waren es argentinische Literatur und Ratgeber über die Aufzucht von Frettchen«, erzählte die Frau bereitwillig. »Jorge Luis Borges. Unglaublich, oder? Welcher Junge in diesem Alter liest Borges?«

Cory nippte an ihrem Tee und verbrannte sich prompt die Zunge, als ihr Handy erneut klingelte.

»Nada. Und was jetzt?«

Cory überlegte einen Moment. »Könntest du’s mal in der Buchbinderei versuchen?«

Als ihr Handy das nächste Mal klingelte, war ihr Tee nur noch lauwarm. Jevauns Stimme klang düster. »Du hattest recht«, sagte er. »Ich steh jetzt vor der Buchbinderei. Er ist da drin.«

Sie stellte die Tasse ab. »Wie geht’s ihm?«

»Offenbar ganz gut. Er sitzt auf der alten Papierschneidemaschine und summt vor sich hin. Lächelt irgendwie verträumt. Ich hab gerufen, aber er hat nicht reagiert.«

»Okay. Hör zu. Ich ruf mir ein Uber und …«

»Er ist nackt, Cor. Er hat überhaupt nichts an.«

»Oh je. Ist ihm irgendwas passiert?«

»Das kann ich nicht sagen. Du weißt, dass ich das melden muss?«

»Warte noch damit. Bitte!«

»Beeil dich.«

Er saß auf der Kante der alten Quintilio Vaggelli; über seinem Kopf ragte – wie ein Krummsäbel – die lange, gebogene Klinge. Cory stand am Eingang und beobachtete ihn. Er schien nicht verletzt zu sein und war auch nicht vollkommen nackt. Er hatte seine Unterhose an, und seine anderen Kleidungsstücke lagen ordentlich zusammengelegt in einem Stapel auf dem Boden. Er war in einer Art Trance, seine Hände lagen in seinem Schoß, während er sich sanft vor und zurück wiegte und leise vor sich hin sang. Ein Kinderlied? Nein, es war wohl eher ein Kanon. Row, row, row your boat. Seine nackten Füße schwangen im Rhythmus des Lieds, und seine geröteten Augen waren auf einen fernen Punkt gerichtet. In der Luft hing ein seltsamer Geruch; es roch irgendwie chemisch, auch ein bisschen nach saurer Milch und nach altem Papier und Klebstoff. Überall um ihn herum lagen Berge von kleinen Papierstreifen, die sie an Schneeverwehungen erinnerten. Er hatte mit der Vaggelli gespielt.

»Benny?«, rief Cory.

Er blinzelte, antwortete aber nicht.

Er sah gar nicht aus wie ein Teenager. Die schmale Brust, der leicht gerundete Bauch, die zarten, jetzt tränenüberströmten Wangen waren die eines kleinen Jungen. Seine Haut hatte einen goldenen Schimmer, und seine Haare standen in stachligen Büscheln ab, als wären sie mit etwas Klebrigem in Berührung gekommen. Er hatte eine hohe Jungenstimme, war offenbar noch nicht im Stimmbruch.

»Benny, kannst du mich hören?« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Er bewegte kaum merklich die Lippen, und fast schien es, als käme das Lied von ganz woanders, aus einer fernen Ecke der Buchbinderei oder gar von außerhalb der Bibliothek. Als sie genauer hinhörte, vernahm sie ein Echo, als wären es zwei Stimmen oder auch zehn oder zehntausend, die alle in perfekter Harmonie die melancholischen Verse dieses Kanons sangen.

Merrily, merrily, merrily, merrily, life is but a dream. Das Leben ist nur ein Traum …

74

An was erinnerst du dich noch, Benny? Oder hast du das auch alles ausgeblendet?

Zuerst kam der Sicherheitsmann, aber der ging wieder, dann kam die kleine Bibliothekarin, die blieb da und versuchte, mit dir zu reden. Schließlich kehrte der Sicherheitsmann mit der Polizei zurück. Einer nach dem anderen betraten sie die Buchbinderei, vorsichtig, um dich nicht zu erschrecken. Sie unterhielten sich leise und näherten sich dir behutsam. Sie wussten nicht, was sie erwartete. Sie sahen nur einen kleinen, halb nackten Jungen in einer weißen Unterhose, die Hände schützend über seine Genitalien gelegt, und eine lange, geschwungene Klinge, die über seinen Kopf ragte.

Du hättest ihnen erklären können, dass dir deine Hände Trost spendeten und Sicherheit gaben. Dein Gesichtsausdruck, das zufriedene Halblächeln und der entrückte, starre Blick hätten sie beruhigen können, taten es aber nicht. Jungs sollten nicht auf Papierschneidemaschinen sitzen und in aller Öffentlichkeit ihre Geschlechtsteile berühren. Jungs haben nachts nichts in einer Bibliothek verloren, und schon gar nicht nackt. Du hättest sagen können, dass du dich nur ausgezogen hast, weil deine Kleider nach Tränengas und saurer Milch rochen, und dass die beißenden Dämpfe dir in den Augen brannten. Du hättest ihnen erzählen können, dass Klingen nun mal gern schnitten und dass du dich zwar mit dieser angefreundet hattest, aber trotzdem Vorsichtsmaßnahmen trafst. Aber da du nichts erklärt hast, haben sie auch nichts verstanden. Vielleicht hätten wir dich dazu drängen sollen, mit ihnen zu reden und dein Verhalten zu rechtfertigen, aber das haben wir versäumt. Ehrlich gesagt ist uns der Gedanke gar nicht gekommen. Bücher kritisieren Jungs nicht wegen ihres Verhaltens. Bücher akzeptieren eure Verschrobenheiten. Außerdem waren wir beschäftigt. Wir hatten unsere erste richtige Unterhaltung. Wir waren ganz weit weg.

Die Eindringlinge kamen näher und hörten uns singen. Erinnerst du dich? Wir sangen denselben canon perpetuus , den deine Eltern immer gesungen hatten, als du noch im Bauch deiner Mutter warst. Als sich unsere Stimmen mit denen der anderen ungebundenen Bücher, die wie Geister durch die Buchbinderei wandelten, vermischten, waren die Eindringlinge verwirrt. Genau das hatten wir beabsichtigt. Wir sangen diesen Kanon, damit sie unsere gemurmelten Unterhaltungen nicht hören konnten. Unsere Wörter in jener Nacht waren für uns selbst bestimmt. Jeder Junge trägt ein Buch in sich, Benny, aber nicht jeder Junge kann verstehen, was es sagt. Und nicht jeder Junge ist bereit, ihm zuzuhören.

In jener Nacht hast du uns zugehört. Vielleicht lag es an der aufgeladenen Atmosphäre der Buchbinderei oder deinem Zusammenstoß mit dem wütenden Schläger oder auch der Entrüstung und Fassungslosigkeit der Menschen auf der Straße. Vielleicht hast du in diesem Moment einfach ein Buch gebraucht, um die Welt besser zu verstehen. Warum auch immer, du hast uns zugehört, und wir waren dir dankbar.

Erinnerst du dich an unser Gespräch? Erinnerst du dich noch an die Orte, die wir besuchten, und was wir dort sahen? Die Buchbinderei war unser Zugang, jener Punkt des Universums, der alle anderen Punkte enthält. Und in dieser Nacht warst du ein ungebundener Junge, ein kleiner Astronaut, der zum ersten Mal den Sprung in ein unendliches und unbekanntes Universum wagte. Zum ersten Mal konntest du die Stimmen der Dinge sehen , die du schon so lange gehört hattest, all die lärmende Materie, die um deine Aufmerksamkeit buhlte. Mit deinen übernatürlichen Ohren konntest du mit absoluter Klarheit die Formen und Konturen der Geräusche wahrnehmen, die Materie von sich gibt, wenn sie sich durch den Raum, die Zeit und den Geist bewegt. Manche waren so wunderschön, dass du gejubelt und begeistert in die Hände geklatscht hast; andere wiederum waren so traurig, dass dir die Tränen übers Gesicht liefen. Und erst die Bilder, die an uns vorbeizogen …

Glitzernde Containerschiffe, die in einer ruhigen Mondnacht vor der Küste Alaskas liegen. Pyramiden aus Schwefel, die gelb aus dem Nebel aufragen. Der geplünderte Mond mit seinen Kratern, Planeten und Sterne und Asteroiden, eine pechschwarze Krähe mit einem Diamanthaarreif im Schnabel, eine Schar Gummienten, die durch die pazifischen Müllstrudel wirbelt. Ein junges Mädchen hört Schritte und erstarrt, und Andromeda funkelt am Firmament. Feuer wüten, Mammutbäume brennen, und im tiefen Ozean trägt ein Grindwal sein totes Junges auf der Nase, während Meeresschildkröten salzige Tränen in Plastiknetze weinen.

Wie unmöglich es doch ist, diese Vielfalt an Ungebundenem in Worte zu fassen! In einem einzigen Moment wurden wir Zeuge, wie sich Sternbilder bildeten und wieder auflösten. Alles war in Bewegung. Wir nahmen wahr, wie sich pulsierende Materie in eine Murmel oder einen Baseballschläger verwandelte, in einen Sneaker oder eine Geschichte, ein Jazz-Riff oder eine Virusinfektion, eine Eizelle oder einen antiken Silberlöffel.

Wir sahen die reichen Silberminen am Cerro de la Bufa, die von Zacateco-Sklaven abgebaut wurden, um die Spanische Krone zu bereichern; anschließend wurde das Silber geschmolzen und zu besagtem Löffel geschmiedet, der tausend Münder fütterte – weit geöffnete, hungrige, junge und alte, rote und rosige, faulige und zahnlose –, bevor er im Seesack eines Einwanderers zurück übers Meer in die Neue Welt reiste. In der Bronx gehörte er zum Diebesgut eines Ganoven. In Hoboken landete er in einem Pfandhaus und dann in einem weiteren in Reno, bevor er nach Westen trampte, an den Rand des Kontinents, zu seiner jetzigen Bleibe in der verstopften Regenrinne einer unterfinanzierten öffentlichen Highschool irgendwo an der pazifischen Nordwestküste Amerikas.

Auf seinem Weg hat er auch dich gefüttert. Von deinem Platz auf der Papierschneidemaschine aus sahst du deine Mutter, wie sie dir zerdrückte Bananen in den Mund schob. In ihrem Schaukelstuhl schaukelte. Dir von der Kuh und der Mondsichel vorsang. Hey, diddle diddle. Da hast du geweint.

All das sahst und fühltest du gleichzeitig. Wie ist das möglich? Weil in der Buchbinderei, wo Phänomene immer noch ungebunden sind, Geschichten noch nicht linear ablaufen. Und wo all die unzähligen Dinge der Welt gleichzeitig passieren, gleichzeitig mit dir existieren. Ungebunden wie sie sahst du, wie das Universum entstand: Wolken aus Sternenstaub stiegen aus einem kleinen warmen Teich auf, dessen gasförmiges Blubbern der Ursprung allen Lebens ist. In diesem ungebundenen Stadium begegnete dir in jener Nacht all das, was jemals war und jemals sein wird: Form und Leere sowie die Abwesenheit von Form und Leere. Du hattest das Gefühl, dich völlig zu öffnen, mit der Materie zu verschmelzen und alles in dich hineinzulassen.

Uns, zum Beispiel. Du hast auch uns hineingelassen, und sobald wir in dir waren, konnten wir auf deine Sinne zugreifen und endlich verstehen, wie es ist, mit Augen zu sehen, mit Ohren zu hören, mit einer Nase zu riechen, mit einer Zunge zu schmecken, mit der Haut zu fühlen. Und das ist es schließlich, was Bücher wollen. Wir wollen einen Körper! Und zum ersten Mal konnten wir uns vorstellen, wie es ist, einen zu besitzen. Wir bekamen eine Ahnung davon, was Bewusstsein ist. Wir schenkten dir die ungebundene Welt, und das war dein Geschenk an uns.