Das Buch

Ja, es ist gut, sich zu erinnern.

Viele Menschen haben sich dieselbe Frage gestellt wie du, Benny. Wahrscheinlich ist es die älteste Frage der Menschheit. Aber das heißt nicht, dass sie für dich keine ganz eigene Bedeutung haben kann. Jeder Mensch ist in seiner eigenen Blase der Selbsttäuschung gefangen, und jeder Mensch hat in seinem Leben die Aufgabe, sich aus ihr zu befreien. Bücher können dabei helfen. Wir können die Vergangenheit in die Gegenwart holen, dich in die Vergangenheit zurückversetzen und dir helfen, dich zu erinnern. Wir können dir viele Dinge zeigen, deinen Blick schärfen und deinen Horizont erweitern, aber es ist deine Aufgabe, dich darauf einzulassen.

Es ist schön, wieder deine Stimme zu hören. Schön, dass du wieder da bist, gerade noch rechtzeitig, denn es gibt noch einiges zu tun, bevor wir fertig sind. Ein Buch zu beenden ist schwierig, deshalb brauchen wir deine Hilfe. Bist du bereit?

75

Als die Polizisten den Jungen ins Krankenhaus brachten, entdeckten sie Einstiche auf seinem Arm. Sie sagten es der Aufnahmeschwester, die den Bereitschaftsarzt darüber informierte. Dieser wiederum gab Dr. Melanie Bescheid, die sich am nächsten Morgen mit Annabelle in der Kinderpsychiatrie traf.

Dr. M. scrollte durch Bennys Patientenakte und suchte nach dem Polizeibericht. »Wir warten zwar noch auf die Ergebnisse des Bluttests, aber ich muss schon sagen, das hat mich überrascht. Haben Sie irgendwelche Anzeichen für einen intravenösen Drogenkonsum bemerkt?«

Sie saßen in einem kleinen Sprechzimmer auf der Station. Annabelle war erschöpft. Sie war die ganze Nacht über wach gewesen und hatte sich vor dem Anruf der Polizei gefürchtet, der schließlich gegen sechs Uhr morgens kam. Sie eilte ins Krankenhaus, wo sie Benny kurz sehen durfte, bevor er zur Untersuchung abgeholt wurde. Und dann wartete sie stundenlang auf Dr. Melanie. Jetzt musste sie einen Moment nachdenken. Als sie die Bedeutung von Dr. Melanies Frage begriff, schüttelte sie energisch den Kopf. »Nein! Natürlich nicht!«

Dr. M. beugte sich zum Monitor vor. »Dem Bericht zufolge schien er unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln zu stehen, als er in Gewahrsam genommen wurde. Im Streifenwagen auf dem Weg ins Krankenhaus gestand er, eine Schaufensterscheibe eingeschlagen zu haben. Er machte einen verwirrten, desorientierten Eindruck. Sagte irgendetwas über Baseball. Er schien Wahnvorstellungen zu haben, was der einweisende Arzt dann bestätigt hat.« Sie scrollte wieder nach oben. »Hat er sich in letzter Zeit anders verhalten als sonst? Ungewohnt oder auffällig?«

Und wieder wusste Annabelle nicht gleich, was sie antworten sollte. Das Verhalten ihres Sohns war immer ungewohnt und auffällig. Das wusste Dr. M. ja. Was sollte sie noch dazu sagen?

»Nein. Eigentlich nicht.« Ratlos sah sie die Ärztin an, die darauf wartete, ihre Antwort eingeben zu können. »Na ja, wissen Sie, so ist Benny nun mal …« Als ob das irgendjemandem weiterhelfen würde.

»Also nichts Ungewöhnliches? Keine plötzliche Unruhe? Reizbarkeit? Überdrehtheit?«

Annabelle schüttelte den Kopf.

»Erschöpfung? Schläfrigkeit?«

»Am Wahltag war er krank«, versuchte sie es erneut. »Er hatte eine Erkältung und leichtes Fieber. Also habe ich ihn zu Hause behalten. Er hat viel geschlafen. Ich wollte ihn auch am nächsten Tag zu Hause lassen, aber da war er schon weg.«

»Ist er in die Schule gegangen?«

»Nein. Ich hab angerufen, aber er war nicht da. Ich hatte keine Ahnung, wo er war. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht! Und dann ist er auf einmal in der Bibliothek aufgetaucht.« Sie hielt inne, weil ihr etwas einfiel. »Doch, da war was, was ungewöhnlich war«, sagte sie. »Bevor er wegging, hat er meine ganzen T-Shirts zusammengelegt …«

Dr. Melanie sah sie an. »Ihre T-Shirts?«

»Ja, als ich ein Nickerchen machte«, sagte sie eifrig. »Ich hatte ein bisschen aufgeräumt und die T-Shirts aus meiner Kommode zu Häufchen gestapelt. Auf dem Weg nach draußen muss er sie gesehen haben. Er hat sie gefaltet und in die Schublade gelegt, nach Farben sortiert wie ein Regenbogen! Ist das nicht rührend? Er ist so geschickt in solchen Dingen!«

Die Ärztin nickte und schaute wieder auf den Monitor. »Hat er irgendwelche neuen Freunde erwähnt? In der Schule oder in der Nachbarschaft?«

»Nein«, sagte Annabelle verzagt. »In der Schule nicht. Aber es gibt da ein Mädchen. Ich glaube, er hat sie hier auf der Station kennengelernt …«

Die Ärztin blickte auf. »War sie eine Patientin?«

»Ich glaub schon.«

»Wissen Sie, wie sie heißt?«

»Er nennt sie das Aleph, aber das kann ja wohl nicht ihr richtiger Name sein.«

Die Ärztin runzelte die Stirn und begann wieder, durch Bennys Akte zu scrollen. »Ist das nicht die Freundin aus der Bibliothek? Die er aus der imaginären Toilette retten wollte? Er hat mir davon erzählt. Ach ja, hier ist es.« Schweigend las sie ihre Aufzeichnungen. Dann drehte sie sich wieder zu Annabelle um und sah sie forschend an. »Sie ist nicht real, Mrs. Oh. Das wissen Sie doch, oder?«

Annabelle sah die Ärztin mit großen Augen an. »Nicht real?«

»Sie ist eine Figur aus einer Kurzgeschichte eines südamerikanischen Schriftstellers. Ich hab seinen Namen vergessen.«

»Borges«, sagte Annabelle. »Jorge Luis Borges. Er ist Argentinier.«

»Ja, genau. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Benny hat in einer unserer Sitzungen eine Freundin namens das Aleph erwähnt. Ich fand den Namen ungewöhnlich und habe ihn gegoogelt.«

»Ich auch, aber …«

»Es ist schon faszinierend«, sagte die Ärztin und sah wieder auf ihren Bildschirm. »In der Geschichte ist das Aleph nicht einmal ein Mensch, sondern nur ein kleiner Gegenstand, nicht größer als ein Golfball.«

»›Ein kleiner regenbogenfarbener Kreis von fast unerträglicher Leuchtkraft‹. Ja, ich weiß, aber …«

»›Ein Punkt im kosmischen Raum‹«

»›… der alle Punkte enthält.‹ Ja, ich hab’s auch gelesen. Was meinen Sie mit nicht real?«

Die Ärztin lächelte. »Offensichtlich haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht. Ich meine damit, dass Bennys Alpeh nur eine fiktive Person ist. Ihr Sohn hat eine lebhafte Fantasie.«

»Natürlich! Er ist sehr kreativ.«

»Was mit der Symptomatik einer Psychose übereinstimmt. Es ist ja nicht nur dieses Alpeh. Es gibt wohl mehrere imaginäre Freunde, mit denen er kommuniziert.«

»Imaginäre Freunde?«

»Sie können sie auch imaginäre Wesen nennen«, sagte die Ärztin. »Dinge, mit denen er spricht, und noch viele andere, die zu ihm sprechen. Sein Aleph ist eins davon. Er sagt, dass sie auf einem Baum lebt. Und es gibt auch noch etwas, das er als …« Sie warf einen Blick in ihre Notizen. »Roboter bezeichnet. Genauer gesagt, einen umgebungssensitiven, befehlsorientierten Multifunktionsroboter, der ihn vor möglichen Gefahren warnt. Und dann erzählte er noch von einem Wesen, das er F-Mann oder manchmal auch Flaschenmann nennt, ein Obdachloser mit einer Beinprothese. Das scheinen mir komplexe visuelle Halluzinationen zu sein. Er kann sie sehen und in allen Einzelheiten beschreiben. Daneben gibt es eine größere Gruppe elementarer akustischer Halluzinationen. Benny erwähnte Objekte wie Teekannen, Tischbeine, Duschköpfe, Scheren, Sneaker, Risse im Bürgersteig und Fensterscheiben, um nur einige zu nennen. Aber da ist noch eine, die sich von allen anderen unterscheidet, eine äußerst komplexe akustische Halluzination, etwas, was er als ›das Buch‹ bezeichnet.«

Dr. Melanie hielt kurz inne, wählte dann ihre Worte mit Bedacht: »Die Beziehung zu diesem ›Buch‹ scheint etwas zwiespältig zu sein. Anfangs zeigte Benny Symptome von Paranoia und unterstellte dem Buch bösartige Absichten, behauptete, dass es ihn ausspioniere, in seinen Kopf eindringe und ihn zwinge, ›Dinge zu tun‹, damit es ›seine Geschichte erzählen‹ könne. So hat er es ausgedrückt. Als wir heute Morgen miteinander sprachen, erzählte er mir, dass das Buch ihn aufgefordert habe, in die Buchbinderei zu gehen, damit es ihm ›Dinge zeigen‹ könne. Als ich ihn fragte, was für Dinge das seien, antwortete er nicht. Und als ich nicht lockerließ, sagte er nur: ›Alles‹. «

Das Wort hing in der Luft, und der Lärm auf der Station schien zu verstummen. Annabelle hatte die Ärztin noch nie so erlebt. Sie wirkte so anteilnehmend. Und sie schien so viel mehr über Benny zu wissen als sie selbst. Hatte er ihr das wirklich alles erzählt?

»Er wirkte völlig ruhig und entspannt«, fuhr die Ärztin fort. »Keinerlei paranoide Züge mehr. Im Gegenteil, wenn ich seinen Gemütszustand beschreiben sollte, fallen mir Begriffe wie ehrfürchtig oder ergriffen ein. Ihn mit einem Mystiker zu vergleichen, der Gott gesehen hat, mag übertrieben sein, aber so ähnlich hat er sich ausgedrückt. Und das deutet darauf hin, dass er das Buch jetzt als wohlmeinendes Wesen erlebt.«

Sie schüttelte den Kopf und lachte. »Sie haben einen sehr interessanten Sohn, Mrs. Oh.«

Annabelle räusperte sich. »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, Sie irren sich.«

Die Ärztin sah sie erstaunt an. »In Bezug auf das Buch?«

»Nein, ich meine das Aleph.« Annabelle umklammerte die Tasche auf ihrem Schoß und rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn. »Sie ist keine Einbildung. Sie ist echt. Benny hat mir zwar auch gesagt, dass er sie sich ausgedacht hätte, aber ich glaube, das war gelogen.«

»Mrs. Oh, ich weiß, wie schwierig das für Sie ist, aber …«

»Das Aleph ist mit diesem netten chinesischen Jungen befreundet. Mackson. Benny hat ihn hier auf der Station kennengelernt.«

»Ah, Mackson Chu. Ja. Er ist wieder an der Uni. Stanford, glaube ich.«

»Na ja, er kennt sie jedenfalls auch. Sie brauchen ihn nur zu fragen.«

»Mackson war Bennys Zimmergenosse, hab ich recht? Das klingt mir eher nach einer gemeinschaftlichen Halluzination, einer Folie à deux. Ungewöhnlich, aber nicht …«

»Es muss doch eine Patientenakte über das Mädchen geben. Könnten Sie nicht mal nachschauen?«

Dr. Melanie legte die Hände flach auf den Tisch. »Mrs. Oh, ich kann Ihnen versichern, dass kein Aleph bei uns in Behandlung war. Diesen Namen hätte ich mir gemerkt.«

»Aber ich hab doch mit ihr gesprochen «, sagte Annabelle. Ihre Stimme zitterte, klang schrill. »Ich hab sie sogar gesehen. Sie war das Mädchen mit der Gummiente im Container! Sie war in der Vollmondnacht mit Mackson in der Gasse! Ich hab ihre Nummer in Bennys Handy gefunden und sie angerufen. Und sie ist rangegangen!«

Die Ärztin beobachtete sie jetzt genau. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Nicht richtig, aber ich hab ihre Stimme gehört. Klar und deutlich!«

»Verstehe«, sagte die Ärztin ruhig. Sie nahm einen Stift und notierte sich etwas auf einen Block. Dann holte sie tief Luft, straffte die Schultern und beugte sich vor. »Das ist sehr interessant, Mrs. Oh. Möchten Sie mir mehr darüber erzählen? Was glauben Sie, noch gehört zu haben?«

Auf Dr. Melanies Block stand Jugendamt.

In der folgenden Woche bekam Annabelle Besuch von einer Sozialarbeiterin, nicht von der netten Ashley aus dem Krankenhaus, die sich nach ihrem Treppensturz so rührend um sie gekümmert hatte, sondern von einer anderen Frau, die unangemeldet vor der Haustür stand und sagte, sie käme vom Jugendamt. Es wäre Annabelle nie in den Sinn gekommen, sie nicht hereinzulassen. Im Flur sagte die Frau dann, sie müsse das ganze Haus besichtigen. Annabelle willigte ein und führte sie zuerst ins Wohnzimmer.

»Das ist die Kommandozentrale«, sagte sie nicht ohne Stolz. Als sie die verwirrte Miene der Frau sah, fügte sie hinzu: »Ach, nur so ein Witz. So nennen wir meinen Arbeitsplatz.«

Die Frau fragte sie nach ihrer Arbeit, und Annabelle erklärte es ihr. Dann zeigte die Frau auf die verstaubten Müllbeutel, die wie Sandsäcke vom Boden bis zur Decke gestapelt waren.

»Was ist das denn alles?«

Annabelle lachte. »Ach, das ist Schnee von gestern.«

»Ist das auch so ein Witz?«

»Nein«, sagte Annabelle. Sie erklärte ihr die Archivierungs-Richtlinie ihrer Firma und sagte, dass sie durch ihren Unfall mit dem Recycling in Verzug geraten sei. »Ist mir alles ein bisschen über den Kopf gewachsen«, sagte sie kleinlaut. Wie um ihre Aussage zu unterstreichen, deutete sie auf den Wust von Kleidern und das verknäulte Bettzeug auf dem Sofa. Sie habe wegen ihres Knöchels unten geschlafen, aber Gott sei Dank heile er gut, und bald würde sie wieder nach oben in ihr Zimmer ziehen können.

»Können wir es uns mal ansehen?«, fragte die Frau.

»Natürlich. Aber passen Sie auf, wo Sie hintreten.« Sie lotste sie zwischen Säcken und Kartons hindurch die Treppe hinauf. »Sie können sich am Geländer festhalten.«

Die Frau folgte ihr wortlos. Oben angekommen, blieb sie im Türrahmen stehen und musterte das Zimmer. »Ist das das Bett?«, fragte sie. Das war keine unhöfliche oder gar sarkastische Bemerkung, sondern schlicht eine Bitte um Information. Annabelle spähte über die Schulter der Frau. In den Augen einer Fremden musste das Zimmer wirklich erschreckend aussehen. Sie sah die Frau forschend an. Was ging in ihr vor? Jetzt machte sie Fotos mit ihrem Handy. Dann schrieb sie etwas in ihr Notizbuch, mit einem kleinen Kuli, den sie an einer Silberkette um den Hals trug. Als Annabelle das Schweigen nicht mehr aushielt, bewunderte sie den Stift, sagte, wie praktisch es sei, immer einen zur Hand zu haben, und dass sie nie einen finden könne, wenn sie einen brauche.

»Ja«, sagte die Frau. »Das kann ich mir vorstellen.«

Dann bat sie darum, als Nächstes Bennys Zimmer sehen zu dürfen. Bevor sie die Tür öffnete, atmete sie hörbar aus. »Also dann«, sagte sie.

Sie trat ein und betrachtete das sorgfältig gemachte Bett mit der Weltraumdecke, inspizierte den Schrank mit den ordentlich auf Bügeln aufgehängten Kleidern und nahm dann die Bücher in Augenschein, die neben dem Mondglobus, der Murmel und der Gummiente im Regal aufgereiht waren.

»Wie ich sehe, liest Ihr Sohn gern.«

»Ja«, sagte Annabelle stolz. »Er liebt Bücher. Das hat er von mir.«

»Trotzdem scheint er dieses Jahr in der Schule viel gefehlt zu haben.« Sie zeigte auf die Schachtel mit Kenjis Asche. »Was ist das?«

Annabelle erklärte es ihr, worauf die Frau nickte.

»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte sie. Sie hielt einen Moment inne, um ihre mitfühlenden Worten wirken zu lassen. Dann deutete sie auf das Bett und sagte: »Vielleicht sollten wir uns hier unterhalten, wo wir es etwas bequemer haben?« Sie bot Annabelle im Zimmer ihres eigenen Sohnes einen Platz an. In ihrem eigenen Haus.

Als die Frau, die bislang recht einsilbig gewesen war, zu reden begann, hörte Annabelle ihr mit bangem Herzen zu. Sie wirkte keineswegs herzlos, als sie Annabelle über den Bericht informierte, den sie beim Jugendamt einreichen würde. Sie erklärte ihr, zu welcher Einschätzung sie gelangt war. Der unaufgeräumte Zustand des Hauses, insbesondere die Papierberge und das Kabelgewirr in ihrem so genannten Archiv, stellten eine ernstzunehmende Brandgefahr dar. Dies gefährde nicht nur die körperliche Unversehrtheit ihres Sohnes, sondern auch, angesichts seiner psychiatrischen Vorgeschichte, seine seelische Gesundheit. Falls Annabelle das Haus nicht gründlich aufräume und die erforderlichen Sicherheitsstandards gewährleiste, müsse sie dem Jugendamt leider empfehlen, Benny in Obhut zu nehmen. Dass Benny im Krankenhaus sei, verschaffe ihr ein wenig Zeit, sagte sie. Sie würde in zwei Wochen wiederkommen, um zu sehen, welche Fortschritte Annabelle gemacht hatte. Und dann wollte sie wissen, ob Annabelle noch irgendwelche Fragen habe.

Annabelle kam nicht auf die Idee zu fragen, woher die Frau von Bennys psychiatrischer Vorgeschichte wusste. Stattdessen fragte sie: »Wie soll ich mit einem gebrochenen Knöchel das Haus aufräumen?«

»Na ja, normalerweise wendet man sich da an Verwandte, Freunde oder das soziale Umfeld.«

Nicht schon wieder. »Ich habe keine Freunde«, sagte Annabelle müde. »Oder Verwandte. Oder ein soziales Umfeld.«

»Verstehe.« Die Frau schrieb wieder etwas in ihr Notizbuch. »Sie sagten, das Haus sei gemietet, richtig? Vielleicht wäre Ihr Vermieter ja bereit, Ihnen zu helfen. Mir ist aufgefallen, dass draußen bereits ein Müllcontainer steht.«

»Den hat der Sohn meiner Vermieterin bestellt. Er will das Haus verkaufen. Er sucht nach einem Vorwand, um uns vor die Tür zu setzen.«

»Verstehe.« Die Frau machte sich noch eine Notiz. Dann sah sie Annabelle prüfend an. »Dies ist eine ernste Angelegenheit, Mrs. Oh. Das ist Ihnen doch klar, oder?«

Annabelle nickte.

»Ich würde Ihnen außerdem empfehlen, sich Hilfe zu suchen. Es gibt Therapeuten und Selbsthilfegruppen für Menschen mit einem Messie-Syndrom. Und ich kann Ihnen auch andere …«

Messie-Syndrom? Dr. Melanie hatte ihr auch so etwas vorgeschlagen, aber da war es eher um ihre Ängste gegangen. »Eine Selbsthilfegruppe kann mir nicht beim Aufräumen helfen.«

»Mag sein, aber sie kann Ihnen helfen, den Ursachen für Ihr Problem auf den Grund zu gehen. Aber fürs Erste könnte Ihnen auch ein professioneller Reinigungsdienst weiterhelfen. Da kann ich Ihnen gern eine Liste geben.«

»Ist so was nicht teuer?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht genau sagen, aber das Haus ist klein, und es gibt keine Verunreinigungen durch Haustiere, kein Ungeziefer und, bis auf den Schimmel und den Staub, auch keine größeren Verschmutzungen. Und viele der Sachen sind ja auch schon in Säcke verpackt. Ich gehe mal davon aus, dass ein Reinigungsteam den Job in rund einer Woche erledigen kann.«

Annabelle betrachtete schweigend Bennys Bettdecke und zeichnete mit dem Finger die bunten Ringe des Saturn nach. Sie hatte die Decke bei eBay ersteigert. Die kleinen Astronauten waren so niedlich, wie sie da zwischen den Sternen und Planeten im All herumschwebten. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass die Sozialarbeiterin sie immer noch beobachtete. Annabelle atmete tief durch.

»Das ist nicht nur ein Job, den man mal eben so erledigt«, sagte sie und erhob sich langsam. »Das ist mein Leben.«

Als am nächsten Morgen ihr Chef anrief, wusste sie, dass das nichts Gutes bedeutete. Allein, dass er anrief, war schon ein schlechtes Zeichen. Und dass er ihr vorher eine SMS geschickt hatte, um zu fragen, ob sie Zeit zum Telefonieren habe, machte die Sache noch schlimmer. Zuerst fragte er sie, wie es ihr gehe, was der Knöchel mache, ob die Kopfschmerzen nachgelassen hätten. Und sie versuchte, möglichst optimistisch und fröhlich zu klingen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte ihn nach dem Grund seines Anrufs. Sie hörte, wie er tief Luft holte. Und dann sagte er es ihr. Die Firma modernisiere ihr Unternehmenskonzept, um sich neuen Branchentrends anzupassen. Die sozialen Medien revolutionierten die Medienlandschaft. Und die Texterkennungssoftware habe Medienbeobachter überflüssig gemacht. Deshalb habe die Firmenleitung die Nachrichtenabteilung verkleinert und ihre Stelle gestrichen. Der Job, den sie seit fünfzehn Jahren machte, praktisch ihr ganzes Erwachsenenleben lang, war überflüssig geworden.

»Ist es, weil ich mir eine Auszeit genommen habe?«, fragte sie. »Du hast doch gesagt, dass das kein Problem wäre, oder? Dass es okay wäre, wenn ich mich von der Gehirnerschütterung erhole, und ich war dir so dankbar. Und jetzt hab ich mich erholt, und zwar vollständig! Ich arbeite jetzt seit zwei Wochen wieder. Wegen der Wahlen war die Hölle los, aber ich hab es ohne Kopfschmerzen, Sehstörungen oder sonst was geschafft. War ich zu langsam? Nein! Hab ich Fehler gemacht oder Mist gebaut? Nein!«

»Du hörst mir nicht zu, Annabelle. Deine Arbeit ist in Ordnung. Es ist der Job an sich. Die Stelle existiert nicht mehr. Wegen der Umstrukturierung ist unsere ganze Abteilung aufgelöst worden.«

»Dann schul mich eben um. Ich schaff das. Das hab ich bewiesen. Und das weißt du.«

»Ja, schon. Aber das liegt jetzt nicht mehr in meiner Hand. Wenn ich diese Anrufe erledigt habe, bin auch ich meinen Job los. Es ist vorbei, Annabelle. Es tut mir leid.«

Noch am selben Vormittag kamen Möbelpacker, um die Kommandozentrale mitzunehmen. Sie wickelten die Geräte wie Neugeborene in Umzugsdecken ein und trugen sie zum Transporter, während die Kabel wie Nabelschnüre hinter ihnen her schleiften. Dann kamen sie zurück und bauten ihren hufeisenförmigen Arbeitstisch ab. Sie saß auf einem Stapel Wäsche auf dem Sofa und sah zu, wie sich die Leere in ihrem Wohnzimmer ausbreitete. Als sie ihren ergonomischen Stuhl mitnehmen wollten, protestierte sie. Sie hing an diesem Stuhl. Sie flehte sie an, ihn ihr zu lassen.

»Tut mir wirklich leid«, sagte der Möbelpacker bedauernd. Der Stuhl stehe nun mal auf seiner Liste. Von der Veranda aus beobachtete Annabelle, wie er ihn die Einfahrt hinunterrollte und im Transporter verstaute. Dann schaute sie zu, wie er davonfuhr. Erst als sie ins Haus zurückging, bemerkte sie, dass sie keinen der Müllsäcke und Kartons mit dem Archivmaterial mitgenommen hatten. Sie setzte sich wieder aufs Sofa. Vor ihr auf dem Boden lag immer noch die T-Shirt-Schublade, daneben das aufgeschlagene Tidy Magic. Sie las gerade das Kapitel über Erdbeben, Tsunamis und andere Naturkatastrophen. Verglichen damit waren ihre Probleme klein und unbedeutend. Natürlich hatte die Nonne ihr nicht geantwortet. Sie musste sich wohl um katastrophalere Katastrophen kümmern. Annabelle stieß das kleine Buch mit dem Zeh an. Dann hob sie es auf und schleuderte es quer durch den Raum – in die Ecke, wo der Karton mit den ausrangierten Sachen stand. Sie hatte noch nie ein Buch durch die Gegend geworfen. Es flog durch die Luft, und seine Seiten flatterten wie gebrochene Flügel.

76

Aikon legte die Stirn ans Fenster und beobachtete, wie die Rollbahn unter ihr verschwamm. Die Landebahn verschwand, und jetzt konnte sie die Kontrolltürme und die winzigen, ordentlich aufgereihten Flugzeuge sehen. Unter ihr erstreckte sich Narita City, ein Flickenteppich aus dicht besiedelten Wohngebieten und ausgedehnten Agrarflächen, von Autobahnen durchschnitten und rechteckigen Waldparzellen durchsetzt. Sie entdeckte den kleinen Schatten ihres Flugzeugs, der lautlos über die Szenerie hinwegglitt, unbeirrt seinem Kurs folgend, ohne sich von Straßen, Flüssen und anderen irdischen Hindernissen aufhalten zu lassen. Je höher sie aufstiegen, desto weiter dehnte sich die Landschaft aus, bis sie schließlich im graublauen Dunst des Horizonts verschwand und sich der kleine Schatten verflüchtigte.

Aikon lehnte sich zurück und sah sich in der Kabine um. Neben ihr saß Kimi mit geschlossenen Augen, den Kopf an die Nackenstütze gepresst. Es würde ein langer Flug werden, und Kimi flog nicht gern. Sie würden ihre Tour in New York beginnen und dann kreuz und quer durchs Land reisen, um in verschiedenen Großstädten Vorträge zu halten und Pressetermine wahrzunehmen. Sie würden sich mit einem Fernsehteam treffen, um einen Pilotfilm für die neue Reality-Show über amerikanische Messie-Familien zu drehen. Kimi hatte ihr die »Vorher«-Fotos, die die amerikanischen Produzenten ihr geschickt hatten, gezeigt. Aikon hatte schon viele Bilder von unaufgeräumten Häusern in Japan gesehen, aber japanische Häuser und Wohnungen waren klein. In den USA dagegen waren die Häuser groß und geräumig – grandios wie die amerikanischen Landschaften und wie die Amerikaner selbst, mit ihren großartigen Träumen und ihrem grenzenlosen Optimismus. Doch diese positive Lebenseinstellung hatte auch ihre Schattenseiten. Das bewiesen die verwaisten Entsafter, unbenutzten Bauchtrainer, ausrangierten Kleider und kaputten Spielsachen, die in Garagen, Schränke und unter Betten verbannt waren. All die Hoffnung, Reue und Enttäuschung. Und all die armen verschmähten Dinge.

Natürlich war die Lösung ganz einfach: Die Leute brauchten nur aufzuhören, so viel Zeug zu kaufen. Aber als Aikon dies kürzlich in einem Telefonat mit ihren amerikanischen Produzenten erwähnte, reagierten sie nicht gerade begeistert. Kurz darauf schickten sie ihr ein Memo mit der Bitte, im Pilotfilm nicht über solche Themen zu sprechen. Als Kimi nachfragte, was sie mit »solchen Themen« meinten, mailten sie ihr eine Liste: Konsumismus, Kapitalismus, Materialismus, Warenfetischismus, Online-Shopping und Kreditkartenschulden. Es sei unamerikanisch, sich kritisch zu solchen Themen zu äußern, erklärten sie. Die amerikanischen Zuschauer erwarteten proaktive Lösungen. Und Konsumverzicht war alles andere als proaktiv.

Kimi öffnete die Augen und griff in ihre Tasche, um ihr Handy herauszuholen. Wie Aikon wusste, hoffte sie immer noch auf eine Nachricht von der Mutter des Jungen, der Stimmen hörte. In ihrer letzten E-Mail hatte die Frau über einen Streit mit ihrem Mann am Abend vor seinem Tod berichtet. Die E-Mail war unvermittelt abgebrochen, und seitdem hatte sie nichts mehr von ihr gehört.

»Gibt’s was Neues?«

Kimi sah überrascht auf und schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie zögerte kurz, dann sprudelte es aus ihr heraus. »Glauben Sie, dass der Geist ihres Mannes wegen des Streits nicht mehr zur Ruhe kommt? Vielleicht ist er ein Yürei und spukt in ihrem Haus herum, um sich zu entschuldigen. Und deshalb kann die Frau ihre Trauer nicht überwinden und ihr Leben weiterleben.«

»Gibt es in Amerika auch Yürei?«

»Es gibt dort wohl auch Geister. Aber ihr Mann war ja ohnehin Japaner …«

»Stimmt. Was geht dir durch den Kopf?«

Ich überlege, ob wir ihr nicht antworten sollten. Ob jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt wäre, um ihr zu helfen.«

77

Benny wusste nichts von der Entlassung seiner Mutter. Er wusste auch nichts vom Besuch des Jugendamts oder von den Drohbriefen No-Good Wongs und auch nichts von den Ängsten, die Annabelle quälten, wenn sie nachts, ganz allein im Haus, wach lag und sich Sorgen machte. Und sie machte sich schreckliche Sorgen.

Auf der Station stand er unter Beobachtung. Seine Bluttests bestätigten, dass er keine Drogen genommen hatte. Jetzt vermutete man, dass er sich ritzte oder sonst wie verletzte. Immer wieder betrachtete er seinen Unterarm, fuhr mit den Fingern sanft über die Narben und presste seine Lippen auf die kleinen Sterne. Sein Arm sah jetzt aus wie der des Aleph, aber das wussten die Schwestern nicht, und er konnte es ihnen auch nicht erklären. Er hatte aufgehört, etwas zu erklären, er hatte aufgehört, überhaupt etwas zu sagen. Selektiver Mutismus, so beschrieb es Dr. M. in ihren Aufzeichnungen, aber das wusste er natürlich nicht. Als niemand hinsah, klaute er eine Büroklammer aus der Schwesternstation. Für alle Fälle.

Und auch mit seinem Körper geschahen seltsame Dinge, die er nicht kontrollieren konnte. Er hatte schon die Nebenwirkungen von Tabletten erlebt, wenn Dr. M. seine Medikamente umgestellt hatte, aber das hier war anders. Sein Körper schien plötzlich ein Eigenleben zu führen, als würde sich jedes seiner Glieder selbstständig machen und auf eigene Faust losziehen. Da sie unerfahren waren und ihre Bewegungen nicht koordinieren konnten, wurde er fahrig und ungeschickt, ließ immer öfter Dinge fallen. Scheinbar über Nacht wuchsen ihm flaumige Haare in der Leistengegend und in den Achselhöhlen. Sein Penis und seine Hoden wurden größer, und das gefiel ihnen. Auch seine Füße wurden größer, nur ihnen gefiel das nicht. Und eines Morgens, kurz nach seiner Klinikeinweisung, wachte er auf und stellte fest, dass sie sich nicht mehr bewegen wollten. Er richtete sich im Bett auf, setzte die Füße auf den Boden und erhob sich, aber als er merkte, dass sie nicht gehen wollten, setzte er sich wieder hin. Er hatte Zeit. Er würde warten, bis seine Füße ihre Meinung änderten. Die Krankenschwester hatte allerdings nicht so viel Geduld. Sie wollte, dass er sich anzog und zu den anderen in den Frühstücksraum ging. Aber da er nicht mehr sprach, konnte er es ihr nicht erklären. Er saß auf dem Bett, während sie erst schimpfte und ihm dann gut zuredete. Schließlich tat er ihr den Gefallen und stand auf, aber als sie versuchte, ihn nach vorn zu schieben, knickten seine Beine ein, und er fiel vornüber. An diesem Morgen brachte man ihm das Frühstück ans Bett und auch das Mittagessen, aber bis zum Abendessen hatte er herausgefunden, wie er seine Füße überlisten konnte. Es war eine wirklich clevere Idee. Wenn er einen zerknüllten Zettel vor seinen großen Zeh warf, war das ein Anreiz für seinen Fuß, einen Schritt nach vorn zu machen. Er hatte jetzt ein Ziel. Dann ließ er einen weiteren fallen. Er trug die Papierkügelchen als Köder in seiner Tasche. Ziele sind wichtig. Das hatte ihm sein Coach gesagt. Auf jedem Zettel stand eine aufmunternde Botschaft, die seine Füße anspornen sollte.

Setz einfach einen Fuß vor den anderen , stand auf einem.

Geh die Dinge Schritt für Schritt an , stand auf einem anderen.

Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit , stand auf einem dritten. Und tatsächlich fühlte er sich wie Armstrong, als er seinen ersten Schritt auf dem Mond machte. Und er fühlte sich auch wie Hänsel, der im Wald Brotkrumen verstreute. Als einer der Zettel sich einen Scherz erlaubte und Ein Schritt vor, zwei zurück flüsterte, um ihn zu verwirren, trickste er ihn aus, indem er sich umdrehte und rückwärts ging. Das erforderte einiges Geschick, aber es gelang ihm immer, sein Ziel zu erreichen. Doch nach einer Weile versagte auch diese Strategie. Und schließlich gehorchten ihm seine Füße überhaupt nicht mehr, sodass er gezwungen war, einen Rollstuhl zu benutzen. Und so saß er jetzt immer in einer Ecke des Gemeinschaftsraums im Rollstuhl und sah aus dem Fenster, wenn Annabelle ihn besuchte.

Sie kam jeden Nachmittag, immer zu früh, sodass sie auf den Beginn der Besuchszeit warten musste, und sie blieb immer bis zum Schluss. Er spürte, dass auch sie vom Personal beobachtet wurde, und wollte sie warnen, aber seine Stimme blieb stumm, und so war es an Annabelle, die Stille zwischen ihnen zu füllen. Sie glaube, dass es Zeit für eine Veränderung sei, sagte sie. Sie sei es langsam leid, die Nachrichten auszuwerten. Vielleicht wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt für eine berufliche Veränderung. Vielleicht könnte sie fertig studieren und Bibliothekarin werden, jetzt, wo er älter und selbstständiger war. Wäre es nicht schön, wenn seine Mom Bibliothekarin wäre? Außerdem hatte sie genug vom Stadtleben, von der Gentrifizierung und den ganzen Leuten, die mit ihrem Geld, ihren schicken Autos und ihrem elitären Gehabe in ihr Viertel zogen. Es war Zeit für einen Neuanfang. Vielleicht könnten sie aufs Land ziehen. Irgendwohin, wo es eine kleine Stadtbücherei und eine nette Nachbarschaft gab, mit Grünflächen, sauberer Luft, Vögeln, Bäumen und Schmetterlingen. Sie könnten in ein Haus mit Garten ziehen und lernen, wie man Erbsen und Stangenbohnen anpflanzte. Sie könnten Kartoffeln hacken und Marmelade kochen und Kuchen backen. Sie könnten sogar Hühner züchten, diese edle Rasse mit den hübschen blaugrünen Eiern. Sie würden Platz haben, um sich richtig auszubreiten. Sie könnte sich ein Atelier einrichten, einen Raum nur für ihre künstlerischen Projekte. Dann würde sie ihre Bastelsachen nicht mehr in der Badewanne aufbewahren müssen. Und er könnte ein größeres Zimmer haben, mit einem freien Blick auf die Berge und den Nachthimmel, statt auf einen Müllcontainer und eine Gasse voller Junkies und Prostituierter. Sie würde ihm Vorhänge nähen. Und einen bunten Flickenteppich machen. Sie würde ihm ein Teleskop kaufen, und dann könnte er die Sterne beobachten. Und vielleicht würde er eines Tages Astronom oder sogar Astronaut werden!

Er saß neben ihr im Gemeinschaftsraum und hörte ihr schweigend zu.

Als die Besuchszeit zu Ende war, verkniff sie sich die ersehnte Umarmung und tätschelte ihm die Schulter, ehe sie die Schwester bat, sie hinauszulassen. Als die schweren Türen ins Schloss fielen, musste sie sich erst einmal im Flur an die Wand lehnen, um sich zu fassen. Manchmal setzte sie sich auch auf eine Bank und vergoss ein paar Tränen. Auch das wusste Benny nicht.

Und so vergingen die Tage. Eigentlich hätte sie Formulare für die Krankenversicherung ausfüllen und Arbeitslosengeld beantragen müssen. Sie hätte den Räumungsbescheid anfechten und E-Mails von der Schule beantworten müssen. Stattdessen saß sie zu Hause auf dem Sofa, in eine Decke gewickelt, und starrte auf die Stelle, an der sich früher die Kommandozentrale befunden hatte. Keine Nachrichten, keine Aufregung mehr, jetzt gab es nur noch Leere und Stille. Die Frau vom Jugendamt würde in einer Woche vorbeikommen. Sie musste dringend mit dem Aufräumen anfangen. Am besten nahm sie sich etwas Überschaubares vor, vielleicht das Bad im ersten Stock. Sie könnte die alten Bastelsachen wegwerfen. Aber der Gedanke, dass sie sich damit auch von ihren ganzen unverwirklichten Plänen verabschieden müsste, war niederschmetternd. Es wäre ein schrecklicher Verlust. In ihre Decke gehüllt, starrte sie in ihr leer geräumtes Wohnzimmer, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

78

Die muntere Klingelmelodie von »By the Seaside« weckte sie. Wer konnte das sein? Das Krankenhaus? Die Schule? Die Sozialarbeiterin? Ihr Chef? Nein, ihr Chef bestimmt nicht, sie hatte ja gar keinen mehr. Das Handy war zwischen die Sofakissen gerutscht. Sie fischte es heraus und warf einen Blick aufs Display. Die Bibliothek? Steckte Benny schon wieder in Schwierigkeiten? Hatten sie noch was entdeckt, was er verbrochen hatte?

Aber es war nur die kleine Bibliothekarin. Annabelle erkannte sie an ihrer angenehmen Vorlesestimme.

»Ich wollte mich nur mal melden«, sagte Cory, »und hören, wie’s Ihnen so geht. Und natürlich, wie’s Benny geht.«

»Gut«, antwortete Annabelle. »Benny geht’s gut. Mir auch.« Sie hatte das Abendessen verschlafen, und ihr Magen knurrte. Was wollte diese Frau? Die Worte, die aus ihrem schlaftrunkenen Mund kamen, hatten nichts mit dem zu tun, was sie wirklich fühlte. Sie kochte innerlich, was sie überraschte. Warum war sie so wütend? Die Bibliothekarin hatte ihr doch nichts getan. Sie wollte doch nur helfen, als sie mitten in der Nacht den Sicherheitsmann anrief und ihn bat, die Bibliothek zu durchsuchen. Und der Sicherheitstyp befolgte nur seine Anweisungen, als er die Polizei rief. Und der Polizist hatte doch gar keine andere Wahl, als Benny mitzunehmen und ins Krankenhaus zu bringen, nachdem er ihn nackt und mit Blut an den Händen und Einstichstellen auf den Armen vorgefunden hatte.

Cory fragte, wie lange er dort bleiben müsse. Annabelle wusste es nicht. Cory fragte, ob sie ihn besuchen könne, und Annabelle erwiderte, das sei noch zu früh. Cory fragte, ob Annabelle irgendetwas bräuchte, vielleicht nur eine Schulter zum Ausweinen? Annabelle legte auf. Neugierige Gans, dachte sie, als sie das Handy ausschaltete.

Als es am späten Nachmittag an der Tür klingelte, ignorierte es Annabelle, aber das Klingeln war so penetrant, dass sie sich schließlich vom Sofa erhob und sich innerlich für eine weitere Konfrontation mit No-Good wappnete. Als sie die Tür öffnete, stand die kleine Bibliothekarin auf der vollgestellten vorderen Veranda, mit einem Buch in der Hand, das sie ihr wie eine Opfergabe hinhielt. Sie habe Annabelles Adresse in der Datenbank der Bibliothek gefunden, erklärte sie. Sie wolle nicht stören, aber sie wollte Benny ein Buch bringen, das er in der Bibliothek gelesen hatte.

Es war Das Aleph: Erzählungen 1944 52 , von Jorge Luis Borges.

»Oh! Also hat er das tatsächlich gelesen!«, sagte Annabelle. Als sie danach greifen wollte, fiel das Buch auf den Boden. Sie bückte sich, um es aufzuheben, und als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie, dass die kleine Bibliothekarin mit offenem Mund ins Wohnzimmer starrte.

»Ach, du meine Güte!«, sagte die Bibliothekarin. »Was ist denn hier passiert?«

Ihre unverblümte Frage war zu viel für Annabelle. Sie sank auf einen Stapel Zeitungen. Ihre Beine zitterten, und ihr Atem kam stoßweise. »Bitte«, sagte sie und presste die Hand auf die Brust. Bitte was? Sie wusste es selbst nicht.

»Haben Sie Asthma?«, fragte Cory. »Haben Sie einen Inhalator?« Sie half Annabelle auf die Beine und führte sie ins Wohnzimmer. Der Inhalator war unters Sofa gerutscht. Annabelle kniete sich hin und holte ihn hervor, ließ sich dann aufs Sofa fallen und inhalierte.

»Es tut mir leid«, sagte sie, als sie wieder Luft bekam. »Ich leide an Allergien.«

Cory nickte. Das Zimmer roch schimmlig. »Kann ich Ihnen etwas bringen? Ein Glas Wasser vielleicht?«

Annabelle schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Es geht mir schon viel besser. Möchten Sie sich nicht setzen?«

Cory sah sich im Zimmer um. Es gab keinen Platz, wo sie sich hinsetzen konnte.

»Ich weiß, hier herrscht ein ziemliches Durcheinander«, sagte Annabelle. »Normalerweise bekommen wir keinen Besuch …«

Cory zögerte. Dann schob sie einen Berg Kleidungsstücke zur Seite und setzte sich auf die Sofakante. Abgesehen von Annabelles leise rasselndem Atem war es ganz still im Raum. Staubpartikel tanzten im Licht der Spätnachmittagssonne. Keine von ihnen sagte ein Wort. Schließlich unterbrach Cory das Schweigen.

»Wohnen Sie schon lange hier?«

Annabelle schien auf diese harmlose Frage nur gewartet zu haben. Sie erzählte Cory, wie Kenji und sie dieses Haus gefunden hatten und wie glücklich sie hier anfangs gewesen waren. Sie erzählte von der netten Mrs. Wong und ihrem nichtsnutzigen Sohn, von Bennys Geburt und Kenjis Tod. Dass sie ihren Job verloren und einen Räumungsbescheid bekommen hatte und dass jemand vom Jugendamt aufgetaucht war. Sie nehmen mir Benny weg, wenn ich nicht aufräume, sagte sie, und dann erzählte sie von Bennys Problemen. Sie redete, und Cory hörte zu. Hin und wieder stellte sie eine Frage. Als Annabelles Redefluss versiegt war, nickte Cory und fasste die Situation kurz und bündig zusammen.

»Also muss als Erstes das Haus ausgeräumt werden, richtig?« Sie deutete auf die Kommodenschublade mit den ordentlich zusammengelegten T-Shirts. »Offenbar haben Sie ja schon einen Anfang gemacht.«

Annabelle schaute auf die Schublade auf dem Boden. Ein paar T-Shirts hingen über den Rand und sahen aus, als wollten sie flüchten. »Das war Benny«, sagte sie. »Bevor er weggelaufen ist.« Ihr entfuhr ein Schluchzen, aber Cory tat so, als bemerke sie es nicht. Sie deutete auf einen großen Berg Kleider auf dem Boden.

»Sollen die weggeworfen werden?«

Annabelle wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Das ist schmutzige Wäsche. Die Sachen zum Wegwerfen sind hier.« Sie zeigte auf einen halb vollen Karton zu Corys Füßen. Ganz oben lag Tidy Magic. Cory erkannte den Einband wieder.

»Ist das nicht von einer dieser japanischen Putzfrauen? Solche Titel sind in der Bibliothek sehr gefragt.« Sie nahm das Buch und blätterte darin. »Warum werfen Sie es weg?«

»Ich weiß nicht. Ich hab mich drüber aufgeregt. Ich werfe sonst nie Bücher weg«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Sie können es gern haben, wenn Sie wollen.«

»Zen oder die Kunst, deine Wohnung und dein Leben aufzuräumen« , las Cory. »Klingt gut, aber wie soll man das anstellen?«

»Oh, sie hat ihre eigene Philosophie und auch eine bestimmte Methode. Man soll jedes einzelne Stück in die Hand nehmen und sich jede Menge Fragen stellen. Bei mir hat’s irgendwie nicht funktioniert.«

»Was für Fragen?«

»Das weiß ich nicht mehr so genau. Ob es einen entzückt und die Energie steigert. Ob es nützlich ist. So was halt.«

Cory hob eine CD vom Boden auf. »Was empfinden Sie dabei?«

»Ich empfinde gar nichts.«

»Moment. Sie müssen sie in der Hand halten, oder? Sie gab Annabelle die CD . »Und jetzt? Spüren Sie was?«

»Nein. Nichts.«

»Keine positive Energie? Keine guten Schwingungen? Keine Freude?«

Annabelle drehte die CD um. 16 . 04 . 2007 Virginia Tech, Seung-Hui Cho, Blacksburg, VA . stand darauf. »Soll das ein Witz sein? Mir kommt’s gleich hoch.« Sie gab sie Cory zurück.

»Okay. Das ist ein Anfang. Ist sie nützlich?«

»Eigentlich nicht. Das ist eine Sicherheitskopie. Stammt noch von dem Job, der mir gekündigt wurde.« Sie zögerte. Sie erinnerte sich an die coole Art, Krähen zu verjagen, indem man alte CD s – wie Weihnachtsdekoration – mit Schnüren an Bäume hängte, und wenn sie sich dann in der Sonne drehten, schimmerten sie in allen Regenbogenfarben. Annabelle hatte ihre Krähen nie verscheuchen wollen, aber vielleicht hätte sie das besser getan. Wenn sie sie verscheucht hätte, wären sie jetzt nicht tot. Zum Glück mussten nicht alle sterben, und vielleicht würden die, die überlebt hatten, eines Tages zurückkommen, und dann könnte sie sie mit CD s an Schnüren vertreiben, damit sie sicher wären. Sie streckte die Hand aus. »Eigentlich könnte ich sie doch noch gebrauchen …«

»Weg damit«, sagte Cory. Sie wollte die CD in den Karton werfen, als Annabelle rief:

»Halt! Man muss sich erst noch bei ihr bedanken.«

»Ich soll mich bei ihr bedanken?«

»Nein, nicht Sie. Sie gehört mir, also muss ich mich erst für ihre Unterstützung bedanken, bevor ich sie wegwerfe.«

Cory betrachtete die Disk in ihrer Hand. »Fühlen Sie sich von dieser CD unterstützt?«

»Nein.«

»Empfinden Sie Dankbarkeit?«

»Nein.«

»Okay.« Sie warf die CD wie einen Frisbee in den Pappkarton und sah sich dann im Zimmer um. »Stammt das Zeug alles von Ihrem Job?«

»Das ist mein Archiv. Aber ja, schon.«

»Also kann es weg?«

Wieder zögerte Annabelle. »Ich sollte wahrscheinlich meinen Chef anrufen und seine Erlaubnis einholen. Sie sind in dieser Firma ganz schön streng, was das angeht.«

Cory deponierte einen Stapel alter Tonbänder in dem Karton. »Die haben Sie gefeuert, Annabelle. Sie schulden ihnen überhaupt nichts. Sie haben mitgenommen, was sie brauchten, und Sie mit dem ganzen Scheiß alleingelassen.«

»Ich kann das doch nicht alles einfach wegwerfen.«

»Warum nicht?«

»Weil es alles ist, was ich habe. Meine Arbeit, mein Leben …«

»Ihr Leben?«

Sie dachte an all die Jahre, die sie mit Lesen, Zuhören, Zusehen verbracht hatte, die ganzen Geschichten, die sich angesammelt hatten, und alles, was sie gelernt und sorgfältig gespeichert hatte.

»Ja«, sagte sie, »mein Leben.«

»Wirklich? Das ist alles? Sonst gibt es nichts?«

»Doch, natürlich«, sagte sie. »Es gibt noch Benny.« Sie brach ab. »Oh, ich verstehe, was Sie meinen.«

Cory setzte sich auf die Sofalehne. »Hören Sie zu«, sagte sie, »Sie können das nicht alles alleine machen. Es ist zu viel. Kennen Sie denn niemand, den Sie um Hilfe bitten können?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Keine Facebook-Freunde?«

»Sie meinen soziale Netzwerke? Ach, ich bitte Sie!«

»Was ist mit Bennys Freunden? Ein paar stramme Jungs, die sich ein paar Dollars verdienen wollen und was schleppen können?«

Annabelle schüttelte den Kopf. »Er hat keine Freunde. Keine richtigen zumindest. Seine ganzen Freunde sind erfunden.«

»Wie kreativ.«

»Seine Psychiaterin findet das überhaupt nicht. Sie sagt, er wäre fehlangepasst.«

»Das ist wirklich schlimm«, sagte Cory.

Kurz darauf verabschiedete sich Cory und nahm Tidy Magic mit. Annabelle fühlte sich sofort etwas erleichtert. Ihr fiel ein, dass sie schon länger nichts gegessen hatte, schälte sich aus ihrer Decke und ging in die Küche. Auf dem Weg dorthin fiel ihr Blick auf die aussortierte CD . Sie erinnerte sich noch an das Virginia-Tech-Massaker, als wäre es gestern gewesen. Ihr erster Amoklauf. Der Schütze, ein koreanischer Junge namens Cho, war Student an dieser Universität. Er hatte zwei halbautomatische Pistolen gekauft und damit auf neunundvierzig Menschen geschossen, von denen zweiunddreißig starben. Benny war damals fünf. Er war gerade in den Kindergarten gekommen. Das war zwar noch vor dem schrecklichen Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School, aber Annabelle ließ ihn trotzdem nur ungern aus den Augen. Der Name Cho hörte sich wie Oh an, und sie befürchtete, dass die anderen Kinder ihm das Leben schwermachen würden. Als sie ihre Befürchtungen Kenji gegenüber äußerte, nahm er sie in den Arm und lachte über ihre Ängste. Und tatsächlich war ja auch nichts passiert. Als Kenji noch lebte, war alles so viel einfacher. All diese Erinnerungen waren in dieser kleinen, glänzenden CD enthalten, und sie war froh, sie loszulassen, aber es konnte nicht schaden, auch ein bisschen Dankbarkeit zu zeigen. Es war ja nicht die Schuld der CD . Sie hielt sie vor sich.

»Vielen Dank«, sagte sie und spürte, wie sich ihre Laune ein kleines bisschen hob. Vielleicht war ja doch was dran an der Tidy-Magic -Methode. Vielleicht hätte sie Cory doch nicht das kleine Buch geben sollen. Das war das Problem, wenn man sich von Dingen trennen wollte. Man wusste nie, ob man sie noch mal gebrauchen konnte.

79

»Vielen Dank«, sagte Aikon und trat in St. Louis vom Podium zurück. Als der Applaus anschwoll, sah sie auf das Meer aus leuchtenden, eifrigen Gesichtern. Das gesamte Publikum stand vor ihr, eine aufrichtige Dankbarkeitsbezeugung, die später hoffentlich zu mehr ordentlich gefalteten Strümpfen und aufgeräumten Schubladen führen würde. Aikon, die plötzlich eine bleierne Müdigkeit überkam, verbeugte sich noch einmal und legte die Hände vor ihrem Herzen in stillem Gebet zusammen. Mögen alle Wesen glücklich sein.

Später im Hotel informierte Kimi sie über die weiteren Termine. »Als Nächstes geht’s nach Wichita, das liegt in Kansas. Das Kamerateam wird uns dort treffen. Kansas ist der Schauplatz von Der Zauberer von Oz ; deshalb schlagen die Produzenten etwas Entsprechendes für die Pilotsendung vor. Wir filmen den Hausbesuch und haben dann noch Lesungen in zwei Buchhandlungen. Anschließend geht’s weiter an die Westküste.«

Aikon saß auf dem breiten Doppelbett, das so groß schien wie die weite Prärie-Landschaft, über die sie geflogen waren. Kimi saß am anderen Ende und wirkte sehr klein und müde. Aikon war ebenfalls müde. Sie unterdrückte ein Gähnen und nickte. »Und das ist dann unsere letzte Station?«

»Ja. Danach fliegen wir nach Hause.«

»Gut«, sagte Aikon und schlug wie Dorothy die Hacken zusammen. »Zu Hause ist es doch am schönsten.«

»Aber das ist natürlich nur die ›Vorher-Folge‹. In sechs Wochen drehen wir dann den zweiten Teil.«

»Natürlich.« Aikon schloss die Augen und atmete tief ein. Sie stellte sich ihren Geist als eine geschlossene Faust vor und löste dann einen Finger nach dem anderen. Sie genoss die Stille und Leere ihres Geists. Aber dann kam ihr ein Gedanke. Warum hatte sie eigentlich zugestimmt, diese Pilotsendung zu machen? Weitere Gedanken folgten. Wem nützte sie? Inwieweit war sie hilfreich? Was war der Sinn des Ganzen? Sie seufzte und öffnete die Augen. Kimi beobachtete sie.

»Klingt alles gut«, sagte sie. »Sind die Verleger zufrieden?«

»Ja«, sagte Kimi. »Ich denke schon.«

»Gut.« Aikon musterte Kimis Gesicht. »Du siehst erschöpft aus.« Sie dachte an die Frauen im Publikum. Es waren alle schwer arbeitende Frauen, und trotz ihrer lächelnden Gesichter war ihnen eine gewisse Erschöpfung anzumerken.

Kimi setzte sich aufrecht hin. »Nein, nein, mir geht’s gut.«

»Du arbeitest doppelt so viel ich«, sagte Aikon, was nicht unbedingt stimmte. Die Schlange der Frauen, die sich ihr Exemplar signieren lassen wollten, war endlos gewesen. Das Buch an sich gedrückt, hatten sie geduldig gewartet, um ihr zu erzählen, wie die Tidy-Magic -Methode ihr Leben verändert hatte.

»Nein, nein«, protestierte Kimi. »Sie machen so viel mehr als ich. Sie helfen so vielen Menschen.«

Woran lag es, dass Frauen es nie schafften, ihre innere Nörgelstimme zum Schweigen zu bringen? Dass sie immer das Gefühl hatten, hinterherzuhinken, dass sie besser sein sollten und könnten? Kein Wunder, dass sie sich klare Regeln wünschten, hilfreiche Tipps, wie man T-Shirts zusammenlegte, Kinder erzog, die berufliche Laufbahn organisierte, das eigene Leben lebte. Sie mussten daran glauben können, dass es einen richtigen und einen falschen Weg gab. Denn wenn es einen richtigen Weg gab, konnten sie ihn vielleicht finden, und wenn sie ihn fanden und die Regeln beherrschten, dann würden sich alle Einzelteile ihres Lebens auf wundersame Weise zu einem Ganzen fügen und sie wären glücklich.

Welch eine Illusion!

Trug Tidy Magic noch zu dieser Illusion bei? Schuf es nur noch einen weiteren Standard unsinniger Perfektion? Am liebsten hätte sie ihnen zugerufen: Euer Leben ist kein Selbstoptimierungsprojekt! Ihr seid perfekt, so, wie ihr seid!

Sie lächelte ihre Assistentin an. »Im Grunde lächle ich doch nur und sage irgendwas, was mir gerade in den Sinn kommt, aber du musst mein Geplapper in was Sinnvolles übersetzen. Das muss ganz schön anstrengend sein.«

»Nein, nein! Ich lerne so viel von Ihnen. Es gibt so viel, was ich nicht weiß …«

Du bist perfekt, so, wie du bist. Ihr alter Lehrer hatte ihr das einmal gesagt. Er hatte es eher beiläufig erwähnt, als wäre es nichts Besonderes, aber sie wusste, dass er es ernst gemeint hatte, und es hatte sie überrascht. Ihr Lehrer, der sie in- und auswendig kannte, hatte sie als perfekt empfunden! Wie wunderbar! All das schoss ihr durch den Kopf. Aber er hatte noch mehr gesagt.

Und trotzdem könntest du dich noch verbessern …

Natürlich. Das stimmte ebenfalls. Beides stimmte, und selbst als ihr Hochgefühl wie ein Luftballon zerplatzte, musste sie lächeln. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – das war sie. Schon komisch. Und gleichzeitig war es auch traurig, wie seine zweite Aussage die erste völlig zunichtemachte und nur das Gefühl der Unzulänglichkeit zurückblieb. So fühlten sich die Frauen im Publikum, und es war nicht ihre Schuld. Man hatte ihnen eingetrichtert, dass sie unzulänglich wären, und sie waren so sehr darauf konzentriert, sich selbst zu verbessern, dass sie völlig blind für die eigene Perfektion waren. Am liebsten hätte sie ihnen gesagt: Entspannt euch! Vergesst die ganze Selbstoptimierung! Hört auf, euch ständig was Neues zu kaufen! Lasst uns einfach zusammen dasitzen und eine Weile lang nichts tun. Aber das wäre weder dem Filmprojekt noch ihrem Buch zuträglich.

»Hast du was von unserer Freundin Mrs. Oh gehört?«

»Nein, ich hab ihr geschrieben, aber sie hat nicht geantwortet.«

»Ruh dich ein bisschen aus, Kimi.«

Kimi stand auf und ging zur Tür, zögerte dann aber. »Da ist noch etwas …«

»Ja?«

»Ist eigentlich nicht so wichtig. Aber ich dachte, Sie sollten es wissen. Auf Twitter gab es kürzlich, hm, Kritik. Es ging darum, was Sie über Bücher gesagt haben.«

»Was habe ich denn über Bücher gesagt?«

»Dass Sie nur die behalten, die Sie glücklich machen.«

»Das stimmt«, sagte sie. »Was ist daran falsch?«

»Nichts. Aber Ihre Kritiker sagen, dass Bücher nicht dazu verpflichtet sind, Menschen glücklich zu machen. Dass manche Bücher einen bekümmern oder verwirren und dass das völlig in Ordnung ist.«

»Natürlich ist es das! Das sehe ich auch so.« Sie dachte an ihre alten Ausgaben von Kafka, Mishima, Nabokov, Abe und Woolf, die neben Master Dogen und Mumon auf dem Regal standen.

»Sie sagen, Sie wären ein Bücher-Nazi. Sie behaupten, Sie würden die Leute zum Bücherverbrennen anstiften.«

»Verstehe«, sagte Aikon. Sie schloss wieder die Augen. »Und das geschieht alles auf Twitter?«

»Ja«, sagte Kimi. »Die Fernsehproduzenten sind besorgt und die Buchhändler ebenfalls. Es kursiert schon ein Meme im Netz. Dass japanische Putzfrauen was gegen Bücher haben.«

80

Wenn ich alles, was ich als »meins« ansehe – meine Besitztümer, meine Familie, mein Leben –, innerhalb von Sekunden verlieren kann, dann muss ich mich doch fragen: Was ist real ?

Cory sah von dem Buch auf und biss in ihr Tempeh- und Avocado-Sandwich. Es war ihre Mittagspause, die sie im Atrium der Bibliothek verbrachte. Früher war es unter den Büroangestellten der umliegenden Firmen ein beliebter Lunch-Treffpunkt gewesen, aber das änderte sich schlagartig, als vor ein paar Jahren Obdachlose das Atrium in Beschlag nahmen. Sie kamen am frühen Morgen, wenn die Obdachlosenheime schlossen, stellten ihre Einkaufswagen an die Café-Tische und verwandelten den Ort in eine Temporäre Autonome Zone, wo sie sitzen und sich ausruhen konnten. Cory erklärte sich mit ihnen solidarisch und aß hier trotz des Gestanks und des Mülls. Als Bibliothekarin für Kinderbücher hatte sie im Gegensatz zu ihren Kolleginnen von der Zeitschriftenabteilung und der Erwachsenenliteratur nicht viel mit ihnen zu tun. Trotzdem kannte sie ein paar von ihnen vom Sehen und manche auch mit Namen.

Am hintersten Tisch erkannte sie Jenny, eine ehemalige Lehrerin, mit einem kleinen Hund namens Tinkerbelle. Der Mann neben ihr war Gordon, ein Veteran aus dem Irakkrieg, mit einem nikotinverfärbten Bart und zitternden Händen. Die Frau ihnen gegenüber hieß Maisie; sie hatte ein breites, offenes Lächeln und eine Sammlung an schmuddeligen Stofftieren, an denen sie gern lutschte. Ganz am Rand saß der liebenswerte, schüchterne Dexter und sah mit gesenktem Kopf die Welt von der Seite an, als fürchtete er, jederzeit einen Fußtritt oder einen Schlag abzubekommen. Slavoj, der alte marxistische Dichter, saß in seinem Rollstuhl an dem Tisch direkt vor ihr. Er gehörte fast schon zum Inventar der Bibliothek. Er war zwar eine Nervensäge, hatte aber ein enormes Wissen. Gerade redete er mit einem jungen Mädchen, das sich das Aleph nannte, obwohl auf ihrem Bibliotheksausweis Alice stand. Ihr Name war kürzlich bei einer Mitarbeiterbesprechung gefallen, nachdem die Sozialarbeiterin das Aleph dabei erwischt hatte, wie sie sich in der Damentoilette einen Schuss setzte. Sie war Künstlerin, Vagabundin und Mülltaucherin, die auf der Straße lebte, wenn sie nicht gerade eine Entziehungskur machte. Die Adresse, die sie für den Bibliotheksausweis angegeben hatte, gehörte zu einem Obdachlosenheim in der Nähe. Ihr Künstlername machte irgendwie Sinn. Sie war unter den Bibliothekaren für eine nicht genehmigte Installation berüchtigt, eine Intervention, die aus labyrinthischen Pfaden bestand, die durch die Sammlungen der Bibliothek führten. Sie nannte es »Pfade, die sich verzweigten«, was laut Jevaun sehr an Borges erinnerte. Während es einige der Bibliothekare überhaupt nicht lustig fanden, wenn sie in den Büchern merkwürdige Dinge entdeckten, war es für Cory immer ein kleiner Nervenkitzel, wenn sie auf die seltsamen Hinterlassenschaften des Mädchens stieß. Sie waren wie Hinweise bei einer Schnitzeljagd: mysteriöse Notizen, Postkarten, Kaugummipapier, verblasste Polaroidaufnahmen, gepresste Blumen, Kinokarten, Stellenanzeigen und mehr. Auf den ersten Blick schienen sie willkürlich zu sein, und doch konnte man ein subtiles, unterschwelliges Muster erkennen, eine erzählerische Entschlossenheit oder Zielstrebigkeit, die die Auswahl bestimmter Bücher beeinflusst hatte. Cory war nie einem der Pfade von Anfang bis Ende gefolgt, aber die Idee faszinierte sie. Die Pfade versprachen, einen auf eine Reise mitzunehmen, deren Sinn sich irgendwann erschließen würde. Einmal hatte sie in einer alten Ausgabe von Grimms Märchen einen Zettel mit einer Handschrift gefunden, die wie Schreibmaschinenschrift aussah. Sie hatte das Buch zurückgestellt, aber als sie später nachsah, hatte jemand den Zettel entfernt. Sie spürte einen Anflug von Neid, fragte sich, wer den Hinweis wohl gefunden hatte und ob dieser jemand eine Reise unternahm, die ihre hätte sein können.

Sie biss wieder in ihr Sandwich und sah sich noch mal den Untertitel des Buchs an: Zen oder die Kunst, deine Wohnung und dein Leben aufzuräumen. Nicht alle Bücher waren gleich, ebenso wenig wie Menschen, dachte sie, und es gab vor allem unter den Ratgebern viele, die man aussortieren sollte, aber dieser schien anders zu sein. Das kleine Buch war ein Weckruf, prangerte die Rücksichtslosigkeit des kohlenstoffbasierten Konsumkapitalismus an, weil er den Planeten ruinierte. Das Problem war systembedingt, schien es zu sagen. Die Unordentlichkeit einer Person rührte nicht von Faulheit, Unentschlossenheit, psychologischen Störungen oder Charakterschwächen her. Es handelte sich um ein sozioökonomisches oder sogar philosophisches Problem, ein Problem der Marx’schen Entfremdung und des Warenfetischismus, das nichts Geringeres als eine spirituelle Revolution und eine radikale Neubewertung dessen, was wirklich und wichtig ist, erforderte. Sie drehte das Buch um und betrachtete das Bild der kahlköpfigen Nonne. Die Frau sah sie direkt und irgendwie erwartungsvoll an, und in diesem Moment kam ihr Annabelles erbärmliches Wohnzimmer in den Sinn.

»Was ist?«, fragte Cory die Nonne. »Was soll ich deiner Meinung nach dagegen tun?«

Überrascht stellte sie fest, dass sie tatsächlich eine Antwort erwartete.

Warenfetischismus? Kohlenstoffbasierter Konsumkapitalismus? Marx’sche Entfremdung? War das dasselbe Buch, das Annabelle über eine junge Nonne und ihren Kristallhaarreif las?

Ja und nein. Bücher sind wandelbar. Die Vorstellung von »einem Buch« ist nur eine bequeme Fiktion, die wir Bücher hinnehmen, weil sie den Interessen der Pfennigfuchser im Verlagswesen dient, ganz zu schweigen vom Ego der Autoren. Aber die Realität ist komplizierter. Natürlich gibt es einzigartige Bücher – vielleicht haltet ihr gerade eins in der Hand –, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Auf die Gefahr hin, überheblich zu klingen, würden wir behaupten, dass wir sowohl ein Buch als auch viele sind, eine sich ständig wandelnde Vielfalt, ein körperloser Fluss. Wir verändern unsere Gestalt und begegnen eurem menschlichen Auge als schwarze Flecken auf einer Seite oder eurem Ohr als Klangwellen. Von dort aus reisen wir durch euren Verstand, und so verschmelzen wir miteinander und vervielfältigen uns.

Und was ist dann mit dem Autor? Nun, wie jedes Buch bestätigen kann, wird die Bedeutung von Schriftstellern total überschätzt, was nicht heißt, dass sie nicht notwendig sind. Ganz im Gegenteil, Bücher brauchen Autoren. Natürlich brauchen wir sie! Wir haben keine Finger, wir können nicht tippen. Eure großen menschlichen Gehirne sind unsere Vektoren, eure Körper sind unsere Vehikel und eure Ambitionen sind der Treibstoff, dem wir unsere Existenz verdanken. Schriftsteller sind unsere Schnittstelle und unsere Interpreten.

Also ja, Autoren sind absolut notwendig, auch wenn sie wie Aikon nur in der Gegend herumreisen oder vor ihren Laptops dösen wie die Tipp-Lady, umgeben von Nachschlagewerken, von denen sie behaupten würde, dass sie sie ausgewählt hat. Aber natürlich ist das, wie wir gesehen haben, eine Frage der Perspektive. Würdest du die Bücher selbst fragen, würden sie sagen, dass die dösende Lady von ihnen ausgewählt wurde. Und während sie schläft, sind sie fleißig am Arbeiten, besiedeln ihre neuronalen Netze, diese dunkle Unterwelt, die in ihrem Unterbewusstsein versteckt ist, das sie ihre Fantasie nennt. Dort verschmelzen sie ihre DNA mit den Erinnerungen und Erfahrungen der dösenden Lady und rufen ein weiteres von uns Büchern ins Leben. Bald wird sie aufwachen, sich schütteln, sich dafür schelten, dass sie wieder eingenickt ist, und sich erneut an die Arbeit machen, an die mühsame Aufgabe, ein neues Buch Wort für Wort aufs Papier zu bringen. Die Bücher, die sie gelesen hat, sind die Co-Eltern des Buchs, das sie schreibt, und bei seiner Geburt wird sie die Hebamme sein.

Und wenn sie fertig ist und das Buch sich in die Welt hinauswagt, kommen die Leser an die Reihe, und dann findet eine andere Art der Vermischung statt. Denn der Leser ist kein leeres Gefäß, das den Inhalt eines Buchs passiv in sich aufnimmt. Ganz und gar nicht. Ihr seid unsere Mitarbeiter, unsere Mitverschwörer, die uns neues Leben einhauchen. Und da jeder Leser einzigartig ist, verleiht jeder von euch jedem von uns eine andere Bedeutung, unabhängig davon, was auf unseren Seiten steht. So nimmt ein Buch, wenn es von verschiedenen Lesern gelesen wird, immer wieder eine neue Gestalt an; es entsteht eine Vielfalt von Büchern, die wie eine Welle durch das menschliche Bewusstsein fließt. Pro captu lectoris habent sua fata libelli. Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben Bücher ihre Schicksale.

Und ja, Corys Tidy Magic war anders als Annabelles Tidy Magic und auch anders als das Buch, das Aikon zu schreiben glaubte und das ihre Kritiker auf Twitter verrissen – und doch waren alle diese Bücher auf ihre Weise vollständig und perfekt.

Wir verändern unsere Form, teilen und vermehren uns und bewegen uns so durch Raum und Zeit.

Ein Geräusch vom Nachbartisch ließ sie aufblicken. Das Aleph und Slavoj unterhielten sich angeregt. Cory konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ihr fiel auf, dass das Mädchen nicht gut aussah. Sie hatte blaue Flecken auf den Armen und Schürfwunden an den Knien. Möglicherweise war sie verprügelt worden. Der alte Dichter griff über den Tisch hinweg nach ihrer zitternden Hand, hielt sie einen Moment lang, drehte sie dann um und studierte ihre Handfläche, als könne er darin ihre Zukunft lesen. Kurz darauf ließ er sie wieder los und begann, in den Einkaufstüten herumzuwühlen, die an seinem Stuhl hingen. Er holte ein halb volles Glas mit Essiggurken heraus, öffnete es und bot ihr davon an. Gemeinsam aßen sie von den Gurken.

Cory sah ihnen zu. Sie hatte das schon früher erlebt. Er teilte immer alles, was er besaß. Das machten sie alle. Und dann kam ihr ein Gedanke, der klitzekleine Funke einer Idee, aber diese Idee würde Annabelles Welt komplett auf den Kopf stellen und ihr Leben von Grund auf verändern.

Na ja, vielleicht. Das wäre schön.

Tidy Magic

Kapitel 4

Wir sind alle miteinander verbunden

Unser schöner blauer Planet ist so lebendig und komplex. Astronauten wissen das, weil sie weit genug entfernt waren, um die Erde als Ganzes, als einen einzigen lebenden Organismus zu sehen, der durch das dunkle All schwebt. Aber wir haben diese Perspektive nicht. In die Nichtigkeiten des Alltags vertieft, glauben wir, dass unsere Leben unabhängig voneinander sind und dass auch wir selbst losgelöst von allem anderen sind. Aber da täuschen wir uns. In Wahrheit ist alles von allem abhängig. Eine Blume braucht die Sonne und die Erde und den Regen und die Biene, die sie bestäubt. Sie kann ohne diese Dinge nicht überleben und würde sterben. Bei uns Menschen verhält es sich genauso. Wir brauchen die Sonne und die Erde und den Regen und die Pflanzen, die wir essen. Wir brauchen unsere Mutter und unseren Vater und all unsere Vorfahren, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Wir führen die Linie fort, und ohne sie wären wir nicht am Leben. Wir alle – Blumen und Bienen, du und ich – sind winzige Teile des lebendigen Organismus unseres Planeten.

Im Zen-Buddhismus nennen wir das Verbundenheit oder Intersein oder auch Entstehen in Abhängigkeit. Manchmal bezeichnen wir es auch als »Leere«, was mit dem chinesischen Zeichen für »Himmel« geschrieben wird. Edgar Mitchell, einer der Astronauten, der auf dem Mond herumspazierte, empfand ein tiefes Gefühl der Leere, als er durch den Weltraum schwebte. Er schaute auf die Erde zurück und verstand plötzlich, dass die Moleküle in seinem Körper, im Körper seiner Kollegen und selbst das Raumschiff aus einer uralten Generation von Sternen herrührten. Und in diesem Moment fühlte er sich eins mit dem Universum. Er sagte: »Es gab kein Wir und kein Sie mehr, sondern all das war eins.« Im Zen nennen wir das Erleuchtung.

Aus dem All betrachtet ist ein Erdbeben ein Klacks. Ein kleineres kann man nicht mal erkennen. Ein größeres hinterlässt möglicherweise eine Kerbe, die so klein ist wie ein Haarriss in der Glasur einer Teetasse. Auf der Erde erleben wir diese Dinge natürlich anders. Nach dem schweren Erdbeben in Japan beteiligte ich mich an den Hilfsaktionen und reiste zusammen mit anderen Mönchen in die nördlichen Provinzen, um die Menschen, deren Leben zerstört war, mit Lebensmitteln und einer Unterkunft zu versorgen und um ihnen seelischen Beistand zu leisten. Die Szenen der Verwüstung werde ich nie vergessen. Ganze Städte waren fortgeschwemmt, ganze Viertel ausgelöscht worden. Malerische Fischerdörfer waren unter schwarzem Schlamm begraben. Die Häuser und Wohnungen der Menschen waren dem Erdboden gleichgemacht, und ihr Leben lag in Trümmern. Und dennoch halfen sie sich gegenseitig.

Überall, wo ich hinkam, sah ich Menschen, die ihre eigene Familie verloren hatten, aber trotzdem ihre Stiefel anzogen und anderen dabei halfen, die Leichen ihrer Kinder zu suchen. Sie säuberten die Straßen und halfen sich gegenseitig bei der Suche nach Familienschätzen im Schlamm. Wenn jemand etwas Besonderes entdeckt hatte, ein Hochzeitsfoto oder ein Portemonnaie oder ein Schulheft, rief er die anderen herbei, und dann versammelten sich alle um den Gegenstand, entfernten vorsichtig den Schlamm und reichten ihn herum, um ihn zu identifizieren und wertzuschätzen. Aber nicht alles lässt sich so einfach entfernen. Die radioaktive Verseuchung durch die Kernschmelze wird noch jahrhundertelang bestehen, aber selbst in unmittelbarer Nähe des Atomkraftwerks Fukushima halfen die Menschen einander. Das ist Verbundenheit.

Im Zen gibt es folgende Geschichte: Wenn in deiner linken Hand ein schmerzhafter Splitter steckt, was macht dann deine rechte Hand? Sagt deine rechte Hand: »Ach, das ist aber schlimm, aber es nicht mein Problem«? Nein, natürlich nicht. Die rechte Hand zieht den Splitter heraus. Das ist Verbundenheit.

Als ich eins der Erdbebenopfer fragte, warum er jeden Tag hier sei, sah er mich an und schüttelte bekümmert den Kopf. »Was passiert ist, ist passiert«, sagte er. »Wir müssen uns gegenseitig helfen. Allein ist das nicht zu schaffen.«

81

»Ich hab’s versucht«, sagte Annabelle und wies vage auf die Müllsäcke. »Nachdem Sie gesagt haben, dass Sie kommen. Ich weiß, es sieht nicht danach aus, aber …« Mutlos brach sie ab.

»Wunderbar«, rief Cory. Sie hatte vor ein paar Tagen angerufen, um Bescheid zu sagen, dass sie ein paar Helfer gefunden hätte, aber jetzt sah es hier schlimmer aus als vorher. Im ganzen Zimmer gab es kein freies Fleckchen, und selbst das Sofa verschwand unter Bergen von Zeitschriften, Büchern, Kartons und Kleidungsstücken. Woher kam nur dieses ganze Zeug? Es schien, als hätte die angekündigte Säuberungsaktion Annabelles Besitztümern solche Angst eingejagt, dass sie sich jetzt entschlossen vermehrten, um ihrer Vernichtung zu entgehen.

»Gehen wir einen Moment an die frische Luft«, sagte Cory. Sie legte die Hände auf Annabelles Schultern und dirigierte sie durch die Haustür. Sie setzten sich auf die Stufen, mit Blick auf No-Goods Container. »So«, sagte sie. »Dieser alte Container erinnert mich an eine Geschichte. Sie handelt von meiner Grandma Dee …«

Cory verstand sich darauf, eine Geschichte wirkungsvoll zu erzählen. Sie sprach mit derselben ruhigen Stimme, mit der sie auch den Kindern vorlas. Eine Stimme, die vollste Aufmerksamkeit erforderte. Und Annabelle lauschte gebannt, ab und zu nickte sie, oder ein erschrockener Ausdruck huschte über ihr Gesicht wie der dunkle Schatten einer rasch vorüberziehenden Wolke. Hin und wieder wollte sie etwas sagen, aber Cory hob jedes Mal die Hand. »Psst.« Als Bibliothekarin wusste sie, wie man sich Ruhe verschaffte.

Ihre Grandma Dee war eine Hamsterin gewesen, hatte sich selbst, nicht ohne einen gewissen Stolz, als leidenschaftliche Sammlerin bezeichnet. Sie war während der Wirtschaftskrise groß geworden, und ihre Schränke waren voll von wertlosem Plunder – zumindest behauptete das Corys Mutter. Aber für Cory waren die Sachen ihrer Großmutter Schätze, und immer, wenn sie ihre Großmutter besuchte, kam sie mit Bergen voller Geschenke nach Hause, die ihre Mutter prompt entsorgte. Grandma Dee starb, als Cory zwölf war, und Corys Mutter empfand eine diebische Freude dabei, zwei riesige Müllcontainer mit ihren Schätzen zu füllen. Cory half ihr, aber bevor die Abfuhrfirma sie abholte, kletterte sie hinein und rettete an paar Sachen: einen alten, selbst gestrickten Pullover, einen Ball aus Gummibändern, einen JFK -Gedenkteller, der gewissenhaft mit Klebeband und Kleister repariert worden war. Ihr Lieblingsstück war eine kleine, leere Schachtel, die ihre Großmutter sorgfältig mit: »Kleine, leere Schachtel« beschriftet hatte. Cory stellte sie auf ihr Bücherregal. Sie konnte nichts hineintun, ohne dass sie die Schachtel zweckentfremdet hätte, und darüber musste sie lachen, auch wenn diese Absurdität sie daran erinnerte, wie sehr ihr ihre Großmutter fehlte. Grandma Dee hatte einfach ein großes Herz gehabt. Jede zerbrochene Vase und jeder Bindfaden hatte eine eigene Geschichte, jedes Stückchen Alufolie und jede gebrauchte Frühstückstüte konnte wieder benutzt werden, und deshalb war ihr jeder einzelne Gegenstand lieb und teuer.

Annabelle erinnere sie an ihre Grandma Dee, sagte Cory. Auch Annabelle besitze die Fähigkeit, Dinge zu lieben und eine Verwendung für sie zu finden. Und obwohl das gut und bewundernswert sei, bestand doch jetzt das Problem darin, dass sie zu viele Dinge hatte, um die sie sich kümmern musste. Aber, sagte sie, dafür gebe es eine Lösung.

»Letztendlich ist es eine Frage der Verteilung. Sie haben zu viel, und andere haben zu wenig. Also müssen wir nur überlegen, wie wir Ihre Dinge umverteilen und ein Heim für sie finden können, wo sie geliebt und genutzt werden. Wenn wir das schaffen, ist das auch eine Befreiung für Sie. Dann profitieren beide Seiten davon.«

Annabelle nickte geistesabwesend. Sie war abgelenkt von einem Fleck aus getrocknetem Haferbrei auf ihrer Jogginghose, den sie mit dem Fingernagel abzukratzen versuchte.

Cory sah ihr zu und wartete schweigend ab. Sie wusste, wie man mit Ablenkungen umging. Nach einer Weile wandte sie sich an Annabelle. Ihre Stimme war tief und eindringlich, dieselbe Stimme, die sie benutzte, wenn sich Hänsel und Gretel im Wald verirrt hatten und die böse Hexe in ihrem Knusperhäuschen auf der Lauer lag oder wenn der große, böse Wolf in den Büschen direkt hinter der Wegbiegung lauerte.

»Die werden Sie hier rauswerfen, Annabelle. Sie haben schon ihren Job verloren, und jetzt werden Sie auch noch das Haus verlieren. Als Nächstes ist Ihr Kind dran. Die vom Jugendamt kommen bestimmt wieder, und wenn Sie bis dahin nicht aufgeräumt haben, nehmen sie Ihnen Benny weg. Dann wird er ein Mündel des Staats. Sie stecken ihn in eine Pflegefamilie. Sie werden ihn verlieren. Sie werden alles verlieren.«

Der Haferbrei war in die Fasern des Frotteestoffs eingedrungen. Wie war er dahin gekommen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal Haferbrei gegessen hatte. Ihre Sicht verschwamm – weinte sie etwa? –, und dann spürte sie eine leichte Berührung auf dem Rücken.

»Jetzt ist nicht die Zeit für Tränen«, sagte Cory. »Sie müssen jetzt proaktiv sein.«

Die Haferflocken hatten sich gelöst; jetzt war nur noch ein kleiner, blasser Fleck zu sehen.

»Annabelle?«

Annabelle seufzte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Okay«, sagte sie. »Dann fangen wir halt an.«

»Prima.« Cory stand auf und zog ihre Jacke aus. Darunter trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift:

Bibliothekarin …

weil knallharte Drecksau

keine offizielle Jobbezeichnung ist

Und wie auf Kommando fuhr ein ramponierter weißer Transporter vor, auf dem stand:

AAA Ge-Rümpel-Geh!

Schrott ade!

Die Beifahrertür schwang auf, und ein Mann sprang heraus; Annabelle kannte ihn. Es war der Sicherheitstyp mit den Rastalocken aus der Bibliothek, der Benny gefunden hatte. Er winkte und ging dann zur Rückseite des Wagens. Der Fahrer, ein blasser, untersetzter Mann in einer Hausmeisteruniform, öffnete die Hecktüren. Eine Rampe glitt heraus, und ein magerer Mann mit einem Bart kam zögernd zum Vorschein, gefolgt von einer kleinen, runden, glubschäugigen Lady und einer größeren Frau mit einem räudig aussehenden Hund. Sie standen auf dem Gehweg, während jemand von drinnen Eimer, Besen und Reinigungsmittel herausreichte. Der Hausmeister sagte etwas in einer Sprache, die Annabelle nicht verstand, kletterte dann auf die Rampe und tauchte kurz darauf wieder mit einem Rollstuhl auf, den er vorsichtig die Schräge hinunterschob. Darin saß ein alter Mann. Auf dem Bürgersteig angekommen, schwenkte er in Richtung Haus.

»Das ist der Penner«, flüsterte Annabelle Cory ins Ohr. »Der aus dem Bus, der Benny verfolgt hat.«

»Das ist Slavoj. Die Leute nennen ihn Flaschenmann.«

»Der Flaschenmann!«

»Ja, er recycelt Flaschen. Er ist einer unserer Stammkunden. Jeder kennt Slavoj.«

Der alte Mann rollte die Einfahrt hinauf, und die anderen folgten ihm. Als sie bei Annabelle angekommen waren, breitete er die Arme aus, als wollte er sie, die Veranda und das gesamte Haus umarmen.

»Da sind wir!«, verkündete er triumphierend.

»Sind Sie wirklich der Flaschenmann?«, fragte Annabelle.

»Zu Ihren Diensten«, erwiderte er.

»Also sind Sie doch real.«

»Nun, philosophisch gesehen ist das eine Frage der Auslegung«, sagte der Flaschenmann bescheiden. »Aber ja, für Ihre Zwecke bin ich jedenfalls real genug.«

»Fragen Sie bloß nicht weiter nach«, sagte Cory und reichte Annabelle die Hand. »Philosophieren können wir später noch. Jetzt wird erst mal gearbeitet.«

Annabelle ließ sich von der kleinen Bibliothekarin auf die Beine helfen, aber auf dem Weg ins Haus blieb sie stehen und drehte sich um. »Das ist zwar witzig«, sagte sie und deutete auf die Aufschrift auf dem Transporter. »Aber mein Zeug ist kein Gerümpel. Es ist ein Archiv.«

82

Über die auf Twitter debattierte Frage, ob japanische Putzfrauen etwas gegen Bücher hätten, wurde auch unter uns lebhaft diskutiert. Viele von uns fanden die Vorstellung, dass Bücher Leser erfreuen oder aufmuntern sollen, vollkommen lächerlich. Ebenso wie Aikons Kritiker waren wir der Meinung, dass es nicht unsere Aufgabe ist, Menschen glücklich zu machen. Andere von uns wiederum führten die ganze Kontroverse auf kulturell und sprachlich bedingte Missverständnisse zurück, ein Problem, das wir Bücher nur zu gut kennen. Und wir alle wussten von den Büchern in Aikons Büchersammlung. Dass Aikon sie liebte und rührend für sie sorgte, denn sie scheuten sich nicht, uns davon zu erzählen. Insgeheim waren selbst Aikons schärfste Kritiker ein wenig neidisch auf ihre Bücher. Wir mögen es, wann man uns abstaubt und sich um uns kümmert. Und wir mögen es gar nicht, wenn man uns vernachlässigt.

Denkt mal einen Moment lang an den Bücherstapel auf eurem Nachttisch. Stellt euch vor, ihr wärt das Buch, das ganz oben liegt, das den Ehrenplatz einnimmt und Abend für Abend eure volle Aufmerksamkeit genießt. Sicher, die Tage sind lang, aber es freut sich schon auf den Moment, in dem ihr ins Bett schlüpft, euch ein Kissen in den Rücken stopft und eure Leselampe einschaltet. Das leise Rascheln, das ihr hört, wenn ihr das Buch aufschlagt, ist ein Seufzer der Erleichterung. Und nun stellt euch seine Bestürzung vor, wenn ein anderes Buch auftaucht und seinen Platz einnimmt, noch bevor ihr seine letzte Seite gelesen habt! Stellt euch vor, wie demütigend es für ein Buch ist, in eurem Stapel immer weiter nach unten zu rutschen, weil es euch nicht fesseln konnte und ihr ihm womöglich eine »leichtere« Lektüre vorgezogen habt. Ist es da verwunderlich, dass diejenigen von uns, die diese Schmach erlitten haben, ein wenig bitter werden? Leider beruht die Diskriminierung der Genre-Literatur auf Vorurteilen, die in Bibliotheken, Buchläden und überall dort, wo es Bücher gibt, weitverbreitet sind. Das ist auch der Grund, weshalb so viele von uns applaudierten, als bedeutende Kritiker und Social-Media-Influencer sie als Bücherfeindin diffamierten und nicht einmal davor zurückschreckten, sich über ihre mangelnden Englischkenntnisse lustig zu machen.

Trotz des Shitstorms, der in den sozialen Medien tobte, verliefen die Signierstunden in Wichita reibungslos, auch wenn wir die Umstände nicht gerade ideal fanden. Aikons Fangemeinde war mittlerweile so groß, dass ihre Lesungen nicht mehr in Buchläden, sondern in Vortragssälen stattfanden. Dies sorgte für einigen Unmut unter uns Büchern, besonders bei den »Ungekauften« in den Buchhandlungen, die sich darüber mokierten, dass man Leser neuerdings als »Fans« und die »Leserschaft« als »Publikum« bezeichnete. Und warum sollten eigentlich die Autoren den ganzen Ruhm ernten, wenn sie bei der Entstehung eines Werks doch nur Geburtshilfe leisteten? Solange sogenannte Literatur-Events in einer Buchhandlung stattfanden, konnten die »Ungekauften« wenigstens darauf hoffen, dass zufällig eine Tidy-Magic -Leserin am Klassiker-Regal vorbeikam und sich ein tollkühnes Exemplar von Große Erwartungen oder Jane Eyre in ihre Arme werfen konnte. Bücher geben die Hoffnung nie auf. Das liegt in unserer Natur.

Aber nicht nur die Bücher waren enttäuscht. Die Verleger waren mit den Verkaufszahlen alles andere als zufrieden. »Es liegt an den Wahlen«, erklärte ein Verlagsvertreter. »Sämtliche Buchumsätze sind rückläufig. Die Leute sind entweder am Feiern oder stehen noch unter Schock. Wer will da schon lesen?«

Dann musste auch noch der Videodreh für die Pilotsendung verschoben werden, weil die ausgewählte Familie einen Rückzieher gemacht hatte. Die Ehefrau, eine Bewunderin Aikons, hatte sich für die Show beworben, nachdem ihr Mann widerwillig zugestimmt hatte. Aber nach den Wahlen stellte er sich quer. Er wolle nicht, dass irgendeine dahergelaufene japanische Putzfrau in sein Haus käme, seine Sachen durchwühle und ihn herumkommandiere, erklärte er. Im Taxi auf dem Weg zum Flughafen brachte Kimi Aikon auf den neusten Stand.

»Das war’s dann mit Kansas. Sie suchen jetzt nach einer anderen Familie an der Westküste …«

»Verstehe«, sagte Aikon und sah aus dem Fenster. Entlang des Highways reihte sich eine Shoppingmall an die andere. Sie hatte noch nie so viele Ladenketten auf einmal gesehen. Best Buy, Party City, Dollar Store, Walmart Supercenter. »Was ist mit Mrs. Oh und ihrem Sohn? Vielleicht könntest du sie ja vorschlagen?«

»Hab ich schon«, sagte Kimi. »Sorry, ich hätte Sie vorher fragen müssen. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse …«

»Überhaupt nicht. Was haben die Produzenten gesagt?«

Kimi seufzte. »Dass sie eine glückliche Familie wollen, mit der man sich besser identifizieren kann.«

»Verstehe«, sagte Aikon. Sie las die Namen der Restaurants, die an ihnen vorbeizogen. Denny’s, Wendy’s, White Castle, McDonald’s, Texas Roadhouse, Golden Corral, Red Lobster.

»Wahrscheinlich hätte es sowieso nicht geklappt«, sagte Kimi. »Mrs. Oh hat nicht mehr zurückgeschrieben. Wir wissen noch nicht mal, wo sie wohnt.«

»Stimmt.« Wo trieb der Red Lobster mitten in Kansas eigentlich Hummer auf? Hinter den Malls dehnte sich die Landschaft endlos aus – grau, flach und trist.

»Also, jedenfalls wurde Ihre letzte Lesung an der Küste auf Dezember verlegt«, sagte Kimi. »Wir sind dann ohnehin wegen der ›Nachher‹-Folge dort. Die Buchhandlung war froh über die Terminverschiebung. Sie wollen die Veranstaltung nämlich in den Vortragssaal der Stadtbibliothek verlegen.«

83

Es gab nicht genug Platz für alle, also arbeiteten Jevaun und Dexter im Haus und schleppten die Archivsäcke aus dem Wohnzimmer auf die Veranda, wo die anderen sie in Empfang nahmen und zum Müllcontainer trugen, einer hinter dem anderen wie auf einer wimmelnden Ameisenstraße. Der Flaschenmann regelte den Verkehr. Cory versuchte, Annabelle in die Küche zu locken, indem sie ihr vorschlug, schon mal mit dem Sortieren zu beginnen, aber Annabelle weigerte sich.

»Ich will dabei sein«, sagte sie und betrachtete wehmütig die Archivsäcke im Wohnzimmer. »Das ist schließlich meine ganze Arbeit.«

Sie nahmen ihr gesamtes Archiv mit: alle Zeitungen und Magazine, die alten Audio- und Videokassetten, die Diskettenlaufwerke und die CD s und DVD s, auf denen Nachrichten aus fast zwei Jahrzehnten gespeichert waren. All die Berichte, die sie ausgewertet hatte. Und mit den Berichten verschwanden auch all die Menschen, von denen sie handelten, all die Opfer von Amokläufen, Unruhen und Naturkatastrophen, Tote und Lebende, die mit der Flut veralteter Nachrichten fortgespült wurden. Annabelle sah zu, wie die Nachrichten, wie Treibgut aus vergangener Zeit, aus dem Haus geschwemmt wurden.

»Alles okay?«, fragte Cory.

»Ja«, sagte sie und wischte sich mit dem Zipfel eines alten T-Shirts die Stirn ab. »Man kann die Zeit nicht festhalten«, sagte sie. »Das versteh ich jetzt.«

Während sie bergeweise Sachen zusammenpackten und hinausbrachten, kamen zum ersten Mal seit Jahren wieder die Wände zum Vorschein und auch Teile des Fußbodens. »Das ist ja Hartholz«, sagte Annabelle. »Hatte ich ganz vergessen.« Wo die Säcke gestanden hatten, waren Schimmelflecken an den Wänden. »Die müssten gestrichen werden«, sagte sie. »Mit einer fröhlichen Farbe. Gelb wäre schön. Bennys Lieblingsfarbe.«

Im Wohnzimmer war jetzt mehr Platz, sodass die übrigen Helfer im Haus weiterarbeiten konnten. Annabelle saß auf dem Sofa, während sie die Schränke ausräumten und die Sachen vor ihr abstellten. Daumen rauf, Daumen runter. So entschied sie über ihr Schicksal.

»Wie eine Königin«, sagte sie. »Oder wie ein Richter.« Und kaum hatte sie das gesagt, kam Maisie grinsend mit einer großen Tüte herein, die sie in der Abstellkammer gefunden hatte. Sie war mit Überbleibseln eines längst vergangenen Geburtstags vollgestopft: Luftschlangen aus Krepppapier, Fähnchen und Luftballons, Tröten und Trillerpfeifen, Kerzen und Konfetti. Und eine Krone aus Silberpapier, die sie Annabelle aufsetzte. Die Partyhüte verteilte sie an ihre Mithelfer. Annabelle trug ihre Krone mit großer Würde, während sie ihre Entscheidungen traf. Dankbar berührte sie jeden Gegenstand und entließ ihn mit einem Segensspruch hinaus in die Welt, wo er in den Kreislauf der Dinge zurückkehren würde.

Alle durften mitnehmen, was sie gebrauchen konnten: Gordon und Dexter packten alte Regenmäntel und Campingausrüstung in einen Karton. Maisie suchte sich einen Stapel Decken und einige T-Shirts und Handtücher aus. Jevaun bekam Kenjis alte Reggae-Platten, und Cory und Jenny waren bereit, ein paar Bücher mitzunehmen. Der Flaschenmann blieb draußen und sortierte die Spenden für die Obdachlosenheime. Vlado, der Hausmeister, verstaute sie in seinem Transporter, zusammen mit Kenjis alten Mischpulten und diversem Audio-Equipment, das er verkaufen wollte.

Mittags bestellten sie sich etwas beim Chinesen. Während sie auf das Essen warteten, schmückten sie Annabelle mit Girlanden und Luftschlangen und krönten sie zur Entrümpelungskönigin. Dann posierten sie mit ihren Partyhüten vor dem Schrott-ade -Transporter und machten Selfies. Sie aßen auf der Veranda. Es war ein grauer Novembertag, aber es regnete nicht mehr. Und so saßen sie zusammen auf den Treppenstufen und teilten sich Frühlingsrollen, Schweinefleisch Mu Shu und gebratenen Reis. Cory setzte sich neben Annabelle, die einen Teller auf ihrem Knie balancierte.

»Alles okay?«

Annabelle nickte. Sie sah zum Flaschenmann und Vlado hinüber, die rauchend neben dem Transporter saßen und lebhaft auf Slowenisch diskutierten. »Bennys Psychiaterin behauptet, der Flaschenmann wäre nicht real. Sie meint, Benny hätte Halluzinationen und würde sich ihn nur einbilden. Ich hab ihr gesagt, dass ich das anders sehe, aber sie war sich ihrer Sache so sicher, dass ich ihr geglaubt hab.« Sie nestelte an einer Girlande, die um ihren Hals hing. »Sie hält mich für verrückt. Und vielleicht hat sie ja recht.«

»Ich schätze, wir sind alle ziemlich verrückt«, sagte Cory.

Nach dem Mittagessen setzte sich Annabelle wieder aufs Sofa, während sich der Trupp die Küche vornahm. Es ging zügig voran. Dexter kam mit einem Schuhkarton voller rosafarbener Porzellanscherben ins Wohnzimmer und leerte ihn in den Abfalleimer neben dem Sofa.

»Nein!«, rief Annabelle und sprang auf. »Die nicht!«

Ihre Stimme klang so schrill, dass die anderen ihre Arbeit unterbrachen und in den Flur liefen. Mit ihren Partyhüten auf dem Kopf standen sie im Türrahmen und beobachteten, wie Annabelle den Abfalleimer durchwühlte.

»Das ist eine Teekanne«, sagte sie, während sie die Scherben herausfischte – einen abgebrochenen Henkel, eine halbe Tülle – und vorsichtig auf den Boden legte. »Ich hab überall danach gesucht!«

»Sie ist zerbrochen«, sagte Cory leise.

»Das weiß ich«, sagte Annabelle. »Deshalb muss ich sie ja auch reparieren. Ich will sie wieder kleben. Das wird ein hübscher Blumentopf. Es muss hier irgendwo noch eine Kanne geben. Eine gelbe. Auch kaputt, aber ich hab die Scherben in einem Plastikbeutel aufgehoben. Es soll nämlich ein Set werden, ein rosa und ein gelber Topf. Und dann werde ich Kräuter reinpflanzen. Hat jemand die anderen Scherben gesehen? Die müssen in der Küche sein. Ich muss sie finden.« Sie drängte sich an ihnen vorbei und lief in die Küche. »Oh!«

Der Anblick verschlug ihr die Sprache. In der Küche sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall lagen Lebensmittel herum, Dosen, Schachteln und Tüten mit Chips, Frühstücksflocken und Suppen, Sachen aus dem Gefrierschrank, die in der Spüle und auf dem Küchentisch vor sich hin schmolzen, Gewürze, die aus Schubladen quollen und Nudeln, die auf dem Boden verstreut waren, sodass sie keinen Schritt machen konnte, ohne auf sie zu treten.

»Oh, das ist ja furchtbar!«, rief sie. »Was für ein Chaos! Ich muss das aufräumen.«

»Das können wir später machen«, sagte Cory, die hinter ihr stand. »Jetzt lassen Sie uns erst mal die Entrümpelungsphase hinter uns bringen, okay?«

»Aber es ist doch schon so viel weg! Ich finde nicht, dass wir noch mehr entsorgen müssen. Da bleibt ja nichts mehr übrig! Was soll ich Benny denn zum Abendessen machen? Wie soll ich in so einem Chaos kochen?«

»Annabelle, Benny wird nicht …«

»Nein«, sagte sie entschieden. »Das reicht jetzt. Lasst alles, wie es ist. Ich räum das später selber auf.«

Sie ließ sich nicht umstimmen. Und so gingen sie alle nach oben. Annabelle erlaubte ihnen, den Flur auszumisten, die alten Magazine zu entsorgen und den Weg zum Badezimmer freizuräumen. Aber als Jevaun die Bastelsachen aus der Badewanne wegwerfen wollte, erhob Annabelle Einspruch.

»Die bleiben hier«, sagte sie und versperrte ihm den Weg.

»Kein Problem«, sagte er. »Sagen Sie mir einfach, was weg kann.« Er hielt eine durchweichte Tüte mit Füllwatte hoch. »Das hier?«

»Nein«, sagte Annabelle. »Die brauch ich noch. Ich will Kissen machen.«

»Okay«, sagte er und reichte die Tüte an Jenny weiter, die im Flur wartete. »Und das?« Er zeigte auf ein paar leere Bilderrahmen, die zwischen der Toilette und der Wanne steckten.

Annabelle zog einen hervor und musterte ihn. »Oh, ein Wasserschaden. Wie schade! Aber die sind noch zu gebrauchen. Sieht doch irgendwie verwittert aus, finden Sie nicht? Es ist gar nicht so einfach, so einen Vintage-Effekt hinzukriegen. Ich behalte sie.« Sie reichte die Rahmen Jenny, die sie nach unten brachte, während Jevaun einen alten blauen Koffer unter dem Waschbecken hervorzog.

»Oh«, sagte sie und setzte sich auf den Klodeckel. »Den hab ich ganz vergessen.«

Annabelle betrachtete kurz den Koffer, wischte dann den Schimmel weg und öffnete ihn. Vor ihr lagen Stofftiere und Puppen – ein selbst genähter Sockenaffe, ein Kakadu, ein rosa Nilpferd, ein paar Teddybären und eine Flickenpuppe. Sie nahm einen Seehund heraus und hielt ihn in die Höhe.

Dexter hatte Jennys Platz an der Tür eingenommen. Annabelle bewegte den Seehund auf und ab, als würde er schwimmen.

»Ist ja süß«, sagte er schüchtern.

Der Seehund schwamm auf seine Nase zu. »Hallo, ich heiße Harold.«

Dexter grinste und zog den Kopf ein.

»Ist das nicht ein witziger Name für einen Seehund?«, fragte Annabelle.

Er blickte nachdenklich in den Koffer. »Die würden Maisie bestimmt gefallen. Sie hat Angstzustände. Und da helfen ihr Stofftiere. In die kann sie reinbeißen, und ihnen macht’s ja nichts aus.«

Annabelle drückte den Seehund an ihre Brust. »Das würde aber Harold nicht gefallen.« Sie legte ihn in den Koffer zurück und klappte ihn zu. »Ich habe auch Angstzustände, aber ich beiße nicht.« Dann seufzte sie und machte ihn wieder auf. »Aber wahrscheinlich ist das bei jedem anders.« Sie kramte darin herum und zog schließlich einen zerrupften Pinguin hervor. »Hier, den kann Maisie haben.«

Dexter zog mit dem Pinguin ab, und Jevaun nahm sich den Wäscheschrank vor. Annabelle setzte sich auf den Klodeckel und beobachtete mit wachsender Beklommenheit, wie er nach und nach Sachen herausholte und hochhielt. Das originalverpackte Stick-Set, Zwei Herzen, eine Liebe , das ihr die Schnipsel-Ladies zur Hochzeit geschenkt hatten, würde sie behalten. Und sie würde auch die Schachtel mit dem Strickzeug behalten, die Nadeln und Strickhaken, die Mustermappen, die verhedderten Wollknäuel und die halbfertigen Babyschuhe für Benny. Sie würde auf jeden Fall die Herbstdekoartikel behalten und das Vogelscheuchen-Kostüm von Bennys erstem Halloween.

Als Jevaun sagte, dass man mit dem Kostüm vielleicht einem anderen Kind eine Freude machen könnte, schnappte sie sich den Beutel mit den Sachen und ging damit in ihr Zimmer, während sie eine Spur aus Herbstblättern hinter sich herzog. Dort war Cory gerade dabei, eins von Kenjis Flanellhemden an Gordons Brust zu halten, um Maß zu nehmen. Vor ihr stand ein Müllsack, der mit weiteren Hemden gefüllt war. Annabelle schnappte nach Luft.

»Nein!«, rief sie und riss Cory das Hemd aus den Händen. »Die gehören Kenji. Die kriegt ihr nicht. Ich brauch sie für einen Memory Quilt.« Sie hielt das Hemd und den Beutel mit Bennys Vogelscheuchen-Kostüm umklammert. »Okay, ich glaube, das reicht für heute. Ich bin euch wirklich sehr dankbar für eure Hilfe, aber ich finde, ihr solltet jetzt besser gehen.«

»Aber Annabelle, wir müssen doch noch …«

»Nein«, sagte Annabelle mit hoher, dünner Stimme. »Bitte! Es reicht. Ihr müsst jetzt wirklich gehen. Und zwar gleich!«

Gordon schlich zur Tür hinaus. Sie kauerte sich in eine Ecke, den Beutel an die Brust gepresst.

»Annabelle«, sagte Cory und streckte die Hand aus. »Ich verstehe, dass Sie das Ganze sehr aufregt, aber …«

»Nein!«, schrie sie. »Kommen Sie nicht näher! Gehen Sie einfach!«

Cory wich zurück und ging zur Tür. »Okay, ich bin so gut wie weg. Aber …«

»Nein! Seien Sie ruhig! Jetzt hören Sie mir zu! Sie versuchen mir einzureden, ich wäre wie jemand in diesen schrecklichen Messie-Shows im Fernsehen, aber das stimmt nicht. Ich bin kein Messie. Mit mir wird’s kein Happy End geben, nur damit ihr euch gut fühlen könnt! Ihr könnt mich zu nichts zwingen!«

»Annabelle, aber nein … Wir wollen Ihnen überhaupt nichts einreden. Wir wollen nur …«

»Das ist mein Zimmer! Mein Haus! Ich mag es so.« Mit gehetztem Blick sah sie sich um.

»Annabelle, sehen Sie mal …« Cory trat ins Zimmer und streckte die Hand nach ihr aus. »Wir rühren nichts an, was Sie nicht …«

»Nein!« , kreischte Annabelle. »Fassen Sie mich nicht an! Sie sollen mich nicht anfassen …!«

No-Goods Container war randvoll. Und Vlados weißer Transporter war bis oben hin mit Sachen beladen, die gespendet oder verschenkt werden sollten. Als sie Eimer und Besen verstaut hatten, versammelten sie sich auf dem Bürgersteig.

»Also«, sagte Cory. »Vielen Dank euch allen. Tut mir wirklich leid, aber ich hatte keine Ahnung …«

Jevaun legte den Arm um ihre Schultern. »Ist nicht deine Schuld.«

»Ich hätte sie nicht drängen dürfen …«

»Es war das Vogelscheuchen-Kostüm«, sagte er. »Ich hätte ihr nicht vorschlagen sollen, es wegzugeben. Deshalb ist sie ausgeflippt.«

»Sie wäre so oder so ausgerastet«, meldete sich Jenny zu Wort. »Bei dem ganzen Scheiß, den sie gehortet hat.«

»Es war die Teekanne«, murmelte Dexter. »Ich hätte sie nicht wegwerfen sollen.«

»So ist das eben, wenn man zu viel besitzt«, erklärte der Flaschenmann. »Irgendwann besitzt es dich …«

»Posttraumatische Belastungsstörung«, sagte Gordon und strich sich mit zitternden Fingern durch den Bart. »Klassischer Fall.«

»Vielleicht war’s auch der Pinguin«, schlug Dexter vor.

Maisie nahm die Flosse des Pinguins aus dem Mund und streckte schnüffelnd die Nase in die Luft. »Eindeutig ein Trauma. Dafür hab ich ’nen Riecher.«

»Es waren die Hemden«, warf Gordon ein. »Das war der Auslöser.«

»Wir waren einfach zu schnell«, sagte Cory. »Wir hätten ihr mehr Zeit lassen sollen.«

»Aber wir mussten uns doch beeilen«, erwiderte Jevaun. »Und wir haben ’ne Menge geschafft.«

»Ja, aber nicht genug«, sagte Cory. »Nicht annähernd genug.«

84

Als während der Abendnachrichten kurz nach den Wahlen im Gemeinschaftsraum ein heftiger Streit ausbrach, schaltete eine Schwester den Fernseher aus. Nur ein paar der älteren Kinder auf der Station sahen sich überhaupt die Nachrichten an. Die meisten waren zu jung, um sich für Politik zu interessieren, aber sie waren labil und überempfindlich und hatten ein feines Gespür für atmosphärische Schwingungen und unterschwellige Spannungen, sei es auf der Station oder im ganzen Land. Die gereizte Stimmung, die in den Fernsehberichten mitschwang, verstörte sie. Und so kam es, dass in den Tagen nach dem Streit niemand Lust hatte, den Fernseher einzuschalten. Das war weder eine gemeinsame Entscheidung der Kinder noch eine Anweisung von oben. Das Gerät blieb einfach aus, und niemand störte sich daran.

Doch mittlerweile kursierten im Internet so viele Filmaufnahmen von den Unruhen, dass die meisten Kinder und Pfleger die Bilder kannten. Sie hatten den schwarz gekleideten, vermummten Trupp gesehen, der Mülltonnen umwarf und eine Luxuslimousine in Brand setzte. Sie hatten gesehen, wie die Bereitschaftspolizei mit Steinen beworfen wurde und wie sie mit Gummiknüppeln und Tränengas zurückschlug. Und sie hatten die Aufnahme der Überwachungskamera gesehen, die zeigte, wie Benny das Schaufenster des Nike-Ladens mit einem Baseballschläger zertrümmerte. Das verschaffte Benny sowohl bei den Patienten als auch beim Personal ein gewisses Ansehen, aber er schien sich seines neu erlangten Ruhms nicht bewusst zu sein. Die anderen Kinder fragten sich, ob er wohl wieder ausrasten und gewalttätig werden würde. Und das Personal fragte sich das auch, aber genau das Gegenteil war der Fall. Er war sanftmütig und kooperativ, ließ sich im Rollstuhl zu den Mahlzeiten in die Cafeteria fahren, zur Gruppentherapie, zum Unterricht, zur Kunsttherapie, zum Sport und all den anderen therapeutischen Aktivitäten, an denen junge Psychiatrie-Patienten teilnehmen sollten. Stumm und an seinen Rollstuhl gefesselt, schien er in einer schattenhaften Nebelwelt zu leben, jenseits von Raum und Zeit, losgelöst von den täglichen Abläufen auf der Station. Aber jeden Nachmittag um Punkt 17 Uhr, wenn die Lokalnachrichten begannen, fuhr er in den Gemeinschaftsraum, parkte seinen Rollstuhl vor dem Fernseher und starrte auf den dunklen Bildschirm. Und lauschte.

Damals war es so gut wie unmöglich, zu ihm durchzudringen. Die Medikamente, die er nahm, versperrten uns den Zugang zu seinen Gedanken; sein Geist, der in der Buchbinderei so klar und empfänglich gewesen war, war jetzt so flirrend wie die Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Überwachungskamera und voller atmosphärischen Störungen. Wir wussten, dass er Sirenen hörte. Sprechchöre und Gebrüll. Das Trampeln von Stiefeln, das Knattern von Rotorblättern, die Schreie von Glasscherben. Und im Hintergrund ertönten die feierlichen Posaunenklänge und dramatischen Trommelwirbel der Erkennungsmelodie des Lokalsenders.

Und während er vor dem leeren Fernsehbildschirm saß, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Die anderen Kinder ließen ihn in Ruhe, ebenso wie das Personal, und das war ihm auch lieber so. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber die Medikamente blockierten ihn, und es fiel ihm schwer, zu hören, was in der Welt, im Fernsehen und in seinem eigenen Kopf vorging.

85

Der weiße Transporter fuhr los, und dann kehrte Ruhe ein. Annabelle stand auf und streckte sich, ihre Beine waren vom vielen Hocken ganz steif. Nachdem der ganze Trupp verschwunden war, kam ihr das Haus leer und still vor. Annabelle schaute sich in ihrem Zimmer um. Sie hatten angefangen, die Kleidungsstücke zu sortieren, waren aber noch nicht weit gekommen. Sie holte den blauen Koffer aus dem Flur und legte ihn aufs Bett. Sie nahm den Seehund, das Sockenäffchen und die Flickenpuppe heraus. Die Stofftiere stammten noch aus ihrer Kindheit, hatten immer auf ihrem Bett gesessen. Sie drehte den Koffer um und schüttelte die restlichen Sachen heraus. Ein paar Stofftiere fielen auf den Boden. Auch damals waren sie oft auf dem Boden gelandet, aber meistens hatten sie nur auf ihrem Bett gesessen und tatenlos zugesehen. Und hinterher hatte Annabelle sie bestraft, indem sie sie einsperrte. Sie nahm das Sockenäffchen in den Arm und schaute ihm tief in die Augen.

Hast du mich lieb? fragte sie, und als das Äffchen Nein sagte, setzte sie es aufs Bett und drehte es mit dem Gesicht zur Wand. Dann nahm sie die Flickenpuppe.

Hast du mich lieb? fragte sie. Nein. Sie setzte die Puppe neben den Affen, ebenfalls mit dem Gesicht zur Wand. Dann griff sie nach dem Seehund.

Hast du mich lieb? Ihre Stimme zitterte jetzt. Dann fragte sie den Bär, die Eule, den Strauß und das Nilpferd, aber einer nach dem anderen wandte sich von ihr ab. Als auch das letzte Tier sie im Stich gelassen hatte, nahm sie einen Kuli vom Nachttisch und begann damit auf ihr Kissen einzustechen. Immer und immer wieder trieb sie die Spitze in die Polyesterfüllung, bis schließlich ein Schluchzen, das tief in ihrem Innern eingeschlossen war, aus ihr herausbrach. Dann folgten die Tränen. Sie lag auf dem Bett, das Gesicht aufs Kissen gepresst, und weinte. Nach einer Weile drehte sie sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Ihr Körper fühlte sich erschöpft und leer an. Ihr Geist auch. Sie kannte dieses Gefühl aus ihrer Kindheit und war erstaunt, dass das Ritual nach all den Jahren immer noch funktionierte.

Sie setzte sich im Bett auf. Sie hatte plötzlich Durst. Im Flur herrschte ein einziges Chaos – der Trupp war überstürzt aufgebrochen –, aber das Bad sah eigentlich ganz annehmbar aus. Im Becherhalter steckte tatsächlich ein Zahnputzbecher, wie es sich gehörte. Sie füllte ihn mit Wasser und leerte ihn in einem Zug.

Die Tür zu Bennys Zimmer stand offen, und sie warf einen Blick hinein. Die tadellos aufgeräumten Schränke und Regale gehörten zu einer Welt, in der jedes Ding seinen Platz hatte. Eine Welt, die ihr Sohn ganz allein bewohnte. Oh, Benny, dachte sie. Es tut mir so leid.

Im Flur stieß sie auf einen Karton mit großen Industriemüllsäcken, die aus den Beständen der Bibliothek stammten. Vlado wusste sich zu helfen.

Die Stofftiere saßen immer noch auf ihrem Bett, mit dem Gesicht zur Wand. Während Annabelle sie betrachtete, verspürte sie einen Anflug von Wut. Wie konnten sie sich einfach so von ihr abwenden? Sie drehte eins nach dem anderen um und blickte in ihre glasigen Augen, die schon so viel gesehen hatten. Sie waren ihre Zeugen. Sie hätte ihnen dankbar sein sollen, aber das war sie nicht. Und so stopfte sie sie alle in den Müllsack. Schon besser, dachte sie. Doch dann überlegte sie es sich anders, holte das Sockenäffchen wieder heraus und schob es unter ihr Kissen. Dort würde es bleiben. Falls ihr mal nach Beißen zumute sein sollte.

Das Wohnzimmer sah wüst aus, obwohl sie schon einige Fortschritte gemacht hatten. Es gab jetzt mehr Platz auf dem Boden, und sämtliche Wände waren wieder zu sehen. Jemand hatte ihre Schneekugeln sorgsam auf der Fensterbank arrangiert, neben der Schmuckschale, in der sich die Geschenke der Krähen befanden. Sie legte die Schneekugeln in den Spenden-Karton. Nur die mit der Meeresschildkröte und die Tsunami-Kugel, die Benny ihr geschenkt hatte, behielt sie. Die Schmuckschale behielt sie natürlich auch.

Die Scherben der rosa Teekanne lagen immer noch auf dem Boden neben dem Sofa. Sie sammelte sie auf und warf sie in den Müllsack, der schon überquoll. Sie schleifte ihn nach draußen. Jemand hatte eine abgewetzte Aktentasche auf der Veranda stehen lassen. Wahrscheinlich einer der Obdachlosen. Die sollten ihren Mist gefälligst nicht bei anderen Leuten abladen, dachte sie und nahm die Tasche. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Noch mehr Müll.

No-Goods Container war voll, also trug sie den Abfallsack und die Aktentasche zum Container vor dem Secondhandladen. Irgendwie schaffte sie es, den Sack auf den Rand zu hieven. Es versetzte ihr einen Stich, als sie an die arme kleine Teekanne dachte, aber dann kippte sie den Sack über die Kante. Die Aktentasche warf sie hinterher.

»Verdammt!«, rief eine Stimme.

»Oh!«, sagte Annabelle. »Ist da jemand drin?«

Sie hörte ein scharrendes Geräusch. Dann flog die Aktentasche wieder heraus und landete auf dem Stapel fleckiger Matratzen, die neben der Straßenlaterne lagen. Über dem Containerrand tauchte ein Kopf auf.

»Ach, du bist es!«, sagte Annabelle. Es war das Gummienten-Mädchen. Macksons Freundin, die sie in der Vollmondnacht getroffen hatte.

»Sie haben mir Ihren Scheiß auf den Kopf gekippt«, beschwerte sich das Mädchen. »Ich hab geschlafen.« Sie kletterte über den Rand des Containers und sprang auf den Boden. Dann hob sie die Aktentasche auf und wischte sie ab. »Wie können Sie was wegwerfen, was Ihnen nicht gehört?«

»Die hat jemand bei mir vergessen«, sagte Annabelle. »Warum hast du denn da drin geschlafen?«

Das Mädchen setzte sich auf eine der feuchten Matratzen und gähnte. »Warum wohl? Das ist der einzige Ort, wo einen die Bullen in Ruhe lassen.«

Sie war fast genauso angezogen wie bei ihrer ersten Begegnung, aber ihre gebleichten Haare waren jetzt verfilzt und schmutzig. Der Haaransatz war nachgedunkelt, nur die Spitzen waren noch weiß. Sie hatte abgenommen. Hektisch kratzte sie sich an den Armen, und Annabelle sah, dass ihre Hände zitterten.

»Du bist doch mit Benny befreundet. Du bist die Künstlerin, stimmt’s?«

Das Mädchen musterte sie, kniff wie geblendet die Augen zusammen, obwohl der Himmel bedeckt war. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Und Sie sind Bennys Mutter. Der Messie, stimmt’s?« Ihre Stimme klang hohl, als käme sie immer noch aus dem Container.

Sie gähnte wieder und sank auf die Matratze zurück, drehte sich auf die Seite, zog die Beine an und steckte die Hände zwischen die Knie.

»Bist du das Aleph?«, fragte Annabelle.

»Kommt drauf an«, sagte das Aleph. »Manchmal.« Sie zitterte am ganzen Körper. Auch wenn sie wie ein Schatten ihrer selbst wirkte, schien sie doch ganz real zu sein.

»Du solltest da nicht liegen bleiben«, sagte Annabelle. »Du könntest dir Wanzen einfangen. Willst du mit zu mir kommen?«

Sie räumte in der Küche einen Stuhl frei und wärmte eine Dosensuppe auf, aber das Mädchen wollte oder konnte nichts essen. Sie zitterte, gähnte ununterbrochen und kratzte sich die Arme wund. Sie hatte die Aktentasche mitgebracht und sah immer wieder nach, ob sie noch da war. Sie wirkte erschöpft, aber auch irgendwie aufgedreht.

»Woher kennst du eigentlich Benny?«

»Aus der Kinderpsychiatrie. Wir waren zusammen da, bis sie mich zu den Erwachsenen gesteckt haben.«

»Oh«, sagte Annabelle. »Schön für dich.«

»Von wegen. Die Kinderpsychiatrie ist voll krass, aber die Erwachsenenstation ist noch viel schlimmer. Ein scheiß Pharmaladen.« Sie schlang die Arme um sich.

»Du siehst nicht gut aus«, sagte Annabelle.

»Sie auch nicht.«

»Bist du auf Drogen?«

»Nein. Auf Entzug«, sagte das Mädchen.

»Und wie geht’s dir?«

»Fantastisch. Wie soll’s einem da schon gehen?«

»Keine Ahnung«, sagte Annabelle. »Deshalb frag ich ja.«

Das Mädchen starrte sie an, als käme sie von einem anderen Stern, sagte dann aber versöhnlich: »Es fühlt sich an wie eine Grippe, nur tausendmal schlimmer.

»Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Nein.«

»Kannst du schlafen?«

»Glaub nicht.«

»Willst du dich hinlegen?«

»Okay.«

Sie führte das Mädchen nach oben in Bennys Zimmer, half ihr ins Bett und schloss die Tür. Als sie ein paar Stunden später zurückkam, schien das Mädchen zu schlafen. Wie sie da auf Bennys Weltraumdecke lag, sah sie unglaublich jung und zugleich unglaublich alt aus, wie ein uralter Alien, mit den vernarbten, tätowierten Armen, den fettigen Haaren und den ganzen Piercings. Ihre Atmung war unregelmäßig – mal langsam und gleichmäßig, dann wieder schnell und stockend. Manchmal knirschte sie mit den Zähnen, verzog das Gesicht und stöhnte, riss die Arme hoch und fuhr mit gekrümmten Fingern durch die Luft, als wolle sie sich aus einer Umklammerung befreien. Dann war es plötzlich vorbei, und sie sank wieder aufs Kissen zurück und fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf. Ihr Gesicht war schweißbedeckt und voller Schmutz. Und so holte Annabelle ein feuchtes Tuch, setzte sich auf die Bettkante und legte es sanft auf die Stirn des Mädchens. Eine Art Sehnsucht stieg in ihr auf. Wenn Kenji nicht gestorben wäre, hätten sie vielleicht noch ein zweites Kind bekommen. Ein Mädchen. Sie hatte sich immer eine Tochter gewünscht. Sie strich dem Aleph eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wo war die Mutter dieses armen Mädchens, das sie so dringend gebraucht hätte? Sie dachte an ihre eigene Mutter. Wo war sie gewesen in all den Nächten? Und sie dachte an Benny.

Bald war es Zeit, ihn in der Klinik zu besuchen, aber sie wollte das Mädchen nicht allein lassen. Sie sollte nicht in einem fremden Zimmer aufwachen, ohne zu wissen, wo sie war. Annabelle überlegte, ob das Mädchen sie wohl auf die Station begleiten würde. Sie würde sie zu gern Dr. Melanie vorstellen. Sehen Sie! Sie ist echt! Auch den Flaschenmann würde sie gern mitnehmen, aber der war leider schon weg – na ja, eigentlich hatte sie ihn und die anderen ja rausgeschmissen. Vielleicht könnte sie ihn bitten, noch einmal vorbeizukommen. Als sie wieder das Mädchen ansah, bemerkte sie die Tränen in ihren Augenwinkeln und tupfte sie mit dem Tuch ab. Was für Drogen hatte sie eigentlich genommen? Sie hatte regelmäßig die Berichte über die Opioid-Epidemie verfolgt. Sie wusste, dass ein Entzug gefährlich sein konnte. Sollte sie den Notruf wählen? Sie holte das Handy aus der Tasche und googelte die Symptome eines Drogenentzugs.

Als sie aufblickte, hatte das Mädchen die Augen geöffnet und beobachtete sie.

»Wie geht’s dir?«, fragte Annabelle.

»Beschissen«, sagte das Mädchen und starrte sie immer noch an, was Annabelle nervös machte. »Mach ich Sie nervös?«

»Nein«, sagte Annabelle. »Na ja, irgendwie schon. Du stöhnst im Schlaf, als würdest du mit jemandem kämpfen.«

Das Mädchen schnitt eine Grimasse. »Ich hab nur innere Dämonen. Dämonen und Monster.«

»Oh«, sagte Annabelle. »Verstehe«. Das Mädchen schloss die Augen und schien abzudriften. Ihr Gesicht, das jetzt maskenhaft wirkte, sah um Jahre älter aus. »Vielleicht sollte ich dich besser in die Notaufnahme bringen.«

Das Mädchen riss die Augen auf. »Nein!« Sie schob die Decke zurück und richtete sich mühsam auf.

Annabelle legte die Hand auf ihren Arm. »Ist ja gut. Keine Angst, wir müssen da nicht hingehen. Ruh dich erst mal aus.«

Sie fühlte die Narben auf dem Arm des Mädchens, das jetzt von ihr abrückte, aber neben ihr auf der Bettkante sitzen blieb. Sie rieb sich die Arme und sah sich um. »Ist das Bennys Zimmer?«

»Ja.«

»Wie aufgeräumt.«

»Er war schon immer ein ordentlicher Junge.«

Das Aleph griff nach der Murmel, die auf der Ablage neben dem Bett lag. »Hübsch«, sagte sie und ließ sie auf ihrer Handfläche kreisen. »Kann ich die haben?«

»Das musst du Benny fragen.«

»Er hat bestimmt nichts dagegen«, sagte sie und steckte die Murmel in ihre Hosentasche. Dann zeigte sie auf das Bücherregal. »Da ist ja die Gummiente, die ich Ihnen geschenkt hab.«

»Ja, Benny wollte sie haben.«

Der unruhige Blick des Mädchens blieb an dem Mondglobus hängen. »Er mag den Mond«, sagte sie. »Er kennt die Namen sämtlicher großer Einschlagkrater. Hat sie mal alle aufgezählt. Wollte mich wohl beeindrucken.« Sie sah Annabelle von der Seite an. »Er ist in mich verknallt, wissen Sie.«

»Oh!«, sagte Annabelle. Damit das Mädchen nicht dachte, sie hätte ein Problem damit, fügte sie schnell hinzu: »Das ist schön.«

»Wirklich?«, fragte das Aleph. »Finden Sie nicht, dass er viel zu jung für mich ist? Außerdem kann ich sowieso niemanden lieben. Nicht richtig jedenfalls.« Und wieder musterte sie Annabelle forschend. »Ich hatte eine beschissene Kindheit«, sagte sie schließlich. Als würde das alles erklären.

»Das tut mir leid«, erwiderte Annabelle. »Ich auch.«

»Ja«, sagte das Aleph und nickte. »Hab ich mir schon gedacht.«

»Wieso?«

»Na, dieser ganze Schrott da draußen.« Sie machte eine ausladende Geste, die das ganze Haus einschloss. Aber als sie Annabelles bestürzte Miene sah, fügte sie hinzu: »Machen Sie sich nichts draus. Wenn ich ein Haus hätte, würde ich’s auch zumüllen.«

»Ich bin gerade am Ausmisten«, sagte Annabelle. »Hast du denn kein Zuhause?«

Das Aleph zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht.«

»Aber wo wohnst du denn dann?«

»Mal hier, mal da. Bei Freunden. Im Sommer schlaf ich auf einem Baum.« Dann wechselte sie das Thema. »Wie ist denn Bennys Vater gestorben?«

»Er ist von einem Lastwagen überfahren worden.«

»Ach, du Scheiße.«

»Es war ein Geflügellaster. Mit lebenden Hühnern drauf.«

»Ist ja voll scheiße.«

»Er ist in der Gasse hinter unserem Haus ohnmächtig geworden. Er war high. Und dann hat ihn der Laster überrollt.«

»Oh, Mann. Haben Sie ihn geliebt?«

»Ja«, sagte Annabelle. »Sehr sogar. Er hatte ein Suchtproblem.« Sie deutete auf die Einstichstellen auf dem Arm des Aleph. »Hast du mit meinem Sohn zusammen Drogen genommen?«

Das Mädchen zog die Ärmel herunter. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Er ist doch fast noch ein Kind. Und außerdem war ich meistens clean, wenn wir zusammen waren.«

»Na gut.«

»Sie glauben mir nicht. Aber es ist wahr. Außerdem hab ich Bennys Arme gesehen. Das sind keine Einstiche. Das sind Löcher, damit die Stimmen rauskönnen.«

»Hat er das gesagt?«

»Nein, aber ich weiß es trotzdem. Hören Sie auch Stimmen?«

»Nein, warum?«

»In der Nacht, als Mackson und ich Sie in der Gasse getroffen haben, hab ich durch Ihr Küchenfenster geguckt. Und da haben Sie mit dem Kühlschrank geredet.«

»Ich habe mit meinem Mann geredet«, sagte Annabelle. »Es war eine schreckliche Nacht. Benny hatte eine tiefe Schnittwunde an der Hand. Er war voller Blut. Ich hab ihn in die Notaufnahme gebracht. Der Arzt meinte, dass die Wunde von einer scharfen Klinge käme. Du warst doch mit ihm zusammen an dem Abend, oder? Ich hab dich auf deinem Handy angerufen. Was ist da passiert? Hat ihn jemand mit einem Messer angegriffen? Er wollte es mir nicht sagen.«

Das Aleph zuckte die Schultern »Niemand hat ihn angegriffen. Wir waren in der Bibliothek. Er hat sich bloß an einer Papierschneidemaschine geschnitten.«

»Das hat er mir auch gesagt, aber ich hab’s ihm nicht geglaubt. Ich dachte, er lügt.«

»Tja, Kids lügen eben. Sogar Benny.«

»Hör mal, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

»Was?«

»Würdest du in die Klinik mitkommen?«

Das Aleph wich zurück. »Auf die Station? Wieso?«

»Um mit Bennys Psychiaterin zu sprechen. Ich möchte, dass du mit ihr redest. Sie glaubt, dass Benny dich erfunden hat. Sie glaubt nicht, dass es dich wirklich gibt.«

Das Aleph sank in sich zusammen. »Vielleicht hat sie ja recht. Außerdem glaubt mir die Ärztin sowieso nicht. Die glauben einem ja nie irgendwas.«

»Wenn sie dich sieht, muss sie dir glauben. Bitte!«

»So ausgeknockt kann ich da nicht hin. Die sperren mich gleich wieder ein.« Sie sah müde aus, ihr Gesicht war bleich und eingefallen, ihre Zähne schlugen aufeinander.

»Schon gut«, sagte Annabelle. »Wir können ja warten, bis du dich besser fühlst. Ruh dich einfach noch ein bisschen aus.« Sie legte die Decke um die knochigen Schultern des Mädchens. Als sie ihre Hand nicht gleich wegzog, spürte sie, wie sich das Mädchen verkrampfte – eine instinktive Abwehrreaktion, die ihr wohlvertraut war. Aber sie wartete ab, blieb ein wenig verlegen neben ihr sitzen. Und gerade, als sie ihre Schulter loslassen wollte, entspannte sich der Körper des Mädchens, ihre Arme fielen herab, ihr Kopf rutschte zur Seite und sank auf Annabelles Schulter. Und so saßen sie noch eine ganze Weile da.

86

Er saß im Gemeinschaftsraum und starrte auf den leeren Fernsehschirm, als Annabelle mit dem Aleph im Schlepptau auftauchte. Die Besuchszeit war fast vorüber, aber Uhren oder Termine hatten für ihn keine Bedeutung. Er bekam auch nicht mit, dass sich Annabelle im Schwesternzimmer anmeldete. Annabelle hatte angerufen und einen Termin mit Dr. Melanie vereinbart, aber sie hatten den Bus verpasst und waren zu spät dran. Die diensthabende Schwester sah sie zweifelnd an, während sie die Ärztin anpiepste. Sie warteten eine Weile, dann versuchte sie es erneut.

»Es tut mir leid, aber offenbar ist sie schon gegangen«, sagte sie, als Dr. Melanie sich immer noch nicht meldete.

Das Aleph war erleichtert. Sie hatte sich im Hintergrund gehalten, und als sie das hörte, drehte sie sich um und wollte gehen, aber Annabelle hielt sie am Ärmel fest. Sie beugte sich zur Schwester vor.

»Bitte«, sagte sie. »Es ist wirklich wichtig. Können Sie es nicht noch mal probieren?«

»Die Ärzte gehen oft früher, wenn jemand abgesagt hat. Ich kann versuchen, Ihnen einen neuen Termin zu geben.«

»Aber ich habe nicht abgesagt«, protestierte Annabelle. »Wir sind ja hier! Der Bus hatte Verspätung.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Es war nicht unsere Schuld. Bitte!«

»Ich kann Sie zu ihrer Voicemail durchstellen, und dann können Sie … Moment. Warten Sie. Da kommt sie.«

Dr. M. kam mit energischen Schritten den Flur entlang und sprach dabei in ihr Handy. Sie trug einen Regenmantel und eine schicke Ledermappe unterm Arm.

Annabelle machte einen Schritt auf sie zu. »Oh, ich bin ja so froh, dass wir Sie noch erwischt haben!«

Als die Ärztin sie kommen sah, blieb sie stehen und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist, während sie ihren Anruf beendete. »Da sind Sie ja«, sagte sie. »Ich habe auf Sie gewartet, aber als Sie nicht kamen, nahm ich an, es wäre Ihnen etwas dazwischengekommen. Ich wollte gerade gehen, aber eine Minute habe ich noch. Können wir hier reden?«

»Ja, klar«, erwiderte Annabelle. Sie hielt immer noch den Ärmel des Aleph fest und zog das Mädchen jetzt nach vorn. »Dr. Melanie, das ist das Aleph«, sagte sie.

Die Ärztin lächelte das Mädchen an und kniff beim Anblick ihres ausgezehrten Gesichts und ihres verwahrlosten Aussehens die Augen zusammen. »Hallo, Alice. Wie geht’s dir?«

Das Aleph rieb sich mit dem Ärmel über die Nase. »Okay.«

Annabelle starrte die beiden an. »Sie kennen sich?«

Das Aleph zuckte mit den Achseln.

»Natürlich kennen wir Alice«, sagte die Ärztin. »Sie war schon mehrmals hier bei uns.«

»Aber das ist nicht Alice. Das ist das Aleph. Sie ist Bennys Freundin, die, über die wir gesprochen haben. Ich hab sie mitgebracht, damit Sie sehen, dass sie wirklich existiert. Dass er sie nicht erfunden hat.«

Das Aleph kratzte sich am Handrücken. »Das Aleph ist mein Künstlername. Mein richtiger Name ist Alice.«

»Nun«, sagte Dr. Melanie mit einem kleinen Lachen. »Ich bin froh, dass das geklärt ist. Gibt es noch etwas …«

»Warten Sie«, sagte Annabelle. »Es ist egal, wie sie heißt. Entscheidend ist doch, dass Benny sie nicht erfunden hat. Sie ist echt. Sie ist nicht irgendeine Halluzination.«

Dr. M. sah auf ihre Uhr. »Mrs. Oh, lassen Sie uns für einen Moment in ein Sprechzimmer gehen und dort weiterreden. Alice, kannst du hier warten?«

»Ich will Benny sehen.«

»Alice, du kennst die Regeln. Ehemalige Patienten dürfen nicht …«

Das Aleph sah Annabelle flehend an. »Bitte?«

»Könnte sie nicht doch …?«, wandte sich Annabelle an die Ärztin.

»Ich muss sehen, ob ich eine Schwester finde«, sagte die Ärztin. »Aber wollen Sie nicht dabei sein?«

Annabelle lächelte. »Ich glaube, Benny ist es lieber so.«

Die Nachrichten waren vorüber, und er saß am Fenster, als sie hereinkam.

»Benny«, sagte Pfleger Andrew. »Du hast Besuch.«

Die Einzige, die ihn je besucht hatte, war seine Mutter, und deshalb reagierte er nicht.

»Hey.«

Er erkannte die Stimme sofort. Er drehte sich um, um zu sehen, ob sie echt war. Beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte, war sie ein Alien aus dem All, das von der Bereitschaftspolizei abgeführt wurde. Jetzt sah sie aus wie ein Zombie, aber es war trotzdem sie. Woher wusste sie, dass er hier war? Wie hatte sie es geschafft, hier reinzukommen? Leider konnte er sie nicht fragen, denn seine Stimme funktionierte immer noch nicht.

»Sie haben gesagt, dass du nicht redest.«

Es war nicht nötig, zu antworten. Sie verstand ihn auch so.

»Bist du okay?«

Er schaute aus dem Fenster, durch das dicke Sicherheitsglas, das ihn von der Außenwelt abschirmte. Wo sollte er anfangen? Es gab so viel zu sagen. Er wollte ihr alles erzählen, von der fantastischen Welt, die sich ihm in der Buchbinderei aufgetan hatte, und von den ganzen Dingen, die er gesehen hatte. Aber in Gegenwart des Pflegers war das zu riskant, selbst wenn er flüsterte. Die Stimmen schwiegen ebenfalls, und wenn er redete, wachten sie vielleicht auf, und dann ging das Ganze wieder von vorn los. Deshalb benutzte er stattdessen seine Augen. Draußen saß ein Vogel auf einem kahlen Zweig. Auf der Straße hielt ein Taxi an der Bushaltestelle an. Ein Laster fuhr rückwärts, und er konnte trotz der dicken Mauern und des Sicherheitsglases sein schwaches, hohes Piepen hören. Der Vogel war klein und grau. Ein Spatz vielleicht. Er hatte seine Federn aufgeplustert und machte einen verfrorenen Eindruck. Das Fenster war schmutzig. In seiner Nähe saß ein Junge und steckte sich Wachsmalstifte in den Mund. Pfleger Andrew ging zu ihm.

Das Aleph beobachtete die Szene. Im Gemeinschaftsraum war es heiß und stickig. Sie zog ihr Hoodie aus, und Benny sah die Narben auf ihrem Arm. Der Pfleger hatte ihnen den Rücken zugekehrt und kümmerte sich um die Stifte. Benny nutzte die Gelegenheit und berührte die Narben des Aleph. Neue Sterne. Er schob den Ärmel seines Hoodies hoch und legte seinen Arm neben ihren – sie passten irgendwie zusammen. Er schob seinen anderen Ärmel hoch und zeigte ihr die Sternschnuppen und darüber das Sternbild des Perseus. Er hätte ihr gern erzählt, dass Perseus Andromedas Mann war, der das Seeungeheuer mit seinem Zauberschwert besiegt und sie gerettet hatte. Er hoffte, dass sie das wusste. Er zog sein Sweatshirt hoch und zeigte ihr die Sternenspirale auf seinem Bauch, durch die die Stimmen entweichen konnten. Er wollte, dass sie verstand, dass er alles tat, um wieder gesund zu werden.

Er schaute sie an: Ihr Gesicht war trauriger, als er es je gesehen hatte. »Oh, Benny«, sagte sie. Und dann: »Ich hab was für dich.«

Sie sah sich nach dem Pfleger um, der mit dem Finger im Mund des Jungen herumbohrte und die Stifte herausfischte. Sie griff in die Kängurutasche ihres Hoodies und zog ein Päckchen heraus, das in Zeitungspapier eingewickelt und mit einem Stück Schnur zugebunden war. Sie gab es Benny, und er wickelte es aus. Es war eine Schneekugel. Darin saß ein Junge in einer winzigen Bibliothekskabine. Auf dem Tisch vor ihm lag ein Stapel winziger Bücher.

»Schüttle sie mal«, flüsterte sie. Als er das tat, schwebte eine Bücherwolke durch die dickflüssige Luft. Es gab Wörter und auch einzelne Buchstaben und sogar Satzzeichen. Sie wirbelten herum und ließen sich dann langsam um den Jungen herum nieder. Benny schüttelte die Kugel noch einmal und hielt sie sich dicht vors Gesicht. Ein Semikolon landete auf dem Tisch vor ihm, ein Punkt zu seinen Füßen.

»Jetzt versteck sie lieber«, sagte sie. »Du kannst sie dir ja ansehen, wenn niemand in der Nähe ist.«

Der Junge mit den Malstiften spuckte Andrew blaues, rotes und gelbes Wachs ins Gesicht. Der Pfleger rief Verstärkung. Benny steckte die Schneekugel neben sich in den Rollstuhl und bedeckte sie vorsichtshalber mit seinem Sweatshirt.

»Die Leute sind verrückt«, sagte das Aleph und beobachtete den Jungen.

Benny nickte. Sie stand auf.

»Ich muss jetzt los«, sagte sie. »Ich geh übrigens weg. Du wirst mich eine Weile nicht sehen.«

Er schaute sie an und öffnete den Mund, um zu protestieren. Warum? Das Wort krabbelte seine Kehle hinauf und starb dort. Tränen traten ihm in die Augen.

»Ich habe meine eigene Geschichte, Benny. Ich muss gesund werden. Genau wie du.«

Sie driftete davon, schwebte jetzt meilenweit über ihm, sah, wie eine Träne langsam über seine Wange rann. Sie streckte den Arm aus und berührte mit ihrem schmalen, farbbeklecksten Finger die zarte Stelle zwischen seinen Augenbrauen.

»Sei nicht traurig«, sagte sie und beugte sich vor, bis ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Mit der Zungenspitze leckte sie sanft die Träne von seiner Wange, und dann küsste sie ihn auf den Mund. Ihre Lippen waren so weich wie damals auf dem Berg, und ihre Zunge schmeckte salzig wie seine Träne. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, aber es war auch kein Kuss, den man seinem kleinen Bruder geben würde. Ihre Lippen verharrten kurz auf seinen, was ein bisschen sexy war. Aber dann packte Pfleger Andrew sie am Arm.

»Okay, okay«, sagte das Aleph zu ihm. »Entspann dich. Ich wollte sowieso gerade gehen.« Sie entwand sich seinem Griff und zog Bennys Murmel aus der Tasche ihrer Jeans. »Kann ich die behalten?«

Benny nickte. Sie steckte sie schnell wieder ein, dann beugte sie sich rasch über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich komm wieder. Ich vergess dich nicht, Benny Oh.«

87

»Es war ein verständlicher Fehler«, sagte Dr. Melanie. Sie brachte Bennys Akte im Computer auf den neuesten Stand, während Annabelle ihr gegenübersaß und ihr beim Tippen zusah. »Wir wissen, dass Benny schon öfter Wahnvorstellungen hatte. Er halluziniert. Gut, in diesem Fall nicht, Alice ist echt, aber …«

»Der Flaschenmann ist auch echt«, unterbrach Annabelle sie. »Er ist wirklich ein Obdachloser mit einer Beinprothese. Ich kann ihn herbringen und Ihnen vorstellen.«

»Nein, nein. Das ist nicht nötig. Ich glaube Ihnen.«

»Dann schreiben Sie das auf. Und Benny hat keine intravenösen Drogen genommen. Er hat noch nie irgendwelche Drogen genommen.«

»Natürlich nicht«, stimmte die Ärztin zu. »Die Blutuntersuchungen bestätigen das. Aber noch mal, Benny hatte Einstichstellen auf dem Unterarm, da kann man doch verstehen, dass die Polizei ihn mitnimmt.«

»Ich spreche nicht von der Polizei, sondern von Ihnen.«

»Wir haben alle nur unsere Sorgfaltspflicht wahrgenommen, Mrs. Oh, und Selbstverletzungen sind durchaus ernst zu nehmen.« Sie schrieb ihre Notiz zu Ende und scrollte durch die Akte. »Ich hatte eigentlich nicht vor, dieses Thema anzuschneiden, aber wie ich hörte, hatten Sie Besuch vom Jugendamt?«

Annabelle sah sie erschrocken an. »Woher wissen Sie das?«

»Dem Bericht der Sozialarbeiterin zufolge sind die Zustände bei Ihnen zu Hause äußerst ungünstig für Bennys körperliche und seelische Gesundheit. Hier ist die Rede von einem Messie-Syndrom …?«

»Ach das. Das hat mit dem Archiv zu tun, das ich für meine Arbeit angelegt hatte. Die Firma wollte das so, aber inzwischen hab ich viel davon entsorgt …«

Die Ärztin beugte sich näher zum Bildschirm. »Sie spricht von einer Brandgefahr. « Sie sah Annabelle an. »Sie haben also aufgeräumt? Und das hat gut geklappt?«

»Ja, doch. Ein paar Freunde sind vorbeigekommen und haben mir geholfen.«

»Und Ihre Arbeit? Ich habe mir vor einigen Monaten notiert, dass Sie Angst hatten, die Firma würde Ihnen kündigen.«

Annabelle nickte. »Ja, das stimmt.« Warum hatte sie der Ärztin das überhaupt erzählt? Das kam davon, wenn man keine richtigen Freunde hatte, denen man was anvertrauen konnte.

»Und …?«

Es hatte keinen Sinn, zu lügen. »Na ja, das ist auch passiert, aber ich bin trotzdem noch krankenversichert. Das ist also kein Problem. Ich kann Bennys Behandlung bezahlen. Außerdem hab ich mich auf andere Jobs beworben.« Das stimmte zwar so nicht, aber sie hatte zumindest darüber nachgedacht. Sie hatte überlegt, sich bei Michaels als Verkäuferin zu bewerben. Sie kannte deren Warenbestand in- und auswendig, und die Frauen, die dort arbeiteten, machten einen netten Eindruck.

»Ich sehe gerade, es liegt ein Räumungsbescheid vor …«

»Das steht da drin?«

»So etwas ist den Behörden bekannt. Die Sozialarbeiterin hat sich informiert. Sie ist nur ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen. Sie empfiehlt außerdem, dass Sie sich psychologische Hilfe suchen, was ich Ihnen ebenfalls schon öfter geraten habe. Haben Sie schon jemanden gefunden?«

»Nein, noch nicht. Ich war zu sehr mit Aufräumen beschäftigt.«

Dr. M. machte sich einen weiteren Vermerk. Annabelle sah ihr zu. Sie trug heute dunkelroten Nagellack, der aussah wie getrocknetes Blut. Sie konnte schnell tippen, obwohl sie nur drei Finger jeder Hand benutzte. Wie konnte man eigentlich Arzt werden, ohne blindschreiben zu können? Lernte man das denn nicht im Medizinstudium?

»Mrs. Oh?«

»Ja?«

»Ich weiß, es ist schwierig für Sie, aber hören Sie mir bitte zu. In dem Bericht heißt es, dass das Jugendamt empfiehlt, Ihnen das Sorgerecht zu entziehen, wenn Sie Ihr Zuhause nicht in einen akzeptablen Zustand bringen. Aufgrund dieser Empfehlung glauben wir alle, dass es einfacher für Benny wäre, wenn er gar nicht erst wieder nach Hause käme. Wir müssen vor allem Bennys Wohl im Auge behalten.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, zunächst käme er in eine Betreuungseinrichtung und von dort, wenn möglich, in eine Pflegefamilie, sofern sich Ihre Lebensumstände nicht verbessert haben.«

»Aber unsere Lebensumstände haben sich verbessert! Die Frau vom Jugendamt hat es nur noch nicht gesehen. Sagen Sie ihr, dass sie kommen und es sich ansehen soll!«

»Und was ist mit dem Räumungsbescheid? Und Ihrer Arbeitssituation? Sie haben wirklich viel um die Ohren, Annabelle. Ich darf sie doch Annabelle nennen, oder? Und ehrlich gesagt mache ich mir auch Sorgen um Ihr seelisches Gleichgewicht. Meinen Sie nicht, es wäre besser für Benny, wenn er zwischenzeitlich woanders unterkäme, bis Sie eine neue Stelle gefunden haben und sich ihre häusliche Situation entspannt hat? Suchen Sie sich Hilfe, kommen Sie erst mal wieder auf die Beine!«

»Nein!«, rief Annabelle und hievte sich aus dem Stuhl hoch. Ihre Wangen waren gerötet; sie machte einen Schritt auf den Schreibtisch der Ärztin zu. »Das können Sie nicht machen! Sie können ihn mir nicht einfach wegnehmen! Ich bin schließlich seine Mutter!« Sie zitterte am ganzen Körper, und ihre Stimme war schrill. Sie machte noch einen Schritt. »Ich nehme ihn jetzt sofort mit nach Hause!«

»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Annabelle.« Sie griff nach dem Telefonhörer.

»Was meinen Sie damit, dass es nicht möglich ist?«, rief Annabelle. Sie beugte sich über den Schreibtisch der Ärztin. »Er ist mein Sohn

»Bitte, Mrs. Oh, Sie müssen sich wieder hinsetzen.«

»Und Sie müssen dafür sorgen, dass ich Benny sofort mitnehmen kann!«

Da hörte sie ein Geräusch hinter sich. In der Tür standen zwei Pfleger.

»Mrs. Oh«, sagte Dr. Melanie. »Annabelle. Es tut mir leid, wirklich. Aber das steht nicht in unserer Macht. Das ist jetzt Sache des Gerichts.«