KAPITEL 12
„Gemma? Was machst du denn hier?“ Devlins Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Ich … äh …“ Einen Augenblick lang war ich versucht zu lügen, doch dann bemerkte ich das stahlharte Glitzern in seinen Augen und wusste, er würde mir nichts außer der Wahrheit abnehmen.
„Ein kleines bisschen ermitteln“, gab ich zu. „Ich … war neugierig, was die Sache mit Sarah Waltham betrifft, und da ich heute nicht arbeite und gerade in der Stadt war, dachte ich …“
„Da dachtest du, du kommst hier unter einem Vorwand herein und erschleichst dir ein paar Informationen?“
„Erschlichen habe ich mir nichts!“, erwiderte ich sauer. Dann zuckte ich zusammen. „Okay, ein ganz kleines bisschen vielleicht. Aber hast du nicht immer gesagt, dass der Zweck manchmal die Mittel heiligt?
Schweigend musterte er mich eine Weile. „Ja, früher habe ich das gesagt. Und wenn ich mich recht erinnere, hast du mir immer heftig widersprochen.“
„Ja, ähm … vielleicht habe ich acht Jahre später meine Meinung geändert.“
„Ach, sag bloß. Gibst du gerade zu, dass ich schon immer recht hatte?“ Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.
„Gar nichts gebe ich zu. Ich sage lediglich, dass dein Ansatz eventuell seine Berechtigung hat. Warum vergeuden wir überhaupt Zeit mit dieser Diskussion? Du hast doch viel zu tun, wie ich sehe, da lass ich dich mal weitermachen.“ Ich versuchte, mich an ihm vorbeizudrängeln.
„Nicht so schnell.“ Devlin griff nach meinem Handgelenk.
Die Berührung seiner Finger verursachte mir ein Kribbeln, und ich schnappte nach Luft. Hatte er das auch gespürt? Ich verharrte auf der Stufe und starrte ihm in die Augen, bis ich schließlich mit einem Ruck mein Handgelenk befreite und eine Stufe weiter nach unten trat, weg von ihm. Diesmal versuchte er nicht, mich zurückzuhalten.
„Gemma“, sagte er mit einem Seufzen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Eine dunkle Locke fiel ihm keck über die Augen.
Der Anblick erinnerte mich daran, wie er früher als Student sein Haar getragen hatte und wie oft ich ihm diese Haarsträhne wieder aus der Stirn gestrichen hatte. Die Hände neben dem Körper zu Fäusten geballt, zwang ich mich wegzuschauen.
„Ich weiß, dass deine Neugier ganz natürlich ist, aber du musst das lassen“, sagte Devlin. „Das ist eine Mordermittlung. Du kannst nicht einfach rumlaufen, Fragen stellen und womöglich Zeugen beeinflussen.“
„Wie soll ich denn Zeugen beeinflussen?“, fragte ich empört.
„Indem du Suggestivfragen stellst. Wenn dann die Polizei auftaucht und sie vernimmt, haben sie womöglich schon deine Theorien im Kopf.“
„Ich habe doch nur ein paar harmlose Fragen über Sarah und Fiona gestellt. Und dabei nichts erwähnt, was man nicht aus öffentlichen Quellen wie den Abendnachrichten wissen kann. Da habe ich aufgepasst.“
Devlin stöhnte genervt. „Seit wann interessierst du dich dafür, Amateurdetektivin zu spielen? Ich meine, es ist schon schlimm genug mit Mabel Cooke und ihren Freundinnen, die sich für Klone von Miss Marple halten, auch ohne dass du mitmischst! Kannst du das nicht einfach den Profis überlassen? Du verfügst nicht über dieselben Ressourcen und Befugnisse wie die Polizei, und daher fehlt dir auch der entscheidende Vorteil, den man braucht, um den Fall zu lösen.“
„Beim letzten Fall habe ich mich gar nicht so schlecht angestellt“, betonte ich. „Falls du das vergessen hast, ich war diejenige, die die meisten Antworten gefunden, falsche Alibis aufgedeckt und schließlich den Mörder entlarvt hat.“
Devlin zögerte, dann neigte er zustimmend den Kopf. „In Ordnung. Du hast recht, beim letzten Mal warst du echt eine Hilfe, und ich muss zugeben, dass du viele Fragen bei diesem Fall gelöst hast – davon kann aber vieles Anfängerglück gewesen sein. Das macht dich noch nicht zu Sherlock Holmes.“
Ich warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Du redest hier die ganze Zeit über die Vorteile der Polizei und all ihre Ressourcen, aber Intuition, und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen zu können, ist genauso nützlich. Ich kenne mich in der Universität aus – ich hab hier auch mal studiert –, und Insiderwissen ist mein Vorteil. Mit mir sprechen die Leute.“
„Die Leute?“ Devlin blickte zu den Studios, dann wieder zu mir. „Was haben die denn gesagt?“
Mit erhobenem Kopf antwortete ich: „Warum sollte ich dir das erzählen, wo du doch so viele Ressourcen und Befugnisse hast, dass du das genauso gut selbst rausfinden kannst?“
Nach kurzem Nachdenken seufzte er und strich sich wieder mit der Hand die Haare zurück. „Gut. Sag mir, was du rausgefunden hast, und ich werde dich nicht wegen Behinderung der Ermittlungen anzeigen.“
„Oh nein.“ Ich verschränkte die Arme. „Ich teile die Informationen gerne mit dir, aber nur mit Gegenleistung. Zeig du mir deins, dann zeig ich dir meins.“ Ich verstummte und wurde rot, als mir klar wurde, wie diese Redewendung klingen musste.
Amüsiert zog Devlin eine Augenbraue hoch. „Diese Gegenleistung könnte mir gefallen …“
Mürrisch erwiderte ich: „Du weißt, was ich meine.“
Plötzlich lachte er ein tiefes, wohlklingendes Lachen. „Du bist genauso stur wie immer.“ Er stieß den Atem durch die Zähne aus. „Okay, abgemacht. Aber nicht hier. Hast du Lust auf Mittagessen?“
Mit einem Blick auf meine Armbanduhr stellte ich fest, dass es schon fast Mittag war, und da bemerkte ich auch das leise Knurren meines Magens.
„Gerne.“ Ich ging voran die Treppe hinunter.
Wir traten auf die High Street hinaus. Es war ein kühler Wintertag, und der schwache Sonnenschein kämpfte sich gerade durch eine graue Wolkenwand. Ein schneidender Wind fegte die Straße entlang. Ich fröstelte und zog den Kragen meines Dufflecoats höher. Devlin hatte zwar keinen Mantel an, aber sein anthrazitgrauer Anzug aus feiner Kaschmirwolle bot ihm ausreichend Schutz. Sein dunkles Haar wurde vom Wind zerzaust, und er kniff die Augen zusammen, aber ansonsten schien ihm die Kälte nichts auszumachen. Vermutlich ist er dank seiner keltischen Wurzeln ein zäher Bursche, dachte ich.
„Wollen wir zur Turf Tavern?“, fragte er und deutete zur anderen Straßenseite.
Ich nickte und folgte ihm. Wir überquerten den Radcliffe Square und liefen an der Radcliffe Camera und anderen Gebäuden vorbei, die zur Bodleian Library gehörten. Hinter dem Hertford College mit der bekannten Seufzerbrücke bogen wir in eine kleine schmale Gasse ein, die St Helen’s Passage. Der ursprüngliche Name gefiel mir allerdings besser: „Hell’s Passage“ – Übergang zur Hölle. Schließlich standen wir in einem winzigen Innenhof mitten auf dem Universitätsgelände.
Hier befand sich das Juwel mit dem Namen „Turf Tavern“. Früher war die Kneipe nur bei Studenten und Einheimischen bekannt gewesen – und wenigen Touristen, die zufällig auf dieses Geheimnis gestoßen waren. Die Turf Tavern lag in einem historischen Gebäude mit niedrigen Decken aus dem 13. Jahrhundert im Schatten der alten Stadtmauern. Gerüchte besagten, dass sie wegen der illegalen Aktivitäten der ehemaligen Inhaber direkt außerhalb der Stadtgrenze erbaut worden war.
Als wir den Pub durch die enge Eingangstür betraten, musste Devlin sich wegen der niedrigen Decke tief bücken. Der Raum wirkte rustikal – Steinwände, offenes Fachwerk, Sprossenfenster und dunkle Holzmöbel. An der Bar, die die Größe einer Telefonzelle hatte, wurde eine erstaunlich große Auswahl von Bieren und Getränken ausgeschenkt. Ich fand einen freien Tisch beim Fenster, während sich Devlin um Essen und Getränke kümmerte. Es war zu kalt heute, um draußen zu sitzen, auch wenn die Touristen im Innenhof wegen der malerischen Biergartenatmosphäre dem Wetter trotzten.
Träge beobachtete ich sie durch die Fensterscheibe. Es war schon komisch, wie eifrig sie das Gasthaus fotografierten. Als Studentin hatte ich das Turf für selbstverständlich gehalten. Es war nur eine der vielen Kneipen, die ich mit meinen Freunden besucht hatte. Doch jetzt, nachdem ich die letzten acht Jahre in einem so jungen Land wie Australien gelebt hatte, in dem es an historischer Architektur mangelte, hatte ich das Idyllische und den „Alte-Welt-Charme“ von England neu schätzen gelernt.
„Bitte.“ Devlin stellte eine dampfende Tasse vor mir ab. „Ich dachte, du magst bestimmt was Heißes trinken. Essen kommt auch gleich.“
Dankbar schloss ich meine Hände um die Tasse und konnte spüren, wie die Wärme in meine kalten Finger zurückströmte. Ich hob den Becher an die Lippen und atmete den Duft nach Zimt, Zitrone und Gewürzen ein.
„Glühwein!“, rief ich freudig überrascht.
Grinsend ließ er sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder. „Ich wusste noch, dass du das Zeug früher so gerne mochtest. Alkohol hast du nie getrunken, außer wenn das Ganze widerlich süß schmeckte.“
Ich war gerührt, dass er sich daran noch erinnern konnte, und nahm einen Schluck von dem würzigen Getränk. Es glitt durch meine Kehle und wärmte mich bis in mein tiefstes Innerstes.
„Hat dir das Konzert gestern Abend gefallen?“, fragte er unvermittelt.
„Ja, danke“, antwortete ich knapp.
„Lincoln ist also ein Freund der Familie …?“, erkundigte er sich beiläufig, aber ich sah das Interesse in seinen Augen aufblitzen.
„Ja, Lincolns Mutter Helen ist die beste Freundin meiner Mutter seit Kindertagen, und wir verbrachten als Kinder viel Zeit miteinander. Dann ging Lincoln ans Imperial College in London und studierte dort Medizin. Er ist gerade erst nach Oxford zurückgekehrt, und meine Mutter meinte, ein Wiedersehen zwischen uns wäre nett …“
„Machst du immer noch, was deine Mutter sagt, wie ein braves kleines Mädchen?“
Vor Ärger über seinen Ton lief ich rot an. „Zufällig mag ich Lincoln, er ist ein netter Kerl. Sonst hätte ich seine Einladung nicht angenommen, unabhängig davon, was meine Mutter will.“
„Das ist schön, dass du dir in acht Jahren ein wenig Rückgrat zugelegt hast“, stichelte Devlin.
Ich atmete tief ein und war entschlossen, mich nicht von ihm provozieren zu lassen. Er hatte Grund genug zur Bitterkeit. Vor acht Jahren hatte Devlin sich ein Herz gefasst und mir einen Heiratsantrag gemacht. Doch ich war jung, naiv und unsicher gewesen und hatte schließlich dem Druck von Freunden und Familie nachgegeben. Besonders meine Mutter hatte Devlin wegen seiner Herkunft aus der Arbeiterschicht missbilligt.
Letzten Endes hatte ich Nein gesagt, was Devlin mir nie verziehen hatte.
Weniger, weil ich ihm einen Korb gegeben hatte, sondern weil ich meinen eigenen Gefühlen nicht getraut hatte. Ich bin überzeugt, Devlin hätte mich nicht so sehr gehasst, wenn ich ihn nicht genug geliebt hätte und deshalb seinen Antrag abgelehnt hätte. Er war wütend, weil ich andere über mein Leben entscheiden und meine Entschlüsse beeinflussen ließ.
Ich sah im Geiste alles noch vor mir, was an diesem schrecklichen Tag passiert war: Wie er mich voller Geringschätzung und Enttäuschung angeblickt hatte, ehe er auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und gegangen war. Eigentlich hatte ich ihm nachlaufen, ihn bitten wollen, zu mir zurückzukommen, mir noch eine zweite Chance zu geben … stattdessen hatte ich wie betäubt dagestanden und zugeschaut, wie er aus meinem Leben verschwand. Ich war zu schwach gewesen, hatte es anderen recht machen wollen, hatte Angst gehabt, meinen Gefühlen zu trauen. Einer der Gründe, warum ich auf das Graduiertenprogramm in Sydney sofort angesprungen war, war, dass ich den schmerzlichen Erinnerungen an Oxford hatte entfliehen wollen.
Acht Jahre später war ich jetzt also wieder zurück. Und Devlin auch. Was machten wir jetzt daraus? Innerlich schüttelte ich den Kopf über mich. Das hier führte nirgendwohin. Vor allem nach dem letzten Mordfall hatte ich gedacht, dass wir vielleicht noch eine Chance auf einen Neubeginn hätten. Es schien mir, als hätte Devlin angedeutet, dass er noch Gefühle für mich hatte. Und ich musste zugeben, dass ich tief in mir auch noch etwas für ihn spürte. Aber er hatte bisher nichts weiter unternommen. In all den Wochen, die seitdem vergangen waren, hatte er mich nicht ein Mal angerufen.
Okay, okay, ich weiß wohl, dass wir im 21. Jahrhundert leben und ich eine emanzipierte, moderne Frau bin. Ich muss nicht warten, bis der Mann mich anruft. Und doch tat ich genau das, wollte, dass er den ersten Schritt machte. Aus Stolz, vermutete ich.
Vielleicht ging es ihm auch so. Das konnte ich ihm kaum zum Vorwurf machen. So, wie ich ihn vor acht Jahren enttäuscht hatte, war es wohl keine Überraschung, dass Devlin nicht wieder als Erster seine Gefühle offenbaren wollte.
Und so endeten wir wie immer, so schien es, in einer Sackgasse .
Devlin räusperte sich. „Es tut mir leid, Gemma, das war unpassend“, erklärte er leise. „Ich weiß nicht, was eben in mich gefahren ist. Es ist dein gutes Recht, zu hören, auf wen auch immer du willst. Und mit deinem Leben das anzufangen, was du dir wünschst. Mich geht das gar nichts an.“
Ich hob den Kopf und sah in diese blauen Augen, und beinahe hätte ich ihm mein Herz ausgeschüttet, aber aus irgendeinem Grund brachte ich die Worte nicht heraus. Ich sagte nur: „Macht nichts, das ist unwichtig. Konzentrieren wir uns auf den Mord.“
Seine Augen zeigten mir, wie er wieder dichtmachte, seine Miene wurde unnahbar und professionell. Der kühle, entschlossene Detective übernahm ab hier.
„Warum berichtest du mir nicht, was du herausgefunden hast?“, schlug Devlin vor.