Der Tag der Mondlandung

Im Sommer 1969 machte sich mein Bruder Harold beim Basketballspiel das Knie kaputt. Eine Weile musste er an Krücken gehen, danach mit dem Spazierstock meines kurz zuvor gestorbenen Großvaters und schließlich mit deutlichem Hinken, das langsam nachließ, bis alle in der Familie außer mir den Eindruck hatten, er sei ganz wiederhergestellt.

Im Juli dieses Jahres – es war der Sommer der Mondlandung, der Sommer, als ich davon träumte, für die Lakers zu spielen, Jerry West oder Elgin Baylor zu sein – zog unsere Familie von Seaside, Oregon, wo meine Eltern ein kleines, immer sandiges Motel betrieben, in eine neu entstehende Wohnsiedlung im Norden Seattles. Viele der Häuser waren noch unfertig, manche Bauvorhaben nur bis zum Ausschachten eines gähnenden Kraterlochs oder bis zur Errichtung des Fundaments gediehen, manchmal waren die Mauern schon hochgezogen, aber das Dach fehlte, es gab auch Häuser mit halb fertigen Installationsarbeiten, aber noch ohne Strom, oder umgekehrt. Die Häuserzeile auf unserer Seite des Blocks wirkte auf mich wie ein ausdrucksvoller Fries über das Wuchern der Städte. Ich war dreizehn, und wenn ich in diesen unfertigen Häusern herumstrich, empfand ich die beunruhigende Sicherheit, so viele Verstecke zu haben, als könnte ich auf die dunklen Winkel dieser halb fertigen, leblosen Häuser in Zeiten tiefster Not zählen – wenn das Wasser vergiftet war, gestaltlose Feinde auftauchten, Wasserstoffbomben aus dem Himmel über Seattle fielen. Aus irgendeinem Grunde schienen mir diese Katastrophen nahe bevorzustehen.

Auf der Fahrt von Seaside saß ich auf der Rückbank unseres Bel Air und hörte zu, wie Harold die Namen aller Präsidenten bis zum gegenwärtigen, Richard Milhous Nixon, in der richtigen Reihenfolge aufsagte. Dass er das konnte, hatte für mich etwas vage Irritierendes. Als wir noch an Sommernachmittagen Motelzimmer geputzt hatten, war manchmal zu hören gewesen, wie er die Namen der Präsidenten leise vor sich hin murmelte. Damals trieb er mich immer an, damit wir schneller fertig würden. Heute ist Harold Kinderarzt, ein Mann von fünfunddreißig Jahren. Er spricht mit leiser Stimme, und er ist sehr mager und hat das schmale Gesicht eines Auschwitz-Überlebenden – er sieht aus wie eine dieser ausgezehrten Gestalten, die einen von Schwarz-Weiß-Fotos des Holocaust anstarren, als wollten sie sagen: Ich lebe noch, aber nur knapp. Ich denke manchmal darüber nach, wie es für Kinder sein muss, wenn Harold ihnen auf dem schmalen Brustkorb herumklopft – ob dieser Erwachsene Angst oder Vertrauen in ihnen erweckt, ob seine Hände Zuversicht vermitteln oder nicht. Er hat nie geheiratet. Mit fünfzehn, in dem Sommer, als er sich das Knie verletzte, war er in Spielen aller Art enorm ehrgeizig, aggressiv, er konnte nicht verlieren. In seiner sehnigen, entschlossenen Art war er ein adrenalingetriebener Wirbelwind und in jedem Sport praktisch unschlagbar.

Während Harold neben mir auf dem Rücksitz Präsidentennamen aufsagte, betrachtete ich gespannt die vorüberziehende Landschaft. Ich traute meinem Vater als Autofahrer nicht viel zu und hatte Angst, dass er uns nicht sicher nach Seattle bringen würde. Ich hatte gesehen, wie ungeschickt er den U-Haul-Anhänger angekuppelt hatte, der jetzt als schwerer Schatten hinter uns herflog, in seinem dunklen, übelriechenden Inneren unser ganzer Besitz. Meine Mutter, die nackten Füße über dem Handschuhfach aufgestützt, Strohhut in die Stirn gezogen, das dichte Haar zum Zopf geflochten, Sonnenbrille auf der Nase, las die Woman’s Day; mein Vater hörte im immer leiser werdenden Radio des Bel Air eine Reportage von einem Spiel der Pacific Coast League – Portland gegen Spokane? Portland gegen Tacoma? –, ein Zeigefinger lag unten auf dem Steuerrad, der geschorene Nacken direkt vor mir war sonnenverbrannt und gesprenkelt mit kleinen blassen Flecken. Er trug das Haar kurz geschnitten, und es war ausgiebig mit Brylcreem bearbeitet; er hatte ein buntbedrucktes Hawaiihemd und seine Badehose an, die entspannten Oberschenkel hoben sich nackt und bleich vom Sitzpolster ab. Er hatte die Angewohnheit, beim Fahren in der Nase zu bohren und in entscheidenden Momenten des Baseballspiels das Radio auf ohrenbetäubende Lautstärke zu drehen. In solchen Augenblicken verstummte Harold.

»Zwanzig Fragen«, sagte unser Vater kurz vor Astoria, weil er den Eindruck hatte, wir langweilten uns. »Mal sehen, wer von euch es rauskriegt, okay?«

»Männlich?«, fragte Harold.

»Ja.«

»Vor neunzehnhundert?«

»Jawoll.«

»Amerikaner?«

»Richtig.«

»Ein Präsident?«

»Richtig.«

»Abraham Lincoln?«

»Nein.«

»George Washington?«

»Genau.«

Harold klatschte in die Hände. »Mit sechs Fragen«, sagte er. »Hast du das gehört, Mom? Mit sechs hatte ich’s.«

»Sehr gut«, sagte unsere Mutter.

Und so flogen wir nach Norden, in unserer Blechkiste auf Rädern, unsere Habe hinter uns herziehend. Wir wussten alle, wie bedeutsam diese Reise war. Als meine Großmutter im Frühjahr bei einer Herzoperation gestorben war, erbte meine Mutter eine bescheidene Summe, und von diesem Geld bestritten meine Eltern die Anzahlung auf das Haus in Seattle. Sie sehnten sich beide nach einem Neuanfang in der Stadt, nach dem Leben, von dem sie seit vielen Jahren gesprochen hatten. In Seaside waren sie es allmählich leid gewesen, immer wieder mit dem Staubsauger den Sand aus verdreckten Motelzimmern herauszuholen, während der Pazifikwind Falten in ihre Gesichter grub und sie vor der Zeit altern ließ. Sie hatten frei sein wollen von diesem Wind und Sand und den leeren Weinflaschen auf Nachttischen und frei von dem Zwang, wie Gäste im Büroapartment des Motels leben zu müssen, während unaufhörlich Fremde kamen und gingen und immer einen Schweinestall hinterließen, den man beseitigen musste, damit andere nachkommen, alles sauber vorfinden und es wieder verwüsten konnten, wie es ihnen passte. Die beiden waren müde und wollten in einer Umgebung sein, wo sie keine Dreckarbeit machen mussten und wo die Familie meiner Mutter wohnte; sie nahmen selbstverständlich an, dass sie mit dem Umzug in diese neue Umgebung alles Unerwünschte hinter sich lassen konnten, und sie hielten in den folgenden Jahren beharrlich an der Überzeugung fest, dass sie jederzeit wieder umziehen konnten, falls das Leben in Seattle ihnen auch nicht gefiel. Wir alle glaubten das; und viele andere Menschen glaubten es auch. In meinen Eltern hatte dieser Glaube tiefe Wurzeln geschlagen und gab ihnen auch in schlechten Zeiten Hoffnung.

Wir überquerten in unserem Bel Air den Columbia in seiner ganzen graugrünen Breite. Wir fuhren durch Megler, Naselle, Raymond, Artic, Melbourne, Montesano, Elma. Und als die Fahrt mühsamer und die Städte fremder wurden, verstummten wir alle nach und nach und versanken jeder in seinen eigenen Empfindungen, denen man auf dem Weg zu einem neuen Heim nachhängt. Wir sahen zu, wie die Welt draußen vor unseren Fenstern vorbeiflog, fremder und seltsamer werdend, aber lockend.

* * *

Es war der Tag, bevor Neil Armstrong den Mond betrat – angeblich zum Nutzen der ganzen Menschheit –, als meine Familie in Seattle ankam. Mein Vater, den Ellbogen im offenen Fenster des Bel Air, gab einen laufenden Kommentar von sich: »Space Needle«, sagte er im Vorbeifahren.

»Das Gelände der Weltausstellung von 1962 … Da drüben das Husky Stadion … dort hinten links der Green Lake.« Mit einiger Mühe manövrierte er sich nach der Abfahrt von der Fernstraße durch die Stadt, unser Anhänger schlingerte hinterher. Eine Weile rumpelten wir über eine breite Allee, dann über schmalere, neuere Straßen, an Reihen beschaulicher Bungalows entlang, schließlich fuhren wir an einem beklemmenden, fast zubetonierten Stadtpark vorbei. »Seht ihr das Basketballfeld?«, sagte mein Vater stolz. »Abends machen die hier sogar Licht an. Das Netz ist aus Maschendraht. Und euer neues Haus ist nur drei Blöcke von hier.«

Harold und ich sahen beide hin; oder besser gesagt, ich blickte in Harolds Gesicht, während er, dem Hinweis meines Vaters folgend, durchs Fenster auf das Basketballfeld schaute.

»Sieht gut aus«, stellte er fest.

Im Winter zuvor in Seaside hatten wir auf dem Hof der Grundschule gestanden und zusammen Tausende von Freiwürfen geübt, immer abwechselnd, der Atem kam uns in Wolken aus dem Mund. Mein Bruder hatte seinen Wurf von der Bauchmitte aus angesetzt, mit offenem Mund und angelegten Ellbogen, vollkommen auf den inneren Rhythmus seines Körpers vertrauend, der ihm im richtigen Moment erlauben würde, den Ball fliegen zu lassen. Darin lag Schönheit, das sehe ich jetzt. An einem Nachmittag – der Schnee war beiseitegeschaufelt, sodass eine Bahn bis zum Korb frei war, und von den Dachtraufen des Schulhauses hingen Eiszapfen – schaffte er 96 Treffer hintereinander, ohne ein Wort, mit glasigen Augen und kältestarren Fingern. Sein Rhythmus war exakt, tadellos, aber voll nervöser Anspannung. Diese Basketballminuten in der Kälte waren erfüllt von einer tiefen Angst, den nächsten Treffer nicht zu schaffen. An dem Nachmittag gab ich es auf, selbst zu werfen, und wurde sein persönlicher Rebounder. Ich spürte seinen Rhythmus genau und reagierte darauf mit einer Präzision, die niemand sonst aufbringen konnte. Zwischen uns gab es eine unausgesprochene Abmachung: Ich musste merken, wie und wann er den Ball in seinen Händen brauchte, wann der Ball bei ihm ankommen und wie weich er ihm zugespielt werden musste, und er warf den Ball dann in den Korb.

In dieser Rollenverteilung schafften wir es – zusammen – zum Oregon Free Throw Wettbewerb von 1969. Der Name meines Bruders erschien in den Zeitungen von Portland. Ein Reporter vom Oregonian schrieb: »Fünfundzwanzig von fünfundzwanzig im Halbfinale: stahlharte Perfektion mit fünfzehn.« Im Finale, das in der Halbzeit eines Spieles der Universität Portland stattfand, verwarf er sich nur einmal, weil ich ihm den Ball falsch zuspielte: Es war sein letzter Versuch, nachdem vierundzwanzig Bälle hintereinander tadellos durch das Netz geglitten waren. Diesmal prallte der Ball vom Ring ab, stieg steil hoch und verschwand hinter dem Brett – verrückt, peinlich, die Zuschauer stöhnten auf. Er gewann trotzdem, und seine Siegestrophäe stand noch viele Jahre danach auf einem Bücherregal im Haus unserer Familie.

Während ich ihn bei seiner eingehenden Musterung des Spielfeldes in der Nähe unseres neuen Hauses beobachtete, fragte ich mich, ob er hier auch Freiwürfe üben, ob er dasselbe noch einmal machen würde. Vielleicht hatte Oregon ihm nicht gereicht; vielleicht brauchte er auch noch Washington State.

Als wir endlich in die Straße mit unserem neuen Haus einbogen, warfen sich zwei Jungen auf der Straße einen Baseball zu. Die Umgebung mit ihren halb fertigen Häusern wirkte wie ein Kriegsgebiet. Männer ohne Hemd deckten das Dach eines Hauses, ein Zementmischer drehte sich und goss Beton für eine Auffahrt. Der Boden sah schrundig und aufgerissen aus – als ob jemand dabei wäre, die Erde in unvorstellbar gigantischem Ausmaß zu erneuern. Bulldozer hatten unsere Straße aus einer mit Sträuchern bewachsenen Landschaft herausgeschnitten, um Platz für genau achtzehn Häuser zu schaffen. Am Ende würden alle zum Verwechseln ähnlich aussehen. Das säuberlich gepflegte, quadratische Rasenstück, gesäumt von Gartenleuchten, die sich bei Anbruch der Abenddämmerung anschalteten, vor den zweistöckigen Fassaden der Häuser, die wie trostlose, verlegen starrende Gesichter über einer Fensterbank aus Erde wirkten. An Sommerabenden konnte man die Silhouetten von Männern beim Rasenmähen oder Autowaschen sehen, aber niemand kannte seine Nachbarn. Die Straße vermittelte auf unbestimmte Weise ein Bedürfnis nach Distanz, und deshalb war am ersten Tag – als es eigentlich noch keine Nachbarschaft gab – niemand da, uns zu begrüßen. Aber selbst wenn schon Nachbarn da gewesen wären, hätten sie uns wohl kaum begrüßt. Und auch wir begrüßten jene nicht, die uns dorthin folgten. Jeder dort lebte in der unausgesprochenen Überzeugung, dass der Nachbar unausweichlich weiterziehen würde.

Mein Vater bog vorsichtig in die Einfahrt unseres neuen Hauses ein. »Da wären wir, Leute«, sagte er. Aufgeregt stiegen wir aus; meine Mutter brachte einen Schlüssel zum Vorschein, den sie an einer Kette um den Hals getragen hatte, und schloss feierlich die Haustür auf. Dann wanderten wir miteinander durch die leeren Räume; alles war neu und frisch, und dieser Anblick löste beinahe Ehrfurcht in uns aus. »Fasst bloß nicht die Wände an«, sagte meine Mutter. Unsere Stimmen hallten in den leeren, frisch gestrichenen Zimmern wider, ein fremder, beunruhigender Klang. Erstaunt blieben wir an der Schwelle zu unserem Esszimmer stehen. Eine Lüsterimitation, behangen mit seltsamen Rhomben aus geschliffenem Glas, hing an einer Kette von der Decke. Im Bad waren zwei Waschbecken in die Kachelwand eingelassen; die Türen des Spiegelschränkchens hatten verchromte Scharniere, und die Regale glänzten von Leinöl. Wir inspizierten zusammen die Küche. Meine Mutter setzte den Müllzerkleinerer in Gang, mein Vater schob den Messingriegel vor die vierflügelige Tür. Wir bewunderten die Unterschränke, die Fensterbretter, die Hängeschränke. Es hatte den Anschein, als habe man für uns ein Miniaturreich geschaffen und mit Zäunen und säuberlichen Steineinfassungen umgrenzt, um jene andere Welt aus Wind und Sand auszuschließen, aus der wir gerade erst zusammen aufgetaucht waren.

»Wir müssen das feiern«, kündigte mein Vater an. »Erst mal bringen wir alles rein, dann essen wir, dann feiern wir.«

Er nahm meine Mutter vor der Spüle in die Arme, hob sie hoch und wirbelte mit ihr im Kreis herum, dass ihre Fersen flogen. »Ich hätte dich über die Schwelle tragen sollen«, sagte er fingerschnipsend. »Wie konnte ich das vergessen?«

»Noch ist es nicht zu spät«, sagte meine Mutter.

Natürlich trug er sie dann über die Schwelle. In dem Augenblick muss er das Gefühl gehabt haben, das Leben, von dem er geträumt hatte, sei in greifbare Nähe gerückt. Wie hätte er auch wissen sollen, was auf ihn zukommen würde? Dass meine Mutter zwölf Jahre später an einem Lymphom sterben würde? Dass sie das neue Haus schon fünf Jahre später wieder verkaufen würden? Dass er im Krankenhaus bei ihr sitzen und nur noch das Ende herbeiwünschen würde?

In der ersten Nacht hatten wir noch keine Betten, deshalb schliefen Harold und ich auf dem Fußboden im Wohnzimmer – besser gesagt, wir schliefen nicht, weil die Umgebung zu fremd, das Haus von den Giftdämpfen der trocknenden Farbe durchtränkt, die Nacht zu schwül, zu windstill war. Harold und ich hatten immer in einem Zimmer geschlafen, und ich hatte selbstverständlich angenommen, dass es dabei bleiben würde. Aber jetzt fiel mir ein, dass das nicht unbedingt so sein müsse. Im neuen Haus gab es für jeden ein eigenes Schlafzimmer.

»Meinst du, dass alles anders wird?«, fragte ich.

»Manches wird anders«, sagte Harold. »Mit Sicherheit.«

»Und was?«, fragte ich. »Zum Beispiel?«

Harold drehte sich neben mir auf den Rücken. Wir hatten uns bis auf die Unterwäsche ausgezogen und lagen da, die Augen zur Zimmerdecke gerichtet, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, sodass die Ellbogen wie Flügel abstanden. Der Lichtschein von einer Straßenlaterne sammelte sich im Fenster, streifte Harolds Brustkasten und fiel auf die noch makellose Faserplattenwand. »Vieles«, antwortete er. »Ich weiß nicht.«

»Ich bin froh, dass ich ein eigenes Zimmer krieg«, sagte ich.

»Dann kann ich tun, was ich will.«

Eine Zeit lang schwiegen wir. Es war das Schweigen, das oft nach einer Beleidigung eintritt, dann, wenn niemand genau weiß, was das Schweigen bedeutet – eine nervöse Pause, sogar zwischen Brüdern.

»Das ist in Ordnung«, sagte Harold nach einer Weile. »In Ordnung.«

»Das lässt sich nicht ändern«, erklärte ich ihm. »Also dann

Nach einer Weile schlief er ein. Ich nicht. Ich konnte nie so gut schlafen wie Harold, und noch heute liege ich oft in einem unruhigen Wachzustand, wenn andere längst in der Welt der Träume sind.

* * *

Es war am Tag der Mondlandung, ein Ereignis, das uns noch ferner zu liegen schien als der Mond selbst; während Planeten zerfallen und neue Sterne entstehen, ziehen wir um, lieben uns, machen Pläne, schneiden uns die Fingernägel, hassen einander ohne Ende.

Noch vor zehn Uhr am nächsten Morgen waren Harold und ich auf dem Basketballfeld, das unser Vater uns gezeigt hatte.

»Bis zum ersten Fehler«, sagte er.

»Okay, du fängst an.«

»Wer trifft, fängt an.«

»Wirf.«

Harold warf. Natürlich ging er rein. Wusch.

»Abwechselnd bis fünfzehn«, sagte Harold, nachdem ich nicht getroffen hatte. »Wer zwei Punkte Abstand schafft und hält, ist Sieger.«

»Dann los«, sagte ich.

Ich gab ihm den Ball. Er klemmte ihn unter seinen drahtigen Arm und lächelte mich an – herablassend, fand ich.

»Viel Glück, Bruder«, sagte er zu mir.

Er wandte sich nach rechts, drehte sich mit dem Rücken zum Korb und konzentrierte sich auf jene subtilen Schachzüge, die alle Basketballspieler beherrschen: Man täuscht und manövriert, bis man eine zentimeterbreite Lücke zum Wurf findet oder, falls es gelingt, die Verteidigung reinzulegen, die Gelegenheit zum Spin-and-Drive auf den Korb. Ich war durch Kleinigkeiten hypnotisiert – ein Neigen des Kopfes, ein Schulterzucken, ein entschlossener Zug um den Mund –, dann kam ein Sternschritt und ein Sprungwurf in Rücklage, sein schlanker Körper schnellte vor dem Hintergrund der Stadtstraßen hoch. Einen Augenblick stand sein Kopf so vor der Sonne, dass sie ihn einzurahmen schien; dann ratterte der Ball durch das Maschendrahtnetz.

»Eins – null«, sagte Harold. »Ich führe.«

Jetzt ging er nach links, steuerte die Ecke an, schoss dann im Bogen auf die Grundlinie zu. Zweieinhalb Meter vor dem Korb wirbelte er um sich selbst und machte einen Hakenwurf aus der Bewegung, der Ball kreiste zweimal um den Ring, bevor er sich in den Korb senkte.

»Zwei – null«, verkündete er.

Zwei Schritte links von der Foullinie machte er einen Sprungwurf gegen das Brett. Dann, wieder nach links gewandt, warf er einen Korb aus dem vollen Lauf. Ein Korbleger rückwärts über die rechte Schulter. Ein Hakenwurf von der rechten Grundlinie.

»Sechs – null«, sagte er. »Mein Ball.«

»Leg los«, antwortete ich.

In Seaside hatten wir tausendmal im Schulhof der Grundschule einer-gegen-einen gespielt. Da lag Sand auf dem Boden, es gab kein Netz, und da war der Wind vom Meer, an den man sich gewöhnen musste. Wenn das Spiel zu Ende war, hatten wir, Kaugummi kauend und Sodapop trinkend, an der Schulhofmauer gesessen. Harold würde eines Tages für die Celtics, ich für die Lakers spielen.

Ein blitzschnell hereingetriebener Korbleger von links, abgewehrt. Er verwarf, und ich traf zweimal. Sieben zu zwei, Harold.

In Seattle ging die Sonne blass und reglos unter, und das Drahtnetz gab einen satten Laut von sich, wenn der Ball traf. In Seattle fanden wir ein Publikum in den vorbeifahrenden Autos und jungen Leuten in weißer Tenniskleidung. In Seaside hatte man ständig das Rauschen der Pazifikwellen in den Ohren, es lullte mich ein – es war der Ton meines verfließenden Lebens. Jetzt in der Stadt gab es keinen solchen Ton, kein Fenster im Haus mit Blick über ein endloses Meer, hinter dessen Horizont alle Möglichkeiten lagen; in der Stadt, das wurde mir klar, gab es Millionen von Menschen, die alle wie ich waren, lauter Träumer, die ihre absurden Träume nicht verwirklichen konnten.

Harold versenkte einen Ball aus zehn Metern Entfernung im Netz. Er griff rechts an, drehte sich im Sprung von mir weg, und ließ den Ball von den graziösen Fingerspitzen seiner linken Hand gelenkt fliegen. Wusch.

»Neun – zwei«, sagte er. »Mein Ball.«

Ein Sprungwurf aus dem Dribbeln, von links. Durch die Mitte, frontal auf mich und meine Angst zu, das rechte Knie auf meiner Brust, ein präziser Bogen und ein Rebound vom Brett ins Netz.

»Elf – zwei«, sagte Harold.

Ein Fehler von ihm. Ich arbeitete mich geduckt vor. Drehte mich, warf aus eineinhalb Metern. Treffer.

»Elf – drei«, sagte ich.

In Seaside pflückten wir einmal einen ganzen Kirschbaum leer. Harold saß mit Saftflecken im Gesicht am Fuß des Baums und spuckte Kerne, so weit er konnte. Ich sah von einem Ast oben im Baum auf ihn hinunter.

Zwei Würfe in Rücklage. Ein Korbleger. Harolds Atem, nach Erdnussbutter riechend. Seine Ellbogen und vor allem sein beharrliches Hinterteil drängten mich aus meiner Position.

»Siegpunkt«, verkündete Harold.

Wir hatten zusammen Stinte gefangen. Zu Millionen wimmelten sie in den Brandungswellen herum, Harold und ich holten, nebeneinander stehend, unser Netz ein, der Pazifik schlug rings um uns auf den Sand ein.

Er ging nach rechts. Ich ging mit, verlegte ihm in den Weg; Harold lehnte sich natürlich seinerseits in mich hinein. Und einen Moment lang verharrten wir reglos, zwei Inseln aus Spannung, beide erstarrt, unnachgiebig. Er hielt den Ball zwischen Hüfte und Unterarm, er duckte sich, schob die Schulter gegen meine Brust. Ich konnte spüren, wie sich die Feder in ihm spannte, und als er von mir weg und nach oben schnellte, ging ich mit der Schulter brutal nach vorn, in ihn hinein. Harold wurde zu weit zurückgeschoben, fiel nach hinten, der Ball flog steil gen Himmel, der Wurf war viel zu kurz, ein Airball, und dann riss Harolds Kreuzband, und sein Gesicht wurde dunkel, ein Schatten glitt über seine Augen. Ich stand über ihm, und Harold lag auf dem Beton, hielt sich das Knie mit beiden Händen, das Gesicht in lautlosem Schmerz verzerrt, er schien nackt, allem ausgesetzt und vollkommen hilflos, während ich über ihm stand und auf ihn hinabsah.

* * *

An dem Abend liefen Menschen zum ersten Mal auf dem Mond herum. Harold war in der orthopädischen Kinderklinik. Ich besuchte ihn und saß mit einem Transistorradio bei ihm; wir hörten Neil Armstrong der Welt verkünden, dass dies »ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein Riesensprung für die Menschheit«, sei. Eine ganze Weile dachten wir über die Bedeutung dieser Worte nach; Harold hatte den Eindruck, dass Armstrong ein Wort ausgelassen habe. Hatte er nicht sagen wollen, ein Mensch habe einen kleinen Schritt zum Frieden für die gesamte Menschheit getan? Aber mein Vater, der am Fußende des Bettes saß, sagte, dass Neil Armstrong so oder so ein Spinner war. Seiner Meinung nach hätte dies ein wunderbares Ereignis sein sollen, aber Armstrong lief in Wahrheit da oben rum, damit wir eines Tages notfalls die Russen vom guten alten Mond aus in die Luft jagen könnten.

Wir saßen im Krankenhauszimmer und hörten Männern zu, deren Stimmen aus dem Meer der Stille zu uns drangen; Armstrong nannte das Meer »eine grandiose Ödnis«; dann berichtete ein Rundfunkreporter, dass eine unbemannte russische Sonde, die das amerikanische Unternehmen beobachtete, in Kürze auf dem Mond landen werde. Darüber lachte mein Vater laut, worauf mein Bruder finster um Schmerztabletten bat. Ich stürzte aus dem Zimmer, um die Krankenschwester zu suchen, dankbar, dass ich Harold diesen kleinen Dienst erweisen konnte.

* * *

Mein Vater fand in Seattle keine Stelle. Im August arbeitete er zwei Wochen lang auf Probe in einer Getreidemühle auf Harbor Island, wurde aber am Ende nicht übernommen. Jeden Abend kam er mit einer Mehlschicht auf Haut und Kleidern nach Hause, er trug weiße Arbeitskleidung und Converse-Tennisschuhe und hatte eine Bierfahne. Dann war es vorbei mit diesem Job. Meine Mutter strich die Stellenangebote in der Zeitung, die ihr interessant erschienen, mit gelbem Leuchtstift an. Sie packte ihm ein Lunchpäckchen und schickte ihn mit dem Bel Air los, damit er sich bei den Firmen vorstellte. Es führte zu nichts. Vielleicht hatte er es sich selbst zuzuschreiben, oder es lag an den schlechten Zeiten oder an beidem, jedenfalls fand mein Vater keine Arbeit in der Stadt. Manchmal saß er an Herbstabenden auf der Veranda und rauchte, die Ellbogen auf die Knie gestützt, eine Zigarette nach der anderen, schweigend. So ging es den ganzen Herbst hindurch, bis das Geld, das meine Mutter geerbt hatte, zu Ende ging. Dann nahm mein Vater einen kleinen Geschäftskredit auf und kaufte einen Parkplatz im Zentrum von Seattle; dort brachte er seine Tage in einem zugigen, kalten Sperrholzverschlag mit Kaffeetrinken und Illustriertenlesen zu.

Meine Mutter putzte viele Jahre lang Wohnungen und Zahnarztpraxen in Seattle. Diese Arbeit hatte sie gelernt, und sie war bei den Damen des North End sehr gefragt, sie galt als gründliche, zuverlässige Kraft. Wenn sie das Haar unter einem Kopftuch verbarg und kein Make-up aufgelegt hatte, sah sie niedergeschlagen und erschöpft aus. Sie starb, als sie achtundvierzig war; am Tag zuvor hatte ich noch versucht, ihr mit einem Strohhalm Apfelmus einzuflößen, aber meine Mutter konnte es nicht bei sich behalten.

Mein Bruder spielte nicht mehr Basketball. Nachdem er sich am Knie verletzt hatte, gab er den Sport auf, nicht gezwungenermaßen, sondern weil er es so wollte. Wenn ich vom Training nach Hause kam, hatte er einen Pullover an und betrachtete Kleinstlebewesen unter dem Mikroskop. Gelegentlich sah er zu mir auf, als könne er nicht glauben, was er in meinem Gesicht las, dann wanderte sein Auge wieder zur Linse zurück, blendete mich aus seinem Gesichtskreis aus und konzentrierte sich auf etwas winzig Kleines. Er bot mir nie an, das, was er sah, mit mir zu teilen. Er starrte unbeirrt, geduldig und beharrlich weiter auf das Objekt in seinem Mikroskop, bis ich wieder ging – in mein einsames Zimmer.