Ich stieg mit meinem Bruder Gary über die Schulter des Goat Peak auf: ein hohes Vorgebirge, von dem aus man bis nach Kanada hineinsehen konnte.
An dem Tag hatten wir im Wall Lake nichts gefangen. Die Fische waren da, sie beobachteten uns, aber das Wetter war ungünstig, zu schwül, und die Fische blieben unten im tiefen Wasser.
An dem Tag wollte Gary nicht von dem Krieg sprechen, aus dem er vor kurzem zurückgekehrt war. »Das brauchst du nicht zu wissen«, sagte er zu mir. »Glaub mir, Bud.«
Also gab ich das Fragen nach einer Weile auf. Aber ich wusste, dass Gary Dinge gesehen hatte, von denen ich keine Ahnung hatte.
Was soll ich sagen? Ich war fünfzehn. Ich brachte viel Zeit mit Steinewerfen zu, das weiß ich noch. Ich baute mir Steinhaufen auf, ging dreißig Schritt zurück und warf dann so lange, bis ich die Haufen auseinandergesprengt hatte.
Wir sahen eine Schafherde, einen Schäferhund und einen Schäfer oben auf dem Wind-Pass-Pfad. »Sind die nicht schön?«, sagte Gary. Der Hirt war ein schweigsamer Mexikaner auf einem Pferd, sein Hund ein räudiger Köter; die Schafe wichen in einer langsamen weißen Woge zurück, als wir im wolkenlosen Sonnenlicht durch die Herde hindurchgingen.
Forellen hatten wir nicht zum Essen, aber etwas Käse, den ich im Bach gekühlt hatte, eine Büchse Sardinen und getrocknete Birnen. Später dann rieben wir uns mit Insektenschutz ein, setzten die Sonnenbrillen auf und nahmen Kompass und geologische Vermessungskarte mit hinauf zum Goat Peak.
Oben breitete Gary die Karte auf einer Felsenplatte aus, legte den Kompass daneben und sah zu, wie die Nadel zur Ruhe kam. »Da ist Kanada«, sagte er. »Ganz da hinten, das ist der Eldorado-Gipfel, und da unten ist das Chilliwak-Tal.«
Ich sah in eine Welt von Schwarzfichten hinaus, die sich endlos über Hügel und Täler erstreckten bis in das Land, von dem ich träumte. Aber meinem Bruder verriet ich kein Wort von diesem Traum, von den Bergen oder davon, einfach vom Jagen und vom Land zu leben. Mir schien es nicht passend, Gary jetzt, da er gerade nach Amerika zurückgekommen war, einen solchen Traum zu erzählen.
»Das ist die Grenze«, sagte Gary. »Wir sind in Kanada, Bud.«
Dort oben fanden wir eine eiserne Grenzmarke, die in einem Geröllhang stand – Nummer fünfundfünfzig stand darauf. Wir setzten uns daneben: eine Stelle, wo man rasten und den Sonnenuntergang betrachten konnte.
»Das Paradies der Wehrdienstverweigerer«, sagte Gary.
Wir gingen mehrmals über die Grenze, wechselten zwischen den Ländern hin und her, genossen die Freiheit, niemandem Rechenschaft darüber geben zu müssen.
Allmählich schwand das Licht im Nordwesten, nur ein sichelförmiger Rest schimmerte noch schwach über dem Horizont. Der Himmel über uns erhellte sich, während die Erde, auf der wir saßen, im letzten Zwielicht kalt wurde.
In diesem letzten Licht sahen wir sie dann – Heuler nannte unser Vater sie immer –, eine Kette von Waldhühnern, die sich ihren Weg durch die scharfen Bruchsteine eines mit Geröll bedeckten Hanges suchten.
»Sieh mal«, sagte Gary. »Da.«
Ich hob einen Stein von der Größe eines Baseballs auf und beobachtete sie – bildete mir ein, ein Jäger wilder Tiere zu sein.
»Sie sind wunderschön«, sagte Gary. »Sieh sie dir nur an.«
Ich warf, und die Kette stob im grauen Licht auseinander, schwirrende, schlagende Flügel, Vögel, die sich den Hang hinabwarfen, aber einer schien aufwärts zu springen, sodass er sich einen Moment lang als Schatten vor dem Himmel abzeichnete, mit weitgespannten Flügeln, sein Ruf wuut wuut wuut wuut wuut to-wuut schien an den Himmel gerichtet zu sein, dann überschlug er sich im Flug und stürzte im Bogen kopfüber in das im Dunkel liegende Geröll.
»Mein Gott«, sagte Gary. »Warum hast du das gemacht?«
Ich wusste keine rechte Antwort. Ich sagte: »Ich hab nicht gedacht, dass ich einen treffen würde, Gary.«
Wir gingen hinunter und blieben an der Stelle stehen, wo der Vogel zwischen den Steinen starb. Es war eine große Henne – rußfarbene Schwanzfedern, ein paar weiße Streifen am Bürzel, ein schmales bläuliches Band, wo die Flanken sich verjüngten. Mein Stein hatte sie mitten auf die Brust getroffen. Beim Aufprall auf den Boden war ein Flügel gebrochen.
»Mein Gott«, sagte Gary. »Guck bloß, was du gemacht hast.«
Ich sagte gar nichts. Was hätte ich sagen sollen. Wir beide standen da und betrachteten die Henne.
»Mein Gott«, sagte Gary wieder.
Ihr war nicht mehr zu helfen. Die anderen Vögel waren längst weg. Der eine heile Flügel zuckte auf dem Stein. Das Leben sickerte aus ihr heraus, ins Geröll, in die Erde, aus der es gekommen war.
»Ich mach dieser Quälerei ein Ende«, sagte Gary. »Gott verzeih mir.«
Er hatte Tränen in den Augen, mit denen ich nicht gerechnet hatte.
Er stellte seinen Stiefel auf den Kopf des sterbenden Vogels, die Sohle auf das lebendige klare Auge – und drückte ihn dann auf den Stein nieder, während die Flügel noch ein letztes Mal heftig zuckten. Unmittelbar bevor der Vogel starb, entfalteten sie sich krampfartig zu voller Spannbreite.
»Das war’s«, sagte Gary und weinte ohne Scham – er weinte einfach, während er mit mir redete. »Das ist alles. Mehr ist nicht dabei, Bud.«
Wir stiegen den Berg hinab und durch das Tal zum Wall Lake. Wir sahen keine Forellen, die bei der Futtersuche die Oberfläche berührten, kein Laut war zu hören außer dem Quaken der Frösche.
Nachdem wir unser Abendbrot, Bohnen mit Chilipulver und weißem Reis, gegessen hatten, saßen wir noch eine Weile am Propangaskocher.
»Wie ist es dir denn so gegangen?«, fragte Gary. »Was hast du gemacht?«
Ich erzählte ihm, dass ich nicht ins Basketballteam gekommen war, dass ich mich mit Mike Kizinski geprügelt hatte, und andere Sachen, die eigentlich nicht wichtig waren.
»Es macht Spaß, von alldem zu hören«, sagte Gary. »Erzähl weiter, Bud.«
Aber das tat ich nicht. Ich war jung und wusste es nicht besser. Und statt weiterzuerzählen, fragte ich ihn das, was ich schon lange wissen wollte: »Hast du in Vietnam jemanden getötet?«, sagte ich.
»Ob ich in Vietnam jemanden getötet habe?«, fragte Gary.
»Hast du?«
»Ob ich in Vietnam jemanden getötet habe«, sagte Gary.
»Ob ich in Vietnam jemanden getötet habe.«
Und wieder fing er an, leise zu weinen, und wieder war es etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ehrlich.«
Aber er weinte weiter. Er weinte, ohne sich zu schämen. Er weinte so, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Er wischte sich nicht die Augen und versuchte nicht aufzuhören. Er weinte einfach.
Später nahmen wir unsere Schlafsäcke von dem Ast der Polarkiefer, über den wir sie zum Auslüften gehängt hatten, und breiteten sie auf dem Boden aus, wo wir uns am Abend zuvor einen Lagerplatz freigeräumt hatten. Wir lagen beide ganz eingemummt in unsere Schlafsäcke, nur das Gesicht war zu sehen, die Kapuzenbänder hatten wir fest um den Kopf gezogen, sodass der Ablauf des Schmelzwassers auf den Kieseln im Bachbett nur als gedämpftes Rauschen zu hören war, eine dahinfließende Musik, die in unseren Ohren anfing und endete. Wir lagen nebeneinander, starrten hinauf in die Sterne und redeten darüber, wie unmöglich es war, sich Lichtjahre vorzustellen, wie wahrscheinlich es sei, dass es Leben auf dem siebten Mond des Saturn gebe, wie viele Jahre es wohl noch dauerte, bis die NASA einen Mann zum Mars schickte. Wir unterhielten uns über eine Theorie, die Gary in einem Buch gefunden hatte – dass Zeit und Raum nicht wirklich existierten, dass alles in Wirklichkeit ganz anders sei, unerkennbar für uns. Nach einer Weile gaben wir das Reden über diese sinnlosen Dinge auf und suchten am Himmel nach den Lichtpunkten der Satelliten zwischen den für immer fixierten Sternen. Wir sahen zu, wie sie sich langsam auf den Horizont zubewegten, da die Gravitation der Erde sie nicht losließ, sodass sie in einer unerbittlich geraden Linie aus dem Gesichtsfeld entschwanden. Gary sagte, dass ein Satellit notfalls eine Nahaufnahme von uns in unseren Schlafsäcken machen könne, sobald der Himmel hell genug geworden sei.
»Aber das ist ganz egal«, sagte er. »Hier oben ist es wunderbar. Ich bin froh, dass wir hierhergekommen sind. Ich bin froh, dass wir da sind.«
Minuten später hörte ich, dass er eingeschlafen war, und ich fing an, mich in diesen Bergen einsam zu fühlen. Und ich konnte nicht einschlafen; ich schämte mich über mich selbst. Aber später merkte ich, dass Gary auch wieder wach war, und dann blieben wir die ganze Nacht wach und redeten.
»Zwei Schlaflose«, sagte er nach einer Weile. »Verrückt, Bud. Irre.«
»Aber wenigstens haben wir jemanden zum Reden«, sagte ich.
»Wenigstens das«, sagte Gary.