Eines Abends öffnete sich die Tür zu Pauls Zimmer, und seine Eltern kamen mit ihren Gästen herein.
»Pauls Zimmer«, stellte Pauls Mutter vor. »Und Paul.«
»Und das Zimmer ist ans Intercomsystem angeschlossen?«
»Sicher. Wie das ganze Haus.«
»Also könnt ihr ihn über die Anlage rufen, wenn er zum Abendessen kommen soll. Wie praktisch.«
»Wenn es so was wie Abendessen gäbe«, sagte Pauls Mutter. »Wenn das Abendessen existierte, dann ja.«
Sie lachte etwas gekünstelt über ihren eigenen Ausspruch. Die Gäste verteilten sich über das Zimmer, sahen sich alles ruhig und distanziert an, blickten aufmerksam auf die Wände, den Fußboden. Paul saß auf der Bettkante, Hände im Schoß, und beobachtete sie schweigend.
»Er hat einen eigenen Fernseher«, sagte jemand.
»Ja, er hat einen eigenen Fernseher«, sagte Pauls Mutter.
»Streng geregelt«, setzte sein Vater hinzu. »Die Hausaufgaben müssen ordentlich gemacht sein, bevor der Fernseher angeht.«
Jetzt sahen die Gäste Paul neugierig an. Er glaubte zu wissen, was sie dachten: War er vielleicht ein Junge, der Schwierigkeiten in der Schule hatte? Waren seine Hausaufgaben ein Familienproblem?
»In welcher Klasse bist du, Paul?«, fragte jemand.
»In der siebten«, sagte seine Mutter. »Wir haben ihn früh eingeschult.«
»Sieh mal«, sagte ein Gast nachdrücklich. »Die Sprechanlage ist ganz leise gestellt. Wie kann er überhaupt irgendwas hören?«
»Das kann er nicht«, sagte Pauls Mutter. »Wir benutzen die Anlage eigentlich nie. Sie ist nur da.«
»So habe ich mir das mit Intercom immer vorgestellt. Die Kosten sind nicht vertretbar.«
»Ach komm«, antwortete Pauls Mutter. »Eins muss ich dir sagen. Sie war sehr praktisch, als Paul ein Baby war. Da konnten wir oben hören, wenn er weinte.«
»Also wie teuer ist so eine Anlage? Gib uns doch mal ein paar Zahlen.«
»Ich erinner mich nicht«, antwortete Pauls Mutter.
»Wir haben sie mit dem Haus übernommen«, sagte Pauls Vater.
»Na ja, aber wozu soll die gut sein, wenn ihr sie nicht benutzt?«, sagte der Gast. »Dann habt ihr nur einen Haufen unnütze Drähte in den Wänden.«
»So ist es«, sagte Pauls Mutter. »Unnütze Drähte.«
Aus irgendeinem Grund lachten alle darüber. Dann, als hätten sie sich ohne Worte darüber verständigt, fanden sie, es sei Zeit für die nächste Station der Hausbesichtigung.
»Heh, Paul«, sagte jemand. »Du hast vielleicht Glück, dass du in so einem Haus wohnst. Und ich wette, du weißt das gar nicht zu schätzen.«
Wieder starrten alle Paul an. Sie standen in einer Gruppe an der Tür, Gläser in den Händen, gelangweilt.
»Er ist ein Stiller«, erklärte Pauls Mutter. »Sag auf Wiedersehen, Paul.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Paul. »Bis bald.«
Sie gingen. Er konnte sie in der Diele hören. »Ich muss euch unsern neuen Whirlpool zeigen«, sagte seine Mutter gerade. »Er ist phantastisch.«
Als Paul am Montagnachmittag im Regen nach Hause ging, machte er einen Abstecher in die Zoohandlung in der Fünfundsechzigsten Straße.
»Nass draußen«, sagte der Mann hinter dem Ladentisch zur Begrüßung. »Du weißt, wovon ich rede? Nass.«
Der Mann hatte einen altmodischen Schnurrbart und eine schwarze Plastikbrille. Er stand an der Kasse, hatte einen Bleistift hinters Ohr gesteckt, aß Popcorn aus einer braunen Papiertüte, und Paul fand ihn etwas unheimlich, ohne zu wissen, warum. Sein Geschäft wirkte unbestimmt bedrohlich, wie ein Labor im Keller. Vier Reihen Aquarien verloren sich im Dunkel. Nur sie waren beleuchtet – nichts sonst. Die Fische schwebten wie im Traum hinter den sicheren Glaswänden ihrer beleuchteten Behälter. Der Laden roch nach Dschungel; Dunst beschlug alle Fenster. In einem anderen Raum sangen Vögel in Käfigen.
»Mann«, sagte Paul. »Schön hier.«
»Sieh dich um«, empfahl der Mann. »Nur zu. Du musst ja wieder trocken werden. Leg deine Bücher ab und schau dich in Ruhe um.«
»Okay«, sagte Paul. »Danke.«
Er wanderte durch die Reihen, spähte in jedes Aquarium, stützte die Hände dabei auf die Knie und fühlte sich auf einmal riesengroß. Der Mann hatte über jedes Aquarium ein Schild gehängt: PARADIESFISCH – AUS TAIWAN; SCHOKOLADENGURAMI – MALAJISCHE HALBINSEL; BUNTBARSCH – AUS DEM ZAIREBECKEN. Die eingesperrten Fische schienen ein Leben ohne Mühe und ohne Ziel zu führen. Sie hingen still in Ecken, ein Auge auf die Glaswand gerichtet, oder schnellten kurz an die Oberfläche. Manche schwammen eifrig, aber die meisten schienen begriffen zu haben, dass das wenig Sinn machte. Sie ließen sich treiben, wohin das Wasser sie spülte, wenn es aus den Filtern blubberte.
Paul beobachtete sie eine ganze Weile. Er kam zu dem Schluss, dass die Fische in einer ganz unbedeutenden Welt abgeschlossen für sich lebten, während andere über sie entschieden, andere, die ihrem Leben so fern waren, dass alle ihre Besonderheiten als einzelne Fische verschwanden. Vielleicht hatten sie das ganze Elend der Gefangenschaft erfahren; vielleicht war ihnen auf dem Transport aus einer exotischen Heimat ihre Einsamkeit auf der Welt deutlich geworden. Jetzt wiegten sie sich in ihren Wasserkäfigen im Vergessen oder Erinnern, im Ungewissen darüber, ob das, was ihnen im Lauf der Stunden zustieß, eine wirkliche Existenz ausmachte. Paul versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl früher gelebt hatten: frei, mit einem warmen, unbegrenzten Ozean als Lebensraum; wie sie fröhlich hin und her flitzten, um die Wette nach Futter jagten und lebten, wie sie wollten. Er stellte sich vor, dass sie alle einzigartig waren, jeder für sich, nach dem Plan der Natur.
Als er aufsah, merkte er, dass der Mann hinter dem Ladentisch ihn aufmerksam beobachtete. Er stand immer noch an der Kasse und stopfte sich Popcorn in den Mund.
»Du interessierst dich für Fische«, sagte er zu Paul. »Das sieht man.«
Paul nickte.
»Fang klein an«, riet ihm der Mann. »Vierzig Liter höchstens. Probier aus, ob es dir gefällt, dann kannst du’s langsam steigern. Du hast jede Menge Zeit.«
»Ich weiß schon, dass es mir gefällt«, sagte Paul.
Der Mann schob sich Popcorn in den Mund. »Ach ja?«, sagte er. »Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach«, sagte Paul. »So bin ich eben.«
»Aha«, sagte der Mann. »Na gut. Wenn du dich so genau kennst, gut.«
Um halb sieben kam Paul nach oben. Seine Eltern waren jetzt im Wohnzimmer – er hatte fünfzehn Minuten zuvor gehört, wie sie die Haustür aufschlossen, er hatte ihnen Zeit gelassen, bis sie es sich bequem gemacht hatten. Das Fernsehen lief: Nachrichten. Sein Vater saß im Schaukelstuhl, die Füße auf einem Sitzpolster, und hörte mit Kopfhörern CDs, die Post lag verstreut auf dem Fußboden neben ihm. Seine Mutter saß mit hochgezogenen Beinen auf dem Sofa und blätterte in einem Versandkatalog.
»Hallo«, sagte Paul. »Ihr seid wieder da.«
Sein Vater nahm die Kopfhörer ab. »Hallo«, sagte er. »Hast du nach der Schule die Stereoanlage benutzt, Paul? Jemand hat sie angelassen.«
»Nein«, sagte Paul. »War ich nicht.«
»Du vergeudest Strom«, sagte seine Mutter.
»Ich hab sie nicht benutzt«, wiederholte Paul.
Sie hörten auf zu reden, um eine Fernsehreklame anzusehen. Ein Auto hob von der Straße ab und flog in die Tiefen des Weltalls hinaus. Dann kehrte es zurück, eine Frau stieg ein. Ein Mann in Jeans, lässig an einen Schuppen gelehnt, sah zu, wie sie vorbeifegte. Sie kurvte um eine Ecke, stieg vor einem Nachtclub aus. Ein schwitzender Mann spielte neben einer Fontäne Saxophon. Die Frau fuhr wieder, ihre lavendelblauen Fingernägel glitten über die Polster. Ein Mann saß vor einer Tankstelle, in den Bergen hinter ihm ging die Sonne unter; er kratzte sich am Kopf, als die Frau vorbeischoss.
»Langweilig«, verkündete Pauls Mutter und blätterte eine Seite in ihrem Versandkatalog um.
Paul wanderte in die Küche. Eine Zeit lang öffnete er Schränke, sah sich den Inhalt an: Nudeln, Olivengläser, Salatsoße in Flaschen. Sein Vater kam herein, ging zum Kühlschrank, holte sich ein Bier heraus, öffnete es und trank im Stehen, an die Küchentheke gelehnt.
»Wir können was in die Mikrowelle stellen«, sagte er und lockerte seine Krawatte. »Einverstanden, Paul?«
Paul nickte.
Der Vater öffnete den Tiefkühlschrank. »Bœuf Stroganoff«, las er vor. »Heilbutt in Sahnesoße, Pasta Marinara, Shrimp Gumbo – was soll’s ein?«
»Bœuf Stroganoff«, sagte Paul.
»Ich bin für Heilbutt«, sagte sein Vater. Er öffnete das Mikrowellengerät.
»Kann ich ein Aquarium haben?«, fragte Paul.
»Was?«
»Ich möchte mir ein Aquarium kaufen«, sagte Paul.
»Ein Aquarium?«, sagte der Vater. »Wozu?«
»Ich hätte gern eins, nur so. Kann ich?«
»Ich weiß nicht«, sagte sein Vater. »Frag lieber deine Mutter, Paul.«
Sie gingen zusammen ins Wohnzimmer.
»Ein Aquarium«, sagte seine Mutter. »Wo willst du das aufstellen?«
»In meinem Zimmer«, antwortete Paul. »Bitte.«
»Macht es Schmutz?«
»Nein.«
»Wer putzt es, wenn es geputzt werden muss?«
»Ich. Ich verspreche es, Mom.«
»Ich weiß nicht«, sagte seine Mutter.
Sie blätterte in ihrem Katalog.
»Es ist ja nicht wie ’n Hund oder ’ne Katze«, sagte sein Vater. »Wenn du mich fragst, ich bin dafür, Kim.«
»Was findest du denn an Fischen?«, sagte seine Mutter.
»Ich weiß nicht«, antwortete Paul.
»Die kannst du doch nur ansehen, sonst nichts«, sagte seine Mutter.
»Das weiß ich«, sagte Paul.
»Um wie viel Geld geht es dabei?«
»Ich weiß nicht«, erklärte Paul. »Ich könnte ja mein Weihnachtsgeld nehmen.«
Seine Mutter warf ihren Katalog auf den Couchtisch. Sie stand auf, schüttelte sich die Haarfransen aus den Augen, strich sich eine Falte vorn an ihrem Rock glatt, streckte sich gegen die Zimmerdecke, bis nur noch die Zehen den Teppich berührten, ballte die Hände über dem Kopf zu Fäusten – und gähnte.
»Nein«, sagte sie. »Dein Weihnachtsgeld lässt du schön auf der Bank, verstanden? Ich kauf dir das Aquarium.«
»Ich möcht es selbst bezahlen«, sagte Paul.
»Das tust du nicht«, sagte seine Mutter. »Ich zahl es.«
Ken, ein Schulfreund, der einen Skiparka trug und Gel in sein blondes Haar schmierte, kam eines Nachmittags, um sich das neue Aquarium anzusehen.
»Irre«, sagte er. »Der da mit dem Dings auf der Nase.«
»Das ist ein Elefantenrüsselfisch«, sagte Paul.
»Und was hat der da?«
»Das ist ein Severum. Dem wurde der Schwanz angeknabbert. Der Kerl da – der Jack Dempsey –, der macht so was.
Der ist ruppig.«
»Toll!«, sagte Ken. »Kämpfen die?«
»Nein.«
»Hast du schon mal einen Siamesischen Kampffisch gesehen?«
»Nein.«
»Ich hab die im Fernsehen gesehen«, erklärte Ken. »Das ist toll. Die bringen sich gegenseitig um. Man wirft sie zusammen in ein Aquarium und sieht zu, wie sie kämpfen.«
»Wirklich?«
»Die Leute schließen Wetten ab, wer gewinnt, in China, glaub ich.«
»Wirklich?«
»Das ist irre«, sagte Ken.
»Hast du schon mal zwei Katzen kämpfen sehen«, fragte Paul. »Das ist irre. Sie –«
»Die bumsen«, sagte Ken. »Das ist was anderes.«
Paul schwieg.
»Wie heißen die gestreiften?«, fragte Ken.
»Das sind Bandbarben.«
»Die sind irgendwie klein.«
»Ja, irgendwie schon.«
»Vielleicht könnte der Jack-Dempsey-Fisch die kleinen fressen. Wie kommt es, dass die nicht aufgefressen sind?«
»Die sind schnell«, sagte Paul. »Die hauen ab.«
»Aha. Und was ist mit den blauen da? Die sehen nicht so schnell aus.«
»Ich weiß nicht«, sagte Paul. »Das sind Guramis. Die lässt der Dempsey in Ruhe.«
»Und der da?«, fragte Ken und tippte an die Glaswand.
»Dieser? Da drüben?«
»Das ist ein Rotschwanzkärpfling.«
»Toll«, sagte Ken. »Was frisst der?«
»Die fressen alle dasselbe«, erklärte Paul. »Dies Zeug hier.«
Er hielt eine Büchse Tetramin hoch. »Das ist wie Blätter und so was.«
»Vielleicht solltest du ihnen Fleisch reinwerfen«, empfahl Ken. »Damit sie größer werden – die sehen ein bisschen mickrig aus.«
»Die werden nicht größer«, sagte Paul. »Wenn du sie größer haben willst, musst du sie in ein größeres Becken setzen.«
»Hast du den Film gesehen?«, fragte Ken. »Von dem Mädchen, das mit seinem Vater nach Südamerika fährt. Er ist Wissenschaftler oder so. Sie zieht ihre Kleider aus und will schwimmen gehen, und die Piranhas fressen sie. Das ist irre.«
»Hab ich gesehen«, sagte Paul. »Ekelhaft.«
»Meinem Freund ist schlecht geworden«, sagte Ken. »Mir nicht. Weißt du noch, wie der Wissenschaftler umkommt?«
»Das war ekelhaft. Echt ekelhaft.«
»Ja«, sagte Ken. »Kommst du mit zur Spielhalle?«
»Ich darf nicht«, sagte Paul. »Meine Eltern lassen mich nicht.«
»Meine auch nicht«, sagte Ken.
Nachts, wenn alle Lampen außer der Beleuchtung des Aquariums ausgeschaltet waren, beobachtete Paul die Fische von seinem warmen Bett aus. Er fand ihre Passivität schrecklich. Eigentlich sollte ihnen die Galle überlaufen, sie sollten sich den Schädel an der Glaswand einschlagen. Aber es waren bloß Fische, und so zogen sie wie Gespenster ihrer selbst durchs Wasser, Seelen, die sich nicht verwirklichen konnten. Weder konnten sie einen Fluchtplan schmieden noch gegen ihre Lebensbedingungen revoltieren. Sie konnten keine Fragen stellen, und ihre Welt war sowieso warm und hell, und in regelmäßigen Abständen tauchte Nahrung darin auf. Was hieß das wohl, ein Fisch zu sein; hörten sie ihn, wenn er laut mit ihnen redete? Und wenn er das Gesicht an die Glaswand drückte, war er dann für sie anwesend, oder war er nichts? Und was fingen sie mit der Tatsache an, dass ihre Welt Formen hatte, Linien und Kanten, eine beengte Geometrie? War ihr Gehirn so abgestumpft, dass sie unter den gegebenen Bedingungen ein zufriedenes Leben führten? Sogar Fische mussten die Gefangenschaft als eine quälende, unaufhörliche Form des Leidens erfahren. Ein Leben lang in dieser zum Wahnsinn treibenden trägen Bequemlichkeit zusammen eingesperrt, mussten sie allmählich den Verstand verlieren oder aber sterben. Und so kreisten sie oder hingen im Leeren oder standen lahm und übellaunig dicht über dem Kiesboden. Sie hassten und ignorierten einander ohne Ende, und wenn das Licht in ihrer Behausung nachts erlosch, schliefen sie, dankbar, dass ihre Welt ausgelöscht war, bis sie am nächsten Morgen zu ihnen zurückkehrte. Und das durchlebten sie – entschied Paul – mit Gedanken, die ihrer Stellung in der Ordnung des Seins entsprachen. Das hatte Paul kürzlich in der Schule gelernt: Diese Fische waren eben nur Fische und deshalb dazu bestimmt, höchstens eine Andeutung von Verstand zu haben, vielleicht nicht einmal das; niemand wusste es.
Paul dagegen würde älter werden und verstehen. Er fing eigentlich schon an mit dem Begreifen; er war zwölf.
»Piranhas?«, sagte der Mann in der Zoohandlung und putzte sich die Brillengläser mit dem Hemdzipfel. »Piranhas sind bösartig, verstehst du? Die bringen dir deine anderen Fische sofort um.«
»Ich hab das im Film gesehen«, sagte Paul. »Die fressen Menschen.«
»Nur wenn man ins Wasser geht«, sagte der Mann und kniff ein Auge zu. »Komm mal mit und sieh sie dir an.«
Sie gingen ans Ende der aufgereihten Aquarien. Sie kamen zu einem mit rostrotem Kies und mit Algen an den Wänden. Der Mann blieb mit ernstem Gesicht stehen. Dann summte er auf einmal die Musik aus dem Film Der weiße Hai vor sich hin.
»Piranhas«, sagte er. »Da.«
Paul sah hinein. Ein Dutzend Fische zog ruhelos im Schwarm herum, silberne dickleibige Fische mit stumpfem Maul, nicht größer als ein Zehnpfennigstück.
»Eine Menge Leute kaufen die«, erklärte der Mann. »Im Prinzip hast du zwei Möglichkeiten. Du richtest dir ein eigenes Aquarium für die Piranhas ein, nur Piranhas, sonst nichts. Oder du legst sie mit deinen anderen Fischen zusammen und ziehst sie vegetarisch auf. Wenn du sie gar nicht erst auf den Geschmack von Fleisch kommen lässt, sind sie bald so zahm wie der Rest. Du musst nur bedenken, dass sie diesen Instinkt haben. Sobald sie anfangen, einem Fisch am Schwanz oder an den Flossen zu knabbern, musst du sie schleunigst rausholen – sonst machen sie Ärger.«
»Rausholen?«, sagte Paul. »Und dann?«
»Du kannst sie ins Klo werfen und runterspülen«, erklärte der Mann. »Das überleben die nicht – zu kalt hier bei uns.«
Er bückte sich und klopfte an die Wand des Aquariums. Die Piranhas flitzten auseinander, eine halbe Sekunde lang waren sie in wogender Bewegung, dann nahmen sie ihr stilles Kreisen wieder auf.
»Sieh dir das genau an«, sagte der Mann. »Ihre Zähne sind kleine Dreiecke. Richtige Zähne. Zwei Reihen kleine Rasiermesser.«
Paul bückte sich, stützte die Hände auf die Knie. Der Mann legte den Zeigefinger an die Glaswand des Aquariums und zeigte sinnloserweise auf die kreisenden Fische.
»Zähne«, sagte er. »Bösartige kleine Biester.«
»Was kosten die?«, fragte Paul.
Der Mann sah ihn an. Er nahm die Brille ab, sah ihn wieder an. Er blinzelte immerzu.
»Du bist interessiert«, sagte er. »Dann lass dir eins gesagt sein: Piranhas werden zur Sucht, ist das klar? Entweder du bist ganz dabei, oder du wirfst sie ins Klo. Einen Mittelweg gibt es dabei nicht. Du kannst sie mit Fleisch füttern, dann werden sie teuer; du kannst es lassen, dann werden sie langweilig – wie jeder beliebige Fisch. Verstehst du, was ich sagen will?«
»Ich glaub ja«, antwortete Paul.
»Gut«, sagte der Mann. »Gut.«
Sie blieben noch einen Moment stehen und sahen den Piranhas zu. »Also«, sagte der Mann. »Ich lass dich jetzt allein, damit du noch mal drüber nachdenken kannst. Sag mir dann Bescheid, wozu du dich entschlossen hast.«
»Ich nehm acht«, erklärte Paul. »Was kostet das?«
»Acht?«, sagte der Mann. »Dafür brauchst du noch ein Aquarium, weißt du das? Acht? Das ist viel für den Anfang.«
»Mir gefallen die«, sagte Paul. »Sie sind interessant.«
Ken stand da und sah in das neue Aquarium hinein, das neben dem ersten aufgebaut war. »In Ordnung«, sagte er.
»Genau wie die im Film.«
Paul saß auf der Bettkante. Die Piranhas sprachen für sich.
»Was gibst du ihnen zu fressen?«, fragte Ken.
»Alles Mögliche«, sagte Paul. »Du weißt schon.«
»Was zum Beispiel?«
»Thunfisch meistens. Anderes Zeug auch.«
»Insekten?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Kaulquappen«, sagte Paul. »Die hab ich aus der Schule. Da drüben in dem Glas sind sie.«
»Irre«, sagte Ken. »Lass mal sehen.«
»Ist nicht so was Besonderes«, sagte Paul.
Ken holte das Glas mit den Kaulquappen. »Kann ich ein paar reinwerfen?«, fragte er. »Bitte?«
»Meinetwegen«, antwortete Paul.
Sie sahen zusammen zu, wie die Piranhas fraßen. Eigentlich ging es ganz geruhsam zu. Keine wilde Gier und Hast. Sie schwammen heran, die Kaulquappen zappelten umsonst. Friedliches Fressen.
»Siehst du?«, sagte Paul. »Ich glaub, das kommt vom Leben im Aquarium oder so. Die werden nicht verrückt wie in dem Film.«
»Der Film war besser«, sagte Ken zustimmend.
»Ich hab im Lexikon nachgelesen«, sagte Paul. »Sie leben in diesem Fluss irgendwo. Wenn ’ne Kuh ins Wasser geht, fallen sie über sie her und machen sie im Nu zum Skelett. Sie schwimmen in großen Schwärmen herum und jagen. Wenn sie andere Fische finden, fressen sie sie auf. Manchmal auch Menschen. Eingeborene, die ihre Kleider im Fluss waschen und so.«
»Kein Witz?«, sagte Ken. »Ehrlich wahr?«
Paul gab keine Antwort. Er legte sich aufs Bett.
»Heh«, sagte Ken. »Gib ihnen doch mal was richtig Großes zum Fressen. Vielleicht werden sie dann wild.«
»Was denn?«
»Vielleicht einen Goldfisch oder so was. Einen Fisch eben. Schmeiß einen rein und guck, was passiert.«
»Wozu?«, sagte Paul.
»Du weißt schon«, sagte Ken. »Damit sie ihn fressen.«
»Daran hab ich auch schon gedacht«, sagte Paul.
Sie waren böse, das sah er abends, blind auf Blutvergießen aus. Während er sie beobachtete, verstand Paul, wie befreiend diese gemeinsame Gier sein musste: Die Piranhas – das war schließlich ihr Instinkt – hatten eine unsichtbare Grenze überschritten und waren in der Gemeinsamkeit Tausender aufgegangen. Er konnte sich nicht einmal als ihr Besitzer fühlen; sie trotzten jedem Besitz; treu waren sie nur einander. Sie waren ein einziger Organismus, jeder für sich Teil eines Ganzen, das größer war als er selbst. Und keiner war allein – das, was sie zu einem Ganzen machte, brachten sie mit in die Gefangenschaft und hielten auch gegen alle Realität daran fest. So, wie er sich in den Nächten zuvor die anderen Fische in ihrem früheren Leben vorgestellt hatte, machte er sich nun ein Bild von den Piranhas in ihrer alten Umgebung – wie sie mit ihren Artgenossen zu Tausenden in Schwärmen dahinzogen, angelockt von Fleischgeruch, der sie durch die Strömung trieb, im warmen, sicheren Aufruhr der Jagd, im Rausch des Blutvergießens. Er träumte, dass er in einem früheren Leben dieses Gefühl auch erfahren hatte: sicher aufgehoben zu sein in einer Masse von seinesgleichen, bis ins Innerste beteiligt an einer Welt voller Ziele, Leidenschaft, Bestätigung, Handeln; in einer Umgebung, in der er das Unmögliche, Liebe, fand, uneingeschränkt akzeptiert wurde und den Platz einnehmen konnte, der ihm zustand.
Eines Abends hatte er die Fische lange beobachtet und ging noch spät hinauf auf den Dachgarten des Hauses. Er wollte, wenn es ging, die Sterne oder den Mond sehen – oder was sonst zu sehen war. Aber stattdessen waren seine Eltern in ihrem Whirlpool, sie küssten sich leidenschaftlich, und die Hand seines Vaters lag auf den Brüsten seiner Mutter; sie kamen zusammen aus dem Wasser hoch, der bleiche, magere Rumpf seines Vaters tauchte auf, und seine Mutter stemmte ihre braunen Fersen gegen seine Waden. Er sah, dass sie sich mit einer wütenden Leidenschaft begegneten, die nicht zu befriedigen war, dass ihre Liebe wie alles andere in ihrem Leben war – er sah die Heftigkeit ihrer Unzufriedenheit mit allem.
Seine Mutter küsste seinen Vater auf den Hals, die haarige Schulter, das Ohrläppchen, und dann legte sie ihre Wange an seine und starrte in Pauls Augen.
»Raus hier«, fauchte sie. »Also wirklich, Paul.« Pauls Vater wirbelte herum und starrte ihn ebenfalls an. »Paul«, sagte er. »Gott noch mal.«
Sie ließen sich wieder ins Wasser fallen, jeder für sich.
Seine Mutter nahm ein Glas vom Beckenrand. Sein Vater lachte ins Dunkel hinein.
»Was ist so komisch?«, sagte Paul.
»Wie wär’s, wenn du uns etwas Privatleben gönntest?«, sagte seine Mutter.
»Entschuldigung«, sagte Paul. »Es war ein Versehen.«
»Geh ins Bett«, sagte sein Vater. »Es ist schon spät, Paul. Okay?«
Er lachte wieder. Pauls Mutter trank noch einen Schluck Wein. Dann rutschte sie seinem Vater auf den Schoß.
»Hast du verstanden?«, sagte sie zu Paul. »Geh schon, okay?«
Er ging in sein Zimmer und warf einen blauen Gurami in das Aquarium der Piranhas. Sie arbeiteten ganz methodisch an dem Fisch. Sie bissen hier ein Stück und da ein Stück heraus, zuerst Schwanz und Flossen, dann die Flanken, schließlich den Hinterkopf. Der Gurami schwamm nach kurzer Zeit mit dem Bauch nach oben. Später fischte Paul das Skelett heraus.
In der nächsten Nacht gab er ihnen den Rotschwanzkärpfling. Es war ein ungleicher Kampf; sie verzehrten den Fisch mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Die beiden Severa wurden zusammen verfüttert. Die Bandbarben mussten erst müde gemacht werden. Der Dempsey wehrte sich, starb und wurde verschlungen.
Der Elephantenrüsselfisch wanderte als Letzter in das Piranha-Becken. Er wurde von allen Seiten angegriffen; viel Blut floss. Der Fisch gab auf, und die Piranhas rissen ihm das Fleisch aus den Flanken, bis nur das Skelett übrig war.
Am nächsten Tag kam Molly, die Putzfrau, in Pauls Zimmer und sah, dass das Aquarium leer und ohne Deckel war, dass das Wasser durch den Filter zirkulierte, dass die Pumpe arbeitete, das Licht am Thermostaten leuchtete – aber keine Fische mehr da waren, nicht einer, nur Wasser. Sie berichtete Pauls Mutter von dieser merkwürdigen Tatsache.
»Die sind alle gestorben«, erklärte Paul ihr. »Das ist alles.«
»Hast du sie denn gut versorgt?«, fragte seine Mutter. »Hast du sie gefüttert?«
»Ich hab sie versorgt«, sagte Paul. »Natürlich hab ich sie gefüttert.«
»Und, was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was hast du denn mit ihnen gemacht?«
»Ich hab sie ins Klo geworfen und runtergespült.«
»Oh Gott«, sagte seine Mutter. »Also wirklich!«
An dem Abend kam Pauls Vater in sein Zimmer. Er setzte sich auf Pauls Schreibtisch und stellte die Füße auf Pauls Stuhl. Er sah zu den Aquarien hinüber und seufzte.
»Du hast die Piranhas aufgeteilt, wie ich sehe«, sagte er.
»Warum, Paul? Wozu soll das gut sein?«
»Die werden größer«, sagte Paul. »So haben sie mehr Platz.«
»Meinst du nicht, dass sie schon groß genug sind?«, fragte sein Vater. »Die werden ja riesig.«
»Auf keinen Fall«, sagte Paul.
Einen Augenblick lang waren beide still. Die Filterpumpen brummten. Im oberen Stockwerk lief der Fernseher.
»Du musst diese Piranhas abschaffen«, sagte sein Vater.
»Und das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.«
»Warum denn?«, fragte Paul.
»Weil sie unheimlich sind«, sagte sein Vater. »Deshalb.«
»Was ist unheimlich an ihnen?«
»Sie sind eben unheimlich. Sie sind unheimlich, Paul, du kannst sie nicht so in deinem Zimmer halten. Sie –«
»Ach komm«, sagte Paul. »Bitte.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Die müssen weg«, sagte er.
»Das ist mein letztes Wort.«
»Nein, bitte nicht«, sagte Paul. »Sei doch nicht so, Dad.«
Sein Vater steckte den Kopf durch den Türrahmen. »Kim!« rief er. »Komm mal runter zu uns!«
»Ach, sei nicht so, Dad«, sagte Paul noch einmal.
Seine Mutter kam herein. Sie sah die beiden an, erst den einen, dann den anderen. »Na, und?«, sagte sie. »Was ist los?«
»Wir sind uns nicht einig«, sagte sein Vater. »Das kannst du besser, Kim.«
»Er ist zwölf«, sagte Pauls Mutter. »Damit wirst du schon fertig.«
»Ich behalte meine Piranhas«, sagte Paul.
»Nein, das tust du nicht«, sagte seine Mutter.
»Doch«, sagte Paul. »Die tun doch nichts.«
»Hör mal zu«, sagte seine Mutter. »Die Piranhas verschwinden. Hast du verstanden? Vergiss nicht, wer am Anfang all die Fische bezahlt hat. Ich war das, ich treffe die Entscheidungen.«
»Ich wollte mein Weihnachtsgeld dafür nehmen«, sagte Paul. »Also gut – ich schaffe sie weg. Dann kaufe ich mir neue von meinem eigenen Geld.«
»Nichts da«, sagte seine Mutter. »Schluss mit den tropischen Fischen, Paul. Du wirst dir ein passenderes Hobby suchen müssen.«
Sie ging zur Wand und zog den Stecker für die elektrischen Pumpen aus der Steckdose. Die Wasserblasen sprudelten nicht mehr durch die Filter.
»Lass den Stecker draußen«, sagte sie. »Ich mein es ernst.«
»Vielleicht kann Paul sie in die Tierhandlung zurückbringen«, sagte sein Vater. »Wär das nicht besser?«
»Paul kann machen, was er für richtig hält«, sagte seine Mutter. »Hauptsache, er schafft sie raus.«
Dann war Stille. Paul rollte sich auf seinem Bett zusammen, legte sich das Kissen über den Kopf, zog die Knie an die Brust und murmelte Beschimpfungen.
»Hast du gehört, was ich sage, Paul?«, sagte seine Mutter.
»Raus hier«, schrie Paul. »Haut ab.«
Am nächsten Morgen schüttete Paul die Piranhas in den Whirlpool auf dem Dach. Sie starben sofort; er ließ sie darin.
Er erzählte Ken davon. Zum Gedenken an die toten Fische schwänzten sie die Schule. »Meine Eltern sind zum Kotzen«, sagte Paul.
»Meine auch«, antwortete Ken.
»Ich hasse sie«, sagte Paul. »Und wie.«
»Geht mir genauso«, sagte Ken.
Sie gingen zusammen über den Golfplatz. Sie kürzten ab, liefen einfach quer durch einen Sandbunker zum neunten Grün. Es hatte angefangen zu regnen. Niemand spielte Golf.
»Ich würd sie am liebsten umbringen«, sagte Paul.
»Ich meine auch.«
»Wie macht man das am besten?«
»Gift ins Essen schütten.«
»Mit der Axt im Schlaf erschlagen.«
»Die Bremsseile im Auto durchsägen.«
»In den Rücken schießen, wenn sie unter der Dusche stehen.«
»Wir können ein Abkommen schließen«, sagte Ken. »Wie im Fernsehen. Du bringst meine um und ich deine.«
»Ich weiß«, sagte Paul. »Mit einer Kettensäge.«
Sie setzten sich auf eine Bank. Inzwischen regnete es stärker. Auf der Straße fuhren Autos vorbei. Paul stellte sich vor, wie es wäre, seine Eltern umzubringen. Bei dem Gedanken daran empfand er nur schwache Gewissensbisse, weil er das sichere Gefühl hatte, dass sie nichts anderes verdient hatten.
»Komm, wir gehn in die Spielhalle«, sagte Ken. »Vielleicht treffen wir da jemanden.«
Paul stand auf und schlug den Mantelkragen hoch, aber er war innen schon nass vom Regen.
»Okay«, sagte er. »Gehn wir.«