Ich bin in Wilkes, Rhode Island, aufgewachsen, wo das Licht im frühen Winter von den Wolkenrücken zu brechen und sich über dem Wasser von Teichen und Mühlbächen zu entzünden scheint. Dann steigt der kalte Modergeruch der entlaubten Wälder geisterhaft aus der harten Erde, und das gedämpfte Gold von Luft und Himmel erfüllt den Raum in weitem Umkreis, gebrochen nur von den mattweißen, spitzen Kirchtürmen vor dem Hintergrund sanft ansteigender Ahornhänge. Mein Vater, ein Mann mit hagerem Gesicht und geduldigen Händen, war der Besitzer der Bäckerei von Wilkes mit ihrer dunklen Schaufensterfront an der Main Street; eine leise, altersstumpfe Schlittenklingel schlug an, wenn man die Tür öffnete, der Innenraum war gesättigt vom schweren Geruch nach heißer Glasur und Butter, der durch die friedliche Wärme der Backöfen und das matte Silber der Regale und Gefäße gemildert wurde. Mein Vater stand in seiner stillen Küche und arbeitete wie im Traum, er vergeudete seine Kraft nie, übereilte nichts und übertrug die Besonnenheit seiner Arbeit auf die vertrauten Rezepte, sodass alles, was aus seiner Hand kam, auf Lippen und Zunge eine Spur von seinem inneren Frieden hinterließ. Im ersten blassen Morgenlicht schabten und schrubbten meine Schwester Ruthie und ich lange Backbleche und gelbe Rührschüsseln. Meine Mutter stand an der Kasse, das Haar am Hinterkopf mit schwarzen Haarnadeln zusammengesteckt, und füllte Tüten mit süßen Brötchen und Krapfen für die Fabrikarbeiter von der Frühschicht, unsere Nachbarn, die Leute von Wilkes. Wir wohnten über der Bäckerei in Zimmern mit alter, kunstvoll gearbeiteter Holzverkleidung, und die warme Luft der Backöfen drang durch die Dielenbretter nach oben. Auf allen Tischen lagen Spitzendeckchen, die wie Schneekristalle geformt waren, ein Schaukelstuhl aus Eichenholz stand an einem hohen Fenster, durch das im frühen Winter jenes besondere weite Licht strömte, ein Licht, das es offenbar in der Welt, in der ich jetzt lebe, nicht mehr gibt. Oder es ist noch da, und ich kann es nicht finden oder erkenne es nicht mehr, da ich dem Wilkes von damals um zwanzig Jahre und Tausende Kilometer ferngerückt bin.
Im Sommer des Jahres, von dem ich jetzt schreibe, machte ich Heu auf den Wiesen rings um Wilkes, und im Herbst – es war der erste, in dem ich nicht mehr zur Schule musste – fällte ich Schwarzeichen und Zuckerahorne an Weidenrändern und spaltete in der klaren Sonne Feuerholz; die trockenen Blätter wirbelten um den langen geschwungenen Stiel meiner Axt. Im November, als der Nordwind das letzte Laub von den Bäumen fegte und über die umgepflügten Felder trieb, bekam ich einen Job im Burrilville-Sanatorium. Von acht bis fünf Uhr wusch ich dort den Alten unserer Gemeinde die Hände, Füße und Gesichter und fütterte sie mit kleinen Löffeln voll Grießbrei und Rübensuppe, die ich ihnen an die Lippen presste; ich karrte Essenstabletts herum und sprühte Bettpfannen mit Reinigungsmittel aus; ich packte die Alten warm ein, damit Frost und Kälte ihnen nichts anhaben konnten, und fuhr sie in ihren Rollstühlen zum steinigen Ufer des Harrow Pond; dort schauten sie dann in dumpfem Schweigen auf Teich, Bäume und Himmel, während ich das Wasser über dem schlammigen Grund und zwischen den Wasserlilien nach Karauschen oder Barschen absuchte.
Gut zwölf Kilometer waren es von Wilkes und der Bäckerei zum Burrilville-Sanatorium, wenn man die Hauptstraße verließ und am Mühlbach entlang über die Quampus Lake Road zum Harrow Pond und dann über die Grenze nach Massachusetts ging, wo das Sanatorium im Schatten eines Kiefernwäldchens lag. Fünfeinhalb Kilometer lang war der Weg, wenn man sich von der Baptistenkirche in Wilkes aus direkt nach Norden hielt, ohne Pfad, und nur nach der Himmelsrichtung im grauen Licht durch Wälder und Weiden lief, zwischen starren Bäumen hindurch, über verfallene Steinmauern sprang, die nichts mehr eingrenzten, bis man eine flache, mit bemoosten Ulmen bewachsene Kuppe erreichte. Wenn man sie überquert hatte, kam man aus dem Wald heraus auf den vom Raureif weißen gepflegten Rasen hinter der Gruppe von hohen Backsteingebäuden, in denen das Sanatorium untergebracht war.
Jeden Morgen wanderte ich mit meiner Mittagsdose in der Hand im Dampf meines Atems durch Dickichte und Felder, die Ohrenklappen meiner Entenjägermütze heruntergezogen und den Kompass im linken Handschuh. Ich scheuchte Fasanen auf – eine überfallartige, von knackenden Zweigen und schlagenden Flügeln erfüllte Explosion, die einem vor Schreck das Herz stocken ließ, dann strich der schwere Vogel schwirrend zwischen den Bäumen hindurch in eine tiefere Mulde. Ohne stehen zu bleiben, warf ich Steine, um das Eis in den kleinen Bächen auf meinem Weg zu zerbrechen, schlüpfte unter Zäunen hindurch, lief über abgemähte Wiesen und durch stille Apfelgärten und schwang meine schwarze Dose im Rhythmus meiner Schritte. Im Sanatorium hängte ich meinen Mackinaw an einen Haken, stellte die Mittagsdose in eine Ecke und ließ mir warmes Wasser über die Finger laufen; dann ging ich zu den Wohn- und Krankenzimmern hinauf, wo die alten Leute im schwachen, wächsernen Licht, das durch die Kiefern vor ihren Fenstern fiel, auf mich warteten. Nach der Arbeit – wenn die Dämmerung kam und es im Wald zu dunkel war, um auf demselben Weg zurück nach Hause zu laufen – nahm Sam Mathers mich in seinem klapprigen blauen Ford mit in die Stadt. Zu Hause stapfte ich die Treppen hinter der dunklen Bäckerei hinauf, um mit meiner Familie zu Abend zu essen, während die Sterne langsam sichtbar wurden und nach und nach über dem ganzen Tal aufschienen und der weiße Polarstern, der schon verlässlich über dem Turm der Bapistenkirche stand, den Weg zum Burrilville-Sanatorium und zum Wasser des schwarzen Harrow Pond wies.
Eines Morgens Ende November fiel leichter Schnee, bestäubte die gefrorenen Felder mit einer dünnen Puderschicht. Das Hindernis der dichten Baumwipfel aber konnte er noch nicht überwinden, sodass der Boden im Wald trocken und nackt blieb. Nachdem ich ungefähr drei Kilometer gelaufen war, ging ich über eine bereifte Heuwiese und kreuzte die alte Vaughan Road, eine schmale gepflasterte Straße, die an den Ufern einsamer Teiche entlangführte, den Bezirk von Nordwesten nach Südosten durchschnitt und sich durch die Silberahorne und Krüppeleichen des Waldes wand.
Wenn ich mir die Szene jetzt in Erinnerung rufe – den wirbelnden Schnee, das graue Licht über den mit Raureif bedeckten Weiden –, dann meine ich, ihn zuerst ungefähr hundert Meter vor mir gesehen zu haben, als er sich am Rande meines Gesichtsfelds in der Vaughan Road vor dem Hintergrund der reglosen, bereiften Bäume bewegte. Wenn ich mich richtig erinnere, spürte ich danach den festen Untergrund der gepflasterten Straße unter den Füßen und beobachtete nun aus den Augenwinkeln einen gebeugten, wettergegerbten kleinen Mann mit Nickelbrille, der grimmig auf seinen Pfeifenstiel biss; er trug wie ich eine dunkle Entenjägerkappe mit hochgestelltem Schirm und heruntergezogenen Ohrenklappen; das Kinnband saß stramm und schnürte das Kinn ein, sodass es aussah wie eine rote Kartoffel. Der Mann ging mit abgehackten, fahrigen Bewegungen über die Vaughan Road; die Augen auf den Boden gerichtet, schien er ununterbrochen brummelnd und fluchend vor sich hin zu reden. Ab und zu blickte er auf; seine Augen waren hart wie Granit, hielten Freund und Feind auf Abstand – meine Mittagsdose hörte auf zu schwingen, als dieser Blick mich aus dreißig Meter Entfernung traf.
Wenn der Mann den Kopf hob, spannte er den Hals so an, dass der Adamsapfel wie eine Erdbeere in der faltigen Kehle hervortrat; man sah die blauen geschwollenen Adern an der Schläfe, als er den Kopf wieder in den Wind neigte. Dann war er an mir vorbei, und ich sah ihn von hinten: seinen schlenkernden, ruckartigen Gang, den alten, unter einem rotschwarz karierten Mackinaw gebeugten Rücken, die Wirbelsäule knotig und verdreht, unmenschlich verbogen, Gelenke und Knorpel geprägt durch eine lange Geschichte schweißtreibender Anstrengungen.
Jedes Mal wenn er seine harten schwarzen Hitchcock-Stiefel zu einem Schritt hob, musste er sein ganzes Gewicht auf das andere Bein verlagern, die behandschuhten Hände streckten sich in die Luft, die Hosenbeine schlotterten um die spindeldürren Oberschenkel, der ganze Mann schaukelte und rollte – langsam, mühevoll – über das löchrige, ausgetretene Straßenpflaster.
Dann war ich vorbei und sah nur noch die dunkle, zarte Silhouette des Waldes. Die schwarz angelaufene Taschenuhr meines Großvaters Harper zeigte sieben Uhr achtzehn, ich spürte den leichten Druck des Kompasses in meinem Handschuh, wusste, dass die Nadel zitternd nach Norden zeigte, und der alte, früh aufgestandene Wandersmann hatte sich zwischen den klar umrissenen Bäumen verflüchtigt, zurück blieb nur noch verwehender Atem, ein ferner Fleck auf der Straßenoberfläche.
Eines Abends Anfang Dezember – es war wohl die zweite Dezemberwoche: rote, blaue und sanftgelbe Weihnachtslichter zierten das Fenster der Bäckerei – hörte man das scharfe Knacken hart aneinanderschlagender trockener Zweige, und in der Nacht fauchte der Wind unter einem blinkenden Halbmond, Blitze zerrissen die Dunkelheit, der Donner rollte über die Dächer von Wilkes, und im Schein der Straßenlaternen an den Ecken unseres Hauses in der Main Street sah man die obersten Äste der Bäume wild zucken und schlagen. Am nächsten Morgen wehte der Wind wie ein dünnes kaltes Tuch, das der Sturm hinter sich herzog. Ich machte mich auf den Weg zum Sanatorium, vorbei an abgerissenen dürren Zweigen und ganzen Büscheln von Immergrün, die der Sturm vor sich hergetrieben und schließlich irgendwo liegen gelassen hatte. Äste hingen zersplittert und verdreht im Unterholz, das vom Wind nach Süden gekämmt worden war. Ich schwang mich an der Vaughan Road über das Gatter zur Heuwiese und marschierte im Eiltempo meiner Arbeit und den Alten entgegen, der Wind strich jetzt dicht über dem Boden und fuhr mir um Knie und Knöchel; am Himmel trieben Wolkenfetzen. Ich hielt den Kopf gesenkt; hinter mir knackte und rauschte das Gehölz im Wind, als ob sich die Bäume Geheimnisse erzählten.
Und da war er wieder, tauchte aus dem Nichts auf wie eine Geistererscheinung – wie eine Märchengestalt, die vielleicht mein Großvater Harper an einem Winterabend vor langer Zeit heraufbeschworen hatte. Im spärlichen Morgenlicht schlurfte er mir über das rissige Pflaster entgegen, eine gebrechliche, fast durchscheinende, braunfleckige Hand fest am Pfeifenkopf, das Kinnband der Mütze hing lose und schlug ihm leicht gegen den Adamsapfel, er segelte in Schräglage wie ein altes Schiff im Fahrwasser über die Straße. »Bleib stehen, Junge!«, brüllte er im Kommandoton eines Generals – er verzerrte den Mund und spuckte die Worte aus dem Mundwinkel ans Licht und in den Wind.
»Willst du wohl stehen bleiben! Holla!«
Ich blieb, wo ich war, umklammerte mit den Fingern einer Hand den Griff meiner Mittagsdose, umschloss mit der anderen den Kompass, hielt mich auf diese Weise im Gleichgewicht und sah ihm zu, wie er mir entgegenstrebte, und fragte mich, was er Seltsames von mir wollte. Als noch gut zwei Meter Straße zwischen uns lagen, blieb er stehen – der Abstand zum Mitmenschen, der in unserer Gegend als Höflichkeit galt. Er riss sich die Pfeife mit einem Ruck aus dem Mund, um das angeschlagene Ende des Stiels auf meinen Nasensattel richten zu können, kniff die Augen hinter den dicken Brillengläsern zusammen und sagte: »Was zum Teufel denkst du dir eigentlich dabei, Junge? Kannst du mir das verdammt noch mal erklären? Antworte gefälligst!«
Ich trat einen Schritt zur Seite, wich unmerklich zurück, suchte nach einer Antwort, fand aber keine, die nicht genauso lächerlich oder abstrakt wie die Frage des alten Mannes gewesen wäre. In der Pause fiel die Pfeife wie ein Hammer herab, zuckte dann wieder nach oben, und das Gesicht des Alten verzerrte sich vor Zorn.
»Wie heißt du, Junge?«
»Harper, Sir.«
Er steckte sich die Pfeife zwischen die Zähne und brummelte: »Harper von der Bäckerei? Ist das dein Vater?«
»Ja, Sir.«
»Ezra Harper dein Großvater? Der hier oben Heuwiesen hatte?«
»Ja, Sir. Aber er ist vor ein paar Jahren gestorben.«
Er fischte einen abgewetzten Tabaksbeutel aus der Tasche seines Mackinaws. Und dann klopfte er die Pfeife an seinem Hüftknochen aus, hielt den Pfeifenkopf immer wieder ins Licht und spähte kritisch hinein, blinzelte und brummelte tief in der Kehle. »Wie oft bist du über mein Feld da drüben gelaufen, was schätzt du?«, fragte er und zeigte mit dem Kinn in Richtung der Weide, die Pfeife zitterte dabei in seiner Hand. »Im letzten Monat oder so, was meinst du, Harper – sag schon!«
Aber ich konnte nichts dazu sagen. »Ich weiß nicht«, stotterte ich leise, und die Pfeife senkte sich wieder und kam schließlich im Tabaksbeutel zur Ruhe.
»Aber ich weiß es«, sagte der alte Mann und grub abwesend im Beutel, hinter ihm flogen dunkle Tabakkrümel auf die Straße. »Dreiundzwanzigmal – streite das ja nicht ab –, ich hab mitgezählt. Du hast Land betreten, das nicht dir gehört, Junge. Mein Land. Verstehst du mich?«
»Ja, Sir.«
»Lass das dämliche ›Ja, Sir‹«, brüllte er. »Du kannst mir den ganzen Tag lang dein ›Ja, Sir‹ erzählen, das nützt dir gar nix«, und er kniff die Lippen zusammen, während der Wind auffrischte und ihm auf Wangen und Brille drückte.
»Jetzt hör mal zu: Ich bin imstande und zeig dich an, Harper. Das ist Landfriedensbruch. Geb keinen Pfifferling auf Leute, die mein Land unbefugt betreten, nein, Sir, das tu ich nicht.«
Er steckte sich die gestopfte Pfeife zwischen die Lippen, presste den Daumen wie einen Korken auf den Pfeifenkopf und ließ sie, während er weiterredete, ständig auf und ab hüpfen. »Dein Großvater hat auch nix von denen gehalten«, warf er dann ein. »Nicht dass ich wüsste. Wundert mich, dass er dir das nicht abgewöhnt hat, unbefugtes Betreten und so was. Kommt mir komisch vor. Bist du wirklich ein Harper?«
»Das bin ich«, sagte ich »Ich bin nach ihm genannt, Sir. Ezra.«
Der alte Mann schüttelte verstört den Kopf.
»Na ja, ist auch egal«, seufzte er. »Wir beide müssen uns jetzt über das Thema Reparationen unterhalten, Junge – weißt du, was Reparationen sind? Genau das, was das Wort sagt. Du hast Schaden angerichtet, und jetzt musst du ihn reparieren. Damit kannst du vielleicht verhindern, dass ich dich anzeig. Fair ist fair, verstehst du. Sagen wir: Du arbeitest das bei mir ab, einen vollen Tag lang, und die Sache ist in Ordnung, was mich betrifft. Nicht zu viel verlangt als Gegenleistung, wo du so oft auf meinem Feld rumgetrampelt bist, verstanden, Harper?«
Er holte ein Streichholz aus der Brusttasche seines Mackinaws, strich es mit einer zittrigen Bewegung über seinen Hosenboden, zog dann die Stirn kraus und fluchte, als es zwar aufflackerte, aber vom Wind sofort ausgeblasen wurde, warf es weg und riss ein zweites an, worauf der Vorgang sich wiederholte, nur dass seine Flüche nun kräftiger und länger wurden – verdammter Wind, Scheißhöllensturm, verflucht noch mal! –, während das brennende Streichholz zwischen den dreckgeschwärzten Fingern erlosch. Mit der anderen Hand zog er sich die Pfeife wieder aus dem Mund, schmatzte vernehmlich und sagte: »Den Weg muss ich ja nicht beschreiben – paar Hundert Meter zurück auf der Straße und dann das erste Haus – überdachter Stellplatz davor – den Tag kannst du dir aussuchen, Junge, aber Samstag ist immer am besten – gleich frühmorgens, ist das klar? Irgendwelche Einwände, Harper?«
Aber ich wusste wieder nicht, was ich sagen sollte. »Also dann, komm pünktlich, Junge. Samstag früh« – der alte Mann sagte das, als wäre es ein Verweis. Und ich stimmte zu, indem ich nicht widersprach, und ging durch die reglosen schwarzen Eichen des Waldes davon, auf meinem Weg zum Burrilville-Sanatorium.
Der alte Mann auf der Vaughan Road erinnerte mich an meinen Großvater, und unterwegs gingen mir Bilder von ihm durch den Kopf, an die ich auch jetzt denken muss: Erinnerungsfetzen, die vielleicht nur auf Wehmut und Sentimentalität beruhen. Einmal krochen er und ich in seinem Werkzeugschuppen auf den Knien herum und suchten nach dem Bohrerschlüssel – meine einzige verschwommene Erinnerung an sein Gesicht, ein offenes freundliches Gesicht, so hager wie das meines Vaters. Ich sehe ihn vor mir, wie seine gewaltigen, prachtvollen Hände zwischen den gelockten Hobelspänen auf dem Lehmboden suchend umherfuhren; wie ich, seinem breiten Rücken folgend, durch den Kiefernwald hinter seinem Heuschober lief. (Hier war mal ein Apfelgarten, erklärte er mir und streckte sich in der kräftigen Brise des Frühlingstages – ist jetzt alles von den Weißkiefern da überwachsen. Hat sowieso nicht viel getaugt … zu sandig … die Äpfel schmeckten nach Blech – waren meistens Kochäpfel. Siehst du da unten? Wo mein Finger hinzeigt? Den alten Sumpf? Das war mal ein Teich, Ezra. Hast du die Stelle gefunden? Den haben wir selbst gegraben, im Sommer haben wir da gesessen … mein Gott, mein Gott … aber hier, wo wir jetzt stehen, da waren überall Apfelbäume …)
In seinem Keller hatte er Werkzeuge, die jetzt gar nicht mehr hergestellt werden – ein Breitbeil, ein Spaltmesser, einen handgemachten Rundschäler –, diesen Keller hatte er selbst ausgehoben, als das Haus schon gebaut war, bei Mondlicht und dem Schein einer Petroleumlampe und ohne einmal den Kirchgang zu versäumen, während mein Vater Schubkarren voll Erde und Steine und Wurzelwerk in den Wald beförderte und auskippte.
Es ging das Gerücht, dass Ezra Harper in seiner Freizeit bei Zusammenkünften in Fabriken und Bürgerversammlungen aufrührerische Reden geführt hätte; einmal hatte er sich mit einer Schrotflinte aus Versehen ins Knie geschossen; eines Nachts hatte er einen Mann durch ein Kneipenfenster geworfen. Geschichten hatte er erzählt von einem Mann namens Flinch und seiner Wünschelrute in der großen Dürre, von Liebespaaren, die ihm in dem Herbst Äpfel stahlen, als Truman in der Nähe eine Wahlveranstaltung abhielt, von einer durchzechten Nacht, einem Tonkrug und einer Schlägerei im Wald – immer spann er sein Garn mit ernstem Gesicht, aber seine Mundwinkel verrieten ihn. Und als ich an diesem Morgen unterwegs zur Arbeit und zu den Alten war, sah ich ihn glasklar vor mir, wie an jenem rauhen Herbsttag tief im Wald, nachdem wir kilometerweit durch überfrorenen Schlamm, über Blätter, die unter unseren Füßen zu Pulver zerfielen, über Hügel und durch Senken und modrig riechende Sümpfe mit stillen kümmerlichen Pappeln gelaufen waren. Auf einmal war mein Großvater Harper stehen geblieben, irgendwo in dem endlosen Wald, hatte mit den Stiefeln prüfend aufgestampft und dann mit dem Finger auf eine ungewöhnliche Gruppe von großen Steinen gewiesen.
»Da hab ich deine Großmutter begraben«, hatte er gesagt, ganz nüchtern und sachlich, und wir beide hatten schweigend dagestanden – das schwierigste Schweigen meines Lebens. Wir standen vor den Steinen und sahen sie an, bis er sich am Kopf kratzte und noch einmal mit den Stiefeln aufstampfte und mich dann durch den dunklen Wald zu einer Stelle führte, an der Quellwasser aus einem Spalt zwischen den Wurzeln einer Kastanie sprudelte.
EDWARD STONE stand in schwarzer Farbe auf dem Briefkasten. Als ich am Samstagmorgen an seinem Haus eintraf, hatte es gerade angefangen zu schneien. Der Schnee fiel zögernd, friedlich und still. Und der alte Mann trottete mir entgegen, als ich den Weg zu seinem kleinen Holzhaus hinunterging – es hatte eine altmodische, moosbewachsene Verschalung, eine Veranda mit Schnitzwerk, einen hohen Giebel und einen Schornstein, über dem graue Rauchfetzen standen. Er trug ein aufgerolltes Seil über der Schulter, die immer kalte, immer glutlose Pfeife diesmal schräg im Mundwinkel, sodass sie nach Westen zeigte, während er nordnordwestlichen Kurs nahm, um mir an der Ecke seines überdachten Stellplatzes gegenüberzutreten.
Um Ed Stones Besitz stand es nicht zum Besten. Das alte steinerne Bauernhaus war dahin, nur noch ein Trümmerhaufen – verkohlte Dielenplanken, die noch immer eigensinnig parallel lagen; ein zerbrochener Granitsockel, dessen Bruchstücke jetzt verstreut zwischen schwarzen durchlöcherten, in der Hitze eines Brandes geschmolzenen und verformten Wasserrohren aufragten; schwarzer Schutt, Steinbrocken und verkohlte Balkenstücke bedeckten Reste eines eingestürzten Herdes; von dem Kamin waren noch zwei halb zusammengebrochene Mauern übrig. Von zwei Scheunen standen nur noch die Dachsparren, die Bretter der Seitenwände lagen zwischen den Kiefern auf dem Grundstück verstreut herum, die Weide war von Baumschösslingen und Kletten überwuchert und auf der Südseite vollkommen verwildert, der Zeit und dem Wetter preisgegeben. Und was sein kleines, in den Hang gebautes Kiefernholzhaus anging, so stand es im tiefen Schatten, hatte winzige quadratische Fenster, die auf die verwilderte Weide hinausblickten. Die Tür öffnete sich auf Unkraut und Trümmer.
Ich schlug mir den Schnee von den Schultern und folgte Ed Stone – hier lang, Harper, aber ein bisschen munter – vorbei an seinem Holzschuppen und dem leeren Hühnerstall unter den Kiefern, bis er in etwa zehn Meter Abstand vom Giebel seines Hauses stehen blieb und nach oben in die schlanken, ausladenden Äste einer amerikanischen Ulme wies. Sie war fast dreißig Meter hoch und auf halber Höhe abgebrochen wie ein Bleistift. Von der Bruchstelle aus hingen die restlichen Meter, schräg nach unten weisend, in den Ästen einer Kiefer, die den Sturz aufgefangen hatte. Dort wartete der abgeknickte Stamm schwankend, entlaubt, auf den nächsten Sturm, der ihn wie einen von den Göttern geführten Rammbock auf Ed Stones dunkles Holzhaus schleudern und es in zwei Teile zerschlagen würde.
Im halben Licht des Morgens sah der alte Mann, während er als Silhouette vor den Kiefern und der grauen Geometrie seiner Ruinen stand, genauso gekrümmt und gebrechlich und ebenso hoffnungslos erloschen aus wie die traurigen, verlorenen, sprachlosen Gestalten, unter denen ich mich gegen Bezahlung im Burrilville-Sanatorium bewegte. Seine Brille war verrutscht und der karierte Mackinaw falsch geknöpft, sodass der Kragen auf einer Seite absurd in die Höhe ragte. Ed Stone stand mit zurückgelegtem Kopf da, im Mundwinkel hing ihm eingetrockneter dunkler Speichel, die Haut am Hals war durchscheinend und blau gefroren, sein eingefallenes Gesicht spannte sich unter den prickelnden Eisnadeln des neuen Schnees; der Pfeifenstiel zitterte, der Atem kam keuchend und stoßweise wie Staub aus einem verstopften Blasebalg. Durch die beschlagene Brille blinzelte er hinauf zum abgebrochenen Stamm der Ulme, der sich hoch oben verfangen hatte und einen unwahrscheinlichen Anblick bot, weil er als Einziger quer lag und wie eine weitgespannte Schwebebrücke in den Kronen der ausnahmslos kerzengerade senkrecht stehenden Kiefern hing.
»Problem ist«, sagte er, während er den Arm aus der Seilrolle zog, »das Ding runterzuholen, ohne dass es aufs Haus stürzt.«
Und damit fing er an, mir seinen Plan auseinanderzusetzen – in feierlicher Rhetorik, als ginge es nicht darum, einen Windbruch aus den Bäumen zu ziehen und zu Boden zu bringen, sondern darum, den Delaware zu überschreiten und bei Trenton am Ersten Weihnachtstag den Briten gegenüberzutreten. Als er fertig war, legte ich mir die Seilrolle um den Hals und kletterte in eine Kiefer, die er ausgesucht hatte, schlang einen festen Knoten in das Seilende, um es schwerer zu machen, warf es über den abgeknickten Stamm der Ulme und sah zu, wie es unten ankam. Ed Stone machte fünfzehn Meter unter mir eine Schlinge daran, und ich warf auch das andere Ende des Seils hinunter, damit er es durch die Schlinge ziehen konnte. Das tat er mit zittrigen Händen, während ich mich wieder aus der Kiefer hinunterarbeitete und dabei einen Blick auf die verwilderte Weide und das trapezförmige Chaos der düsteren Farmhausruine warf.
Der Schnee sammelte sich allmählich als weiße Staubschicht an allen Stellen, die nicht vom Dach der Äste geschützt waren, in Vertiefungen und Mulden und auf dem Pfad, der von der Ruine zur Holzhaustür und weiter zu dem überdachten Stellplatz führte, er bildete weiße Striche auf den Graten offenliegender Äste und ließ sich auf dem Schrägdach und den obersten Kaminsteinen des dunklen Holzhauses nieder, breitete eine glitzernde weiße Decke über die Ruine, die verstreuten Bruchstücke des geborstenen Sockels, die nackten, ragenden Rohre, die schwarz verkohlten Balken, die nebeneinanderliegenden Bodenbretter, die Reste der Dachsparren und Holzstücke, die auf den Überbleibseln des kalten Steinherdes aufgehäuft waren. Der erste stetige, zuverlässige Schneefall des Winters hatte im Ernst begonnen, er wurde stärker, als das graue Licht, aus dem er kam, hinter den Wolken allmählich dichter wurde, bis der ganze Himmel ein einheitliches Grau war – das alte vertraute erdnahe Licht war nur noch unterhalb der Kronen von Ed Stones Bäumen zu erahnen.
Ich habe nicht gesehen – auch wenn ich es mir in der Erinnerung ausgemalt habe –, wie der alte Mann über den Eckstein seiner Ruine stolperte und hinfiel. Ich hatte ihn unter den dunklen Bäumen zurückgelassen und mich auf den Weg gemacht, seinen Pick-up zu holen, der in unserem Schlachtplan eine wichtige Rolle spielte. Als ich losging, ließ er die Schlinge nach oben laufen, ging dabei steifbeinig zwischen den Kiefern rückwärts, mit zurückgelegtem Kopf ins graue Licht blinzelnd. Die Schlinge glitt zuerst glatt nach oben, kam dann aber, weil die Spannung des Seils geringer und die Schräge flacher wurde, je weiter Ed zurückging, ins Stocken. Und dann stürzte Ed, niemand war dabei, es war ein unglücklicher Zufall, weiter nichts. Ich hörte seinen Schrei – gedämpft und kraftlos – durch den fallenden Schnee.
Ich machte kehrt und lief den Weg wieder zurück, ganz plötzlich fühlte ich mich so allein, dass ich meinen eigenen Atem überlaut hörte; ich fand Ed Stone, er fuhr suchend mit den Händen über die Kante seiner Hausruine, sein eingefallenes Gesicht eine Grimasse des Erstaunens, gezeichnet von Reue und Selbstvorwürfen, seine Nickelbrille schief und verbogen. Die vertraute Pfeife, die zu ihm gehörte wie Finger und Hände, war nirgends zu sehen, und das Seil schwang wie ein langsam zur Ruhe kommendes Pendel drei Meter vor ihm durch den herabrieselnden Schnee. Verbissen, wild entschlossen, linkisch und grotesk – wie ein Zugpferd, das sich das Bein gebrochen hat und sich nun schaumbedeckt am Boden wälzt und nicht begreifen kann, dass die Schwerkraft und die Erde es niederhalten –, versuchte der alte Mann hochzukommen, hielt sich an den alten Mauerresten fest, zog sich empor, sackte wieder zusammen, suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, Boden unter die Füße zu bekommen. Sein Gesicht bekam einen neuen Ausdruck, Schmerz überlief ihn, brannte in seinen Augen – der alte Narr hatte das linke Wadenbein belastet, den Knochen, den er sich bei seinem Sturz gebrochen hatte. Er fiel auf die Seite. Zusammengezogen wie zerknittertes Papier, umklammerte er das gebrochene Bein mit beiden Händen und weinte ohne Scham im Schnee zwischen den Ruinen seines alten Hauses.
Ich hob ihn vorsichtig hoch – er war leicht wie ein neugeborenes Kalb – und trug ihn vor mir, einen Arm in den Kniekehlen, einen unter den Schulterblättern, ängstlich darauf bedacht, dass das unnatürlich nach außen abgeknickte Bein nicht berührt wurde, in das warme Innere seines Hauses. Durch den reinen Schneeduft drang sein starker Körpergeruch zu mir. Ed roch nach mürben alten Buchseiten, Mörtelgefäßen im Keller, getrockneten Pilzen und Zahnpasta. Der alte Mann wimmerte und weinte Tränen, die mich ratlos machten vor Schuldgefühl und Scham, sein Gesicht war mir so nahe, seine Augen gingen feucht hinter den dicken Gläsern seiner Brille hin und her, er weinte ohne jeden Mut, was mir damals unbegreiflich, unmöglich erschien.
Drinnen war der Ofen fast erloschen, das Haus dunkel wie eine Höhle und erfüllt von beißendem Holzrauch. Ich ließ den alten Mann aus meinen Armen vorsichtig auf sein ungemachtes Bett im Alkoven des einzigen Zimmers gleiten; er fiel matt in sich zusammen, atmete keuchend und blickte starr auf den schwarzen Ruß, der wie dicke Paste an den Dachbalken klebte. Ich rief den Arzt in Wilkes an – damals machten Ärzte noch Hausbesuche –, brüllte laut in den Hörer, der zur Antwort rauschte und knackte – und dann hängte ich ein und wartete, hatte keine Worte für das, was geschehen war, horchte stumm auf das Ticken einer Uhr, die irgendwo ohrenbetäubend die Zeit anzeigte, und fütterte den Ofen mit Ahornscheiten.
»Möchten Sie eine Decke?«, fragte ich, als das Feuer gut zog.
»Nein. Ich brauch keine Decke.«
»Brauchen Sie sonst etwas?«
»Geh nach Hause, Junge. Die Arbeit ist zu Ende.«
Ich setzte mich an den Esstisch.
»Der Doktor kommt gleich«, sagte ich. »So lange warte ich noch.«
Der alte Mann knurrte und hüllte sich in seiner Ecke in Schweigen.
Fünfzig Minuten später richtete Doc Schofield das Bein. Gegen Mittag kam Vic Crowell die Vaughan Road herunter und zog die abgeknickte Ulme mit seinem Schneepflug herunter. Sie fiel in die Trümmer des alten Hauses, und ich nahm Ed Stones Kettensäge und zerlegte den Stamm zu Feuerholz.
Um halb drei kam Ed Stones Sohn aus West Putnam, Connecticut, wo er Chef der örtlichen Feuerwehr war. Er fragte mich, was passiert sei. Ich erzählte ihm alles. Er gab mir fünf Dollar, und ich ging im grauen Licht des Waldes nach Hause.
Der Frühling kam, nicht zögernd und bescheiden wie in der Gegend, in der ich jetzt wohne, sondern rauschhaft, gierig, zügellos, mit grellem Sonnenlicht.
Im Sanatorium war die Reaktion auf diese Veränderung schwach, nur eine Meditation über Licht und knospende Bäume und sprießendes Gras, nur die Wahrnehmung, dass der Wind vom Feind zum Verbündeten geworden war. Wenn festliche Stimmung aufkommen wollte, wurde sie sogleich gedämpft und überlagert von der Empfindung der Kontinuität in allen Dingen – das Leben dort war wohl schon jenseits von Jahreszeiten, so kam es mir wenigstens vor, wenn ich meine Schützlinge in ihren Rollstühlen zum Harrow Pond fuhr, wo das leuchtende Grün des Sumpfgrases und die Sonne auf dem schwarzen Wasser nur zu mir allein unter den versammelten stummen Alten zu sprechen schienen.
Eines Tages, als gerade niemand darauf achtete, waren plötzlich wieder Blätter an den Bäumen, die Erde wurde weich, Lerchen flatterten über den Teich, aber im Sanatorium blieben die Kerben der vergehenden Zeit konstant, dauerhaft fixiert, ohne Rücksicht auf Jahreszeiten und den Winkel des Sonnenlichts. Man starb im Bett, wie Mrs. Curfall, die mit ihrer handgestickten Tasche neben sich schlief, unter den Laken zusammengekauert, nicht größer als ein zehnjähriges Kind; oder man wurde in aller Stille nach Boston in eine Klinik gebracht, wie Mr. Oslough, der bei jedem Wort heimtückisch von seinem Kropf gewürgt wurde.
Es kam auch vor, dass jemand einen kleinen Sieg errang, zum Beispiel einen Blumenstrauß pflückte oder ein Bild vom Teich malte, oder dass eine Spielgruppe ein langes Canasta-Turnier zu Ende führte und die Teilnehmer mit dem Abglanz eines Lächelns im Gesicht Tee tranken. Oder aber jemand starb ganz plötzlich. Mrs. Tullis zum Beispiel, in den Achtzigern, größer als ich, beinahe kahlköpfig, stumm und ernsthaft, kippte einfach um und stand nicht mehr auf, während die anderen wortlos zusahen und auch später keine Worte fanden.
An einem hellen, frischen Morgen Ende Mai sah ich Ed Stone wieder, fünf Monate nach seinem Sturz an der Ecke seiner Ruine. Ich stand am Ufer des Harrow Pond neben Mrs. Kennaugh, die in ihrem Rollstuhl mit offenem Mund fest schlief, ihre Augäpfel flatterten unter den geschwollenen Lidern, ihr endloses Strickzeug, für alle Zeit mit Nadeln versehen, baumelte von ihrem Schoß herunter – da schob Ed Stone Junior, der Feuerwehrchef aus West Putnam, seinen alten Vater im Rollstuhl über den Weg, der sich durch das Kiefernwäldchen schlängelte und am Rand des Teiches endete. Er hielt an, blockierte die Räder am Rollstuhl und stand neben seinem Vater und mir, breitbeinig, die Arme verschränkt. Der alte Mann saß ohne jeden Ausdruck da, das Gesicht leer wie eine abgewischte Schiefertafel, die Schuhe schief auf der Fußleiste, und blickte auf das schwarze Wasser hinaus.
»Sieht nach Sturm aus«, sagte der Sohn – aus meiner Sicht auch schon alt, ein kräftiger Mann, der Bauch wie ein gusseisernes Öfchen, mit freundlichem Gesicht – und streckte oder rammte vielmehr einen Finger in den Westen, wo sich Gewitterwolken am Horizont türmten. Das Licht traf den Teich golden und voll mit klaren senkrechten Strahlen, als ob Stücke der Sonne selbst aus dem Himmel herunterbrachen, aber im Westen, noch so weit entfernt, dass es wie eine Fata Morgana wirkte, sammelte sich ein düsteres Grau.
Mir kam Ed Stone im ganzen kleiner vor, sein Hemd hing sackartig an ihm. Seine Brille saß ihm sehr wacklig auf der Nase, seine Knöchel waren von schwarzen Socken umhüllt und verschwanden spindeldürr in seinen Schuhen. Wie er so auf die Wasseroberfläche hinunterstarrte, fand ich sein Gesicht im Profil fahl und eingefallen; die fleckigen Hände lagen zitternd auf den Knien, der Kiefer bewegte sich kauend. Er wirkte wie ein Mann, der aus Pulver gemacht ist und sich mit dem kleinsten Wind in Staub auflösen könnte, der dann über den Teich trieb. Das einzig Feste an ihm schienen Hemd, Hose und Schuhe zu sein. Er hatte keine Pfeife mehr, und die Zähne fehlten, weil sie vergessen oder nutzlos geworden waren; die gesamte untere Partie seines Gesichtes um die Mundöffnung herum war eingesunken. Die Venen in den Schläfen sahen flacher und dunkler aus, das Gesicht wirkte im ganzen weniger streng und gedankenverlorener. Er schien sich daran gewöhnt zu haben, im Sitzen und ohne eigenes Zutun durch die Welt bewegt zu werden – auch wenn aus der starren Haltung seines Körpers hervorging, dass er nicht damit einverstanden war. Seine Augen schwammen unruhig wie Elritzen hinter den Brillengläsern.
»Wir werden dir wohl deine Angelrute herschaffen müssen, Dad«, sagte der Sohn betont munter und legte dem Alten die Hand auf die Schulter. »Eine Masse Barsche in diesem Teich.«
Mrs. Kennaugh wurde unruhig, schniefte, hatte kurzzeitig Probleme mit dem Atmen, dann fiel ihr Kopf auf die linke Schulter. Eine Pflegerin von einer anderen Station kam vorbei, sie schob ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen im Rollstuhl, ein Kind mit Schaum vor dem Mund, das wild gestikulierte und in einer wirren unverständlichen Sprache guttural vor sich hin brabbelte und die Hände der Sonne entgegenstreckte. Sie hielten zwanzig Meter weiter am Ufer an, und die Pflegerin begann, Steine über die Wasseroberfläche hüpfen zu lassen. Das Mädchen, das fest angeschnallt war und sich die blassen Arme wild um die Ohren schlug, jubelte bei jedem gelungenen Wurf. Eine Kanevasente schwamm über den Teich, glitt über die Blätter der Wasserlilien, tauchte dann und verschwand geschmeidig und lautlos in der Schwärze.
Mittags brachte ich dem alten Mann Essen in das Zimmer im dritten Stock am Ende des Flurs, das er mit Mr. Lloyd teilte. Er saß allein, dem Licht zugewandt, das spärlich durch das einzige Fenster seiner Zelle fiel, er wirkte so karg und unscheinbar und reglos wie die grauen Stahlrohrbettgestelle und der Waschtisch und der niedrige Nachttisch, auf dem ich jetzt seine Pfeife, sein Gebiss am Boden eines gefleckten Wasserglases und ein schwarzes Brillenetui liegen sah. Mr. Lloyd lag bis zum Kinn zugedeckt im Bett, starrte zur Zimmerdecke hinauf, ohne etwas Bestimmtes zu sehen, und massierte sich geduldig und nachdenklich die dicken Venen an den Schläfen. Drei oder vier Fliegen kreisten summend über ihm, aber Mr. Lloyd schien es nicht zu bemerken, und so wurden auch die Fliegen zu einem Teil des lastenden Schweigens im Zimmer.
»Ist das Frühstück?«, fragte Mr. Lloyd. »Zu früh für Frühstück. Ich glaub, Robert kommt gleich. Wir fahren nach Hause.«
Ich schlug seine Decke zurück, nahm das Katheterröhrchen ab und die Bettpfanne weg.
»Ich bring die Waschschüssel«, sagte ich. »Mr. Stone, müssen Sie vor dem Essen zur Toilette?«
Er drehte zittrig den Kopf, und in seine rotgeränderten Augen trat der Ausdruck traurigen Wiedererkennens, gepaart mit einem Stolz, der durch meine Anwesenheit und meine Frage hervorgerufen wurde. Seine Lippen wurden schmal, und er wollte offenbar etwas Strenges sagen – schließlich war ich es, der im letzten Winter unbefugt sein Land betreten hatte –, was aber ohne Zähne nicht möglich war. Ed Stone drehte seinen Rollstuhl herum und sah mich an, rollte dann zum Nachttisch und setzte sich das Gebiss sorgfältig und genau ein. »Toilette«, sagte er und sog an den Backenzähnen. »Toilette? Danach hast du mich gefragt, Junge?«
»Ja, Sir«, sagte ich. »Ich geh jetzt sowieso da runter, weil ich die Bettpfanne ausleeren muss, und Sie könnten gleich mitkommen, wenn Sie wollen.«
Mr. Lloyd hob den Kopf vom Kissen und sagte: »Ist das Robert? Ich hör noch gut, wissen Sie. Sehen Sie das hier? Mit dem Gerät kann ich nach der Schwester klingeln. Sie ist sehr beschäftigt.«
Ich schob sein Katheterröhrchen wieder auf, drückte es in die Halterung am Rand einer sauberen Bettpfanne und deckte ihn wieder zu.
»Besten Dank«, sagte Mr. Lloyd.
»Gern geschehen.«
In der Tür drehte ich mich um und sah über die Schulter zurück.
»Kommen Sie?«, fragte ich.
Ed Stone umklammerte die Armstützen seines Rollstuhls, und dann tasteten sich seine Finger zu den Rädern, und er drehte sie sorgsam in meine Richtung, den Kopf hielt er gesenkt. »Nein, ich komme nicht«, antwortete er vom Fußende seines Bettes aus und lenkte den Rollstuhl wieder zu dem grauen Fenster, hielt zitternd an und starrte hinaus. Mr. Lloyd ließ den Kopf aufs Kissen fallen und fing wieder an, seine schwärzlichen Schläfen zu kneten.
»Macht, was ihr wollt, Leute«, sagte er zur Zimmerdecke, zu den Fliegen, die da herumschwirrten. »Macht, was ihr wollt. Nur zu. Bitte!«
In der Ferne grollte Donner – das Gewitter, das von Connecticut herübergezogen war, kündigte sich an. Eine Wanderdrossel ließ sich draußen auf dem Fenstersims nieder. Sie hüpfte zweimal, gewichtlos und tänzelnd in ihrem schimmernden Gefieder, ruckte leicht mit dem Kopf, kaum dreißig Zentimeter von Ed Stones Augen entfernt, und schwebte dann wieder hinaus zwischen die Kiefern.
Am Morgen fanden sie ihn mit dem Gesicht nach oben unter der Wasseroberfläche des Harrow Pond, in den Schlingpflanzen verfangen, mit weit offenen Augen in die Sonne und die Wolken starrend. Den Rollstuhl hatte er am Rand des Weges stehen lassen, irgendwann in der Nacht, die sternklar geworden war, nachdem das Gewitter sich verzogen hatte. Auf Krücken war er zum Südufer gehumpelt, hatte die Brille abgesetzt, ordentlich zusammengeklappt und auf das Nadelpolster unter eine junge Kiefer gelegt, dann die Krücken im Mondlicht gegen den schlanken Stamm gelehnt. Ruhig hatte er sich aus dem Mackinaw geschält, dem, der genauso aussah wie meiner – ich habe ihn immer noch, mein Sohn trägt ihn zum Fischen –, und das Kleidungsstück über einen niedrigen Ast gehängt, Pfeife und Tabaksbeutel steckten in den Brusttaschen. Dann stand er da, hinter ihm das Kiefernwäldchen, vor ihm der Teich; er zitterte in der kalten Nachtluft. Barfuß kroch er in das kalte Wasser – die schwarzen Hitchcock-Stiefel hatte er ausgezogen und auf dem Kies abgestellt, die Socken steckten in ihnen –, schwamm, das nutzlose lahme Bein mitziehend, bis in die kalte Mitte des Teiches. Am Ende – und es kam schnell, sein Atem ging schwer – erreichte er einen Ort, an dem nichts mehr zu entscheiden war, die Lichter am Himmel glitten fort, und er fiel mühelos durch einen Schleier, einen Schoß, die Wasseroberfläche wich vor ihm zurück, unwiderruflich, es war unmöglich, und doch wich sie zurück, es war, als hätte er das bewirkt; es war, als bewegte er sich im Traum durch einen Tunnel, als hätte er sogar die Zeit, sich darüber zu wundern, dass Denken ohne Atmen möglich war, und in einem Wirbel, der ihn barg und zugleich ins Grundlose zog, sann er darüber nach, was die richtigen letzten Gedanken sein mochten, und die Gedanken, die ihm kamen, waren alle, alle trivial, besonders das Nachsinnen selbst war trivial, und das war sein letzter Gedanke, denn aus der Lähmung seines Körpers heraus bemerkte er nichts mehr, nur dass da nicht viel Licht war oder dass alles auf seltsame Weise hell erleuchtet war, denn das Licht und die Dunkelheit waren eines, vereinigt – und schließlich verschwand auch das.