An der »Last Stop Grocery« hielt Carl James an.
»Guck dir die an!«, sagte er zu seiner Frau.
Vier Teenager hockten an der Mauer des Ladens und tranken Bier. Sie hatten einen Kasten Hamm vor sich, rauchten Zigaretten und sahen auf die Straße hinaus.
Ich weiß genau, was das für Typen sind, sagte Carl zu sich selbst.
»Wir brauchen noch ein paar Sachen für heute Abend«, erklärte er seiner Frau, während er ausstieg. Er sah durch das Fenster in den Camper hinein, rieb sich dann das Kreuz. Es war eine lange Fahrt gewesen. »Soll ich was mitbringen?«
Louise ließ ihr Strickzeug sinken und antwortete: »Eigentlich hab ich alles eingepackt, was wir brauchen. Aber vielleicht besorgst du uns ein paar Plätzchen? Die können wir abends beim Kartenspielen essen.«
Ein Teenager ohne Hemd trug mit feuchtglänzenden Brustmuskeln einen Kasten Bier an ihnen vorbei.
»Plätzchen«, sagte Carl zu seiner Frau. »Eine besondere Sorte?«
»Nö«, sagte Louise.
»Bestimmt nicht?«, fragte Carl. »Möchtest du nicht deine Kokosmakronen?«
»Nö«, wiederholte Louise. »Diesmal sollst du mich überraschen.«
Carl sagte: »Mach ich. Warte so lange hier.«
Als er an den Teenagern vorbeiging, hörte Carl sich sagen: »Trinkt nicht alles auf einmal, Leute. Sonst macht ihr euch in die Hosen.«
Er bereute es sofort. Das war genau das Gerede, das man jungen Leuten nicht anbieten sollte.
»Alles klar«, antwortete einer von ihnen.
Carl ging in dem Laden herum und suchte sich zusammen, was er brauchte. Als er am hintersten Regal angekommen war, hatte er in seinem Einkaufswagen eine große Wassermelone, eine Tüte Käsechips, eine Büchse Bohnen und einen Karton Bier. Das Bier wollte er zusammen mit der kleinen Flasche Scotch trinken, die er in seinem Angelkasten versteckt hatte, er wollte am Abend allein am Ufer des Little Nelson sitzen, das Wasser rauschen hören und sich nach und nach betrinken.
Er ging den Gang mit den Backwaren hinunter, und in diesem Moment sah er Floyd Paxton – ein rotes Gesicht hatte der jetzt, und ein geblümtes Hawaiihemd spannte sich über seinem Bauch. Floyd! wollte er rufen. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Floyd stand da, schnaufte ein wenig und starrte auf die Obstkuchen, Torten und Krapfen.
Während Carl ihn beobachtete, kratzte Floyd sich die rote Glatze, räusperte sich laut und nahm einen Heidelbeerkuchen. Er trug Sandalen, und seine Zehennägel sahen wie verrottet aus. Als er lautlos rülpste, verzogen sich seine Lippen, und Carl sah, dass auch seine Zähne schlecht waren. Alles an Floyd war alt, verrottet und faulig. Aber es war Floyd. Kein Zweifel. Das begriff Carl sofort. Nur eben Floyd nach vielen, vielen Jahren, als fetter alter Mann.
Mein Gott, sagte Carl bei sich. Ich will das nicht sehen. Herr im Himmel.
Floyd stapelte noch zwei Obsttorten auf den Heidelbeerkuchen und schlurfte dann weiter zur Fleischabteilung.
Herr im Himmel, sagte Carl noch einmal im stillen. Das nicht. Er zahlte an der Kasse und ging hinaus. Es war ein heißer Nachmittag, ein Freitag im August; weitere Teenager waren angekommen. Zwei tranken Bier in der Fahrerkabine eines Pick-up, Rockmusik schallte durch die Fenster.
»Was is los?«, sagte einer von ihnen zu Carl.
»Nichts Besonderes«, antwortete Carl mit unsicherer Stimme. Er verstaute die Tüte mit Lebensmitteln, das Bier und die Wassermelone. »Ich hab deine Plätzchen vergessen«, gestand er Louise, als er den Camper anließ. »Tut mir leid, ich hab’s einfach vergessen.«
Louise strickte jetzt eifrig. Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe, und die Stricknadeln blitzten.
Sie sagte: »Umso besser. Wir hätten sie sowieso nicht gebraucht.«
»Höchstens wenn wir zwei Fettwänste werden wollen«, sagte Carl.
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Louise. »Bloß dass wir schon Fettwänste sind. Ich jedenfalls, und du bist auf dem besten Wege, Carl.«
Sie pikte Carl mit dem Zeigefinger in die Seite. Carl schob den Finger lachend weg.
»Heh«, sagte er. »Du bist nicht fett. Du bist gerade richtig, Louise.«
»Vernünftig essen, viel Bewegung – und Geritol«, sagte Louise schulmeisterlich.
Dann fingen beide an zu lachen. Sie kamen zu dem Wald am Flussufer. Carl sah das Schild mit der Aufschrift: NORTH FORK CAMPINGPLATZ 14 MEILEN. Einen Sommer lang hatte Carl als junger Mann auf diesem Campingplatz gearbeitet. Er hatte die Verschalung für die Feuerstellen gezimmert. Er hatte Zement gegossen. Er hatte das Gelände planiert. Er hatte geholfen, die Löcher für die Plumpsklosetts auszuheben. Zusammen mit Floyd.
Damals waren sie Teenager gewesen, Floyd und er, aber sie hatten schon richtig gearbeitet, sie arbeiteten im Wald und taten, was sie konnten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
In dem Sommer waren sie in einer staatlichen Arbeitskolonne untergekommen. Sie arbeiteten auf Staatsland mit dem Forest Service – sammelten altes Holz und verbrannten es in großen Feuern, gruben Brandgräben und legten Schneisen –, was immer der Vorarbeiter sagte, wurde gemacht.
Nach der Arbeit hatten sie sich gewöhnlich im Last Stop ein paar Flaschen Bier gekauft, Blue Ribbon. Sie hatten eine Blockhütte, Floyd und er, am Rand eines alten Apfelgartens am Fuß der Berge, dort aßen sie abends zusammen Brot mit Fleischwurst. Manchmal schwammen sie im Deer Pool am Little Nelson oder setzten sich vor den Last Stop und alberten mit denselben Mädchen herum, mit denen sie schon in der Schule herumgealbert hatten, rauchten Zigaretten und sahen den vorbeifahrenden Autos und Holzlastern nach.
Aber das war lange her, lange bevor Carl nach Seattle gezogen war und Arbeit bei der Boeing Company bekommen hatte. In Seattle war er dann geblieben. Und er hatte viel erlebt seither. Zum Beispiel hatte er zwei Kriege als Soldat mitgemacht. Seine Töchter waren erwachsen, verheiratet und hatten Kinder. Seine erste Frau war an Krebs gestorben, und Carl hatte Louise geheiratet. Im Food Circus hatte er sie kennengelernt – sie aßen Tacos und tanzten dann zusammen Polka. Sie erzählte ihm, dass ihr Mann an einem Schlaganfall gestorben war. Als sie ihre Verlobung feierten, hatte er Floyd Paxton eine Einladung geschickt, aber Floyd hatte nicht geantwortet. Carl hatte damals vermutet, er sei vielleicht tot. Und dann hatte er Floyd Paxton vergessen. Damals lag das alles schon sehr lange zurück, und es hatte keinen Sinn, immer nur zurückzublicken.
Aber jetzt erinnerte er sich wieder, fast widerwillig. An einem Samstag hatten sie zwei aufgepumpte Autoreifenschläuche mitgenommen und in den Little Nelson River gesetzt. Carl hatte an dem Tag schon vier Flaschen Bier getrunken und brach nun, bis zu den Hüften im Wasser, seine fünfte an. Auch Floyd war bei seinem fünften Bier. Sie standen beide nackt da, mit flachem Bauch, tranken Bier unter dem zartblauen Himmel und hielten die Schläuche fest, damit die Strömung sie nicht wegriss.
»Heh, Fluss, jetzt kommen wir!«, hatte Floyd gebrüllt und seine Bierflasche in hohem Bogen in den Wald geworfen.
Er packte die restlichen Flaschen in einen Jutebeutel und band ihn mit einem Stück Schnur an seinen Schlauch. Es war ein windstiller, sonniger und heißer Tag im Bergland, unberührter Wald um sie herum, und der Fluss schoss tief und reißend vor ihnen dahin.
»Fünf Bier, und du spürst keinen Schmerz«, erklärte Floyd.
»Wenn du dir den Kopf an einem Felsen im Fluss anschlägst, merkst du’s überhaupt nicht.«
»Gut«, sagte Carl. »Dann kann ja nichts passieren.«
»Kann auch nicht«, stimmte Floyd zu. »Und für alle Fälle haben wir noch Bier in Reserve. Und einen Flaschenöffner. Für Notfälle.«
Grinsend zog er den tropfenden Jutebeutel aus dem Wasser.
»So was wie’n Erste-Hilfe-Koffer«, sagte Carl.
»Kann man wohl sagen«, meinte Floyd. »So sieht’s aus.«
Sie stießen ab. Der Fluss nahm sie mit, zuerst ganz sanft, aber, wie Carl merkte, unaufhaltsam. Ringsum an den Ufern erhoben sich die geraden Stämme kräftiger Kiefern; in den weitentfernten hohen Bergen glitzerte die Sonne auf dem Schnee; die Schläuche trugen sie über die Oberfläche des Little Nelson, und die Sonne wärmte ihnen den Bauch. Wenn sie an Stellen kamen, wo Felsbrocken aus überhängenden Wänden herausgebrochen waren, paddelten sie mit den Händen gegen den Strom, bis ihre Schläuche anfingen zu kreiseln. Falls sie mit etwas in Berührung kamen, prallten sie gleich wieder ab.
Sie trieben dahin. Ihre Schläuche stießen gegeneinander. Floyd hatte schon einen Sonnenbrand auf der Nase, aber er schien es gar nicht zu merken. Mühelos, wie im Traum schaukelten sie auf dem Wasser, glitten an Hindernissen vorbei. Die Strömung hielt sie zusammen: zwei Teenager im schäumenden, reißenden Wasser.
Zusammen schossen sie durch ihre ersten echten Stromschnellen. Floyd brüllte sich durch das weiße Wasser. Carl spürte, wie er aus seinem Reifen gehoben wurde. Unter Wasser war es beängstigend ruhig, unmöglich zu sagen, wo oben und wo unten war.
Herr im Himmel, sagte Carl bei sich selbst. Es war schön und schrecklich zugleich. Sein Oberschenkel schlug gegen einen Felsbrocken. Sein Rücken stieß auch gegen irgendwas. Er bewegte sich zu schnell. Winzige Blasen waren überall. Um ihn herum war es ganz still, er trieb jetzt unter der Oberfläche oder eigentlich im Inneren des Flusses, und hier konnte man sehen, wie es wirklich war, sagte er sich, hier gab der Fluss seine geheime Wahrheit zu erkennen. Er hatte keine Kontrolle mehr über seine Bewegungen.
Als er endlich wieder nach oben kam – wie durch ein Wunder plötzlich auftauchte –, trieb sein Schlauch ein kleines Stück vor ihm. Er holte auf, schwang sich hinein und glitt wieder im weißgelben Sonnenlicht flussabwärts.
»Heh, Floyd«, schrie er glücklich, ekstatisch, über das tosende weiße Wasser hin.
Carl fuhr in einen jungen, aufgeforsteten Wald ein. Die Asphaltstraße hörte hier auf und ging in einen Schotterweg über, die Steine spritzten unter den Reifen weg. Sie fuhren durch eine weite Kurve, und Carl sah den Little Nelson zwischen den Bäumen aufblitzen.
»Da bläst er«, sagte er. »Schau mal da zwischen den Bäumen, Louise.«
Louise sah blinzelnd von ihrem Strickzeug auf. Im Schoß hatte sie einen zu drei Vierteln fertigen Pullover, ein Geschenk für die Enkelin von Freunden, mit denen sie Bridge spielten. Der Pullover hatte ein Strickmuster aus Kiefern und Rentieren – genau das richtige Weihnachtsgeschenk für ein junges Mädchen. Aber Carl wusste, die Enkelin würde es nicht zu schätzen wissen. Sie war irgendwo im Osten auf dem College, in einer Umgebung, in der sie unmöglich etwas mit einem solchen Geschenk anfangen konnte.
»Ich seh keinen Fluss«, sagte Louise, hielt die Stricknadeln hoch und starrte suchend durch das Fenster auf ihrer Seite. Auf dem North Fork Campingplatz löste Louise ihren Sicherheitsgurt, stellte sich dann so hinter dem Wagen auf, dass Carl sie im Seitenspiegel sehen konnte. Er parkte den Camper vorsichtig rückwärts ein, Louise lotste ihn mit äußerster Konzentration zwischen den dicken Stämmen der Douglastannen hindurch. Sie winkte mit den Händen so, wie er es ihr beigebracht hatte, und sah aus wie ein Matrose an Deck eines Flugzeugträgers; in seinem kleinen, hundertachtzig Grad erfassenden Seitenspiegel erschien sie wie ein seltsames Phantasiewesen, das einem gleichgültigen Sonnenuntergang Zeichen zu geben versuchte. Aber das machte ihm nichts aus. Seine erste Frau war nie mit ihm campen gefahren. In den Tagen damals war er viel im Landesinneren gewandert, hatte gefischt. Seine Frau mochte es nicht, wenn er weg war, und sie hatte sich immer gefreut, wenn er wieder nach Hause kam. Der Krebs in ihren Lymphknoten hatte sie langsam getötet. Alles in allem brauchte sie drei Jahre zum Sterben. Er hatte Männer im verschneiten Hunsrück zugrunde gehen sehen, hatte erlebt, wie in Korea Jungen von Granaten zerrissen wurden, und war nach Hause gekommen, um seiner Frau beim Sterben zuzusehen.
Er hatte Louise geheiratet, um nicht allein zu sein – das wusste er, und sie wusste es auch. Es stimmte, sie war zu dick, eine Augenweide war sie nicht, aber was machte das schon? Er hatte sie schnell lieb gewonnen, ganz unerklärlich, und er wusste, dass sie ihn in keiner Weise betrügen oder einschränken oder Ansprüche an ihn stellen würde. Sie hatte ihre eigenen harmlosen Vergnügungen. Das Stricken zum Beispiel.
»Ich geh mal kurz zum Ufer runter«, sagte Carl zu ihr, als der Camper ausgerichtet, die Räder mit Bremsklötzen blockiert, die Gasleitung für den Herd angeschlossen und der Wassertank gefüllt war. »Ich bin gleich wieder da.«
Louise sagte: »Gut, aber komm wirklich bald wieder. Ich fang schon mal mit dem Kochen an.«
Sie lächelte ihrem Mann zu. Sie drückte Carls Arm.
»Ist was mit dir?«, fragte sie.
»Eigentlich nicht«, antwortete Carl.
»Nicht, dass du mir ins Wasser springst.«
»Nein, nein«, sagte Carl. »Zum Springen bin ich zu alt.«
Darüber mussten beide lachen. Carl steckte sich die Flasche Scotch in die Tasche und ging durch die Bäume zum Fluss hinunter.
Sie hatten zwei kleine Wasserfälle überwunden. Sie schossen jetzt so schnell den Fluss hinunter, dass es unmöglich war, im reißenden Wasser noch etwas wahrzunehmen. Alles raste an ihnen vorbei. Carl fiel noch zweimal aus seinem Schlauch, Floyd zweimal im Ganzen. Als sie durch den Cañon am Pinto Rock getrieben waren und in ruhigeres Wasser kamen, machten sie auf einer Sandbank Pause und streckten sich in der Sonne aus. Carl dachte angestrengt nach. Er war betrunken, und der Fluss war gefährlich. Drei Flaschen Bier waren in den Stromschnellen zerbrochen, aber ihnen blieben immer noch neun.
Sie standen auf und trieben zusammen weiter. Es war unvergleichlich, dachte Carl. Er war restlos glücklich. Bei ruhigeren Strecken legten sie sich lang auf ihre Schläuche, verschränkten die Hände hinter dem Kopf und starrten hinauf in die Berge, die das Tal einschlossen. In den Flussbiegungen schienen die Reifen sich die tiefen Stellen zu suchen – wo die Strömung hinging, dahin trieben auch sie. Es war wie im Märchen, das Wasser sehr kalt und lichtdurchflutet, die Luft unbewegt und warm. Die Sonne stand aber schon merklich tiefer, dichter über den Bergen im Westen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie noch keinen Menschen gesehen, nicht einmal Angler.
Jenseits des North Fork, hinter der Stelle, wo North und Middle Fork zusammenfließen, kamen sie in langsamer fließendes Wasser. Sie öffneten zwei Flaschen Bier, trieben mit den Flaschen in der Hand am Campingplatz vorbei und betrachteten das Ufer.
»Sieh dir das an«, sagte Floyd.
Familien lagerten dort. Plötzlich waren viele Menschen da. Kinder liefen zwischen den Bäumen herum. Picknicktische mit karierten Tischtüchern. Autos und Frauen mit Babys im Arm. Ein ungefähr vierzehnjähriger Junge hockte auf dem Stamm einer in die Strömung gestürzten Fichte und sah ihnen sehnsüchtig nach. In der Sonne über dem Steilufer saßen Leute, aßen Würstchen und schauten auf den Fluss hinaus.
»Gott«, sagte Carl, dem plötzlich klar wurde, dass er nackt war. »Wir sind schon unten am Campingplatz.«
»Wie kann das sein?«, antwortete Floyd.
Sie trieben weiter, am Campingplatz vorüber, vorbei an den bedauernswerten Leuten, die sich dort zusammendrängten, immer weiter stromabwärts, dorthin, wo der Fluss breit und ruhig war.
»Tschüs, ihr Penner!«, hatte Floyd gebrüllt.
»O Gott, o Gott«, flüsterte Carl.
Er war jetzt zu betrunken. Sein angeschlagener Oberschenkel fühlte sich taub und unbrauchbar an. Alles änderte sich. Alles war anders. Das Wasser war jetzt grünlich, voller Schlamm und Schaum und Schleim – tiefes, trübes Wasser, hässlich. Jetzt kamen auch Moskitos und Bremsen. Die Schläuche bewegten sich sehr langsam. An beiden Ufern standen reglose Weiden.
»Heh«, sagte Carl. »Lass uns raus hier. Lass uns wieder nach oben zurück.« Aber dann fiel ihm ein, dass sie sich kaum oder gar nicht gegen den Strom bewegen konnten.
»Trinken wir erst das Bier aus«, sagte Floyd.
Er zog den Jutebeutel aus dem Wasser und legte ihn tropfnass auf seinen Bauch.
»Noch fünf«, sagte er. »Drei für dich und drei für mich.«
Sie tranken pflichtbewusst. Hier im Flachland war es beklemmend still, still und heiß, träge und drückend, zu still. Carl spürte den Sonnenbrand, die schmerzende, gespannte Haut auf seinen Schultern. Man hörte nichts, nur das Summen der Bremsen.
»Gib mir noch eins«, sagte Carl nach einer Weile. Aber er trank nur, weil er musste.
Er machte die Flasche auf – und dann, weil sie den ganzen Sommer zusammen im Wald gearbeitet hatten, weil ihre Fahrt flussabwärts nun fast zu Ende war, weil sie zusammen fischen gegangen waren und in derselben Hütte am Rand der Berge wohnten und aus vielen anderen Gründen noch, nicht zuletzt deshalb, weil Carl so betrunken war wie noch nie, erklärte er Floyd nun, er würde notfalls für ihn sterben.
»Hast du das gewusst, Floyd?«, sagte er – überdeutlich und viel zu betrunken. »Für dich würd ich sterben. Wenn es sein müsste. Ich mein, im Krieg oder so. Sterben würd ich für dich. Nur dass du’s weißt.«
»Gleichfalls«, sagte Floyd von seinem Reifen aus. »Ich auch, Carl. Gilt für mich genauso, kannst du mir glauben.«
Im Seichten schlossen sie dann Blutsbrüderschaft. Sie schnitten sich mit einer Flaschenscherbe in die Handflächen und schüttelten sich die Hände wie Soldaten und schworen: »Ich würd für dich sterben. Ich schwör’s, Gott verdammt«, sagte Carl. »Teufel, ja«, hatte Floyd geantwortet.
In dem Augenblick waren sie zu betrunken, um verlegen zu werden. Und sie hätten auch nicht gewusst, warum. Erst eine geraume Zeit danach sollte es ihnen peinlich sein – Carl brauchte sehr lange dazu, er war da schon längst in Seattle, und in seinem Leben hatte sich fast alles geändert. Der Fluss wurde noch breiter und langsamer – als ob das Flachland sich gegen ihn sträubte. Carl sah tote Arme, Buchten, Marschland und Tümpel – all die Komplikationen eines großen Flusses. Die Sonne sank, die Luft wurde drückend. Es gab keine Bäume mehr. Zuerst waren Marschen und Sumpfgras an den Ufern, dann Brombeerbüsche, und schließlich kamen sie an Weizenfeldern vorbei und sahen Bauern, die in Reihen mit ihren Mähdreschern über die Felder fuhren und den Sommerweizen abernteten.
Zum Schluss mündete der Fluss in einen See – eine weite stille Wasserfläche. Und dann waren sie auf dem See, nicht weit von dem deutlich sichtbaren Damm an seinem Ende.
Nach dem Essen, als sie abgewaschen und aufgeräumt hatten, ging Carl noch einmal zum Flussufer hinunter. Er ließ sich mit dem Rücken an einen Stamm gelehnt nieder und sah, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, auf das Wasser. Was gab’s da schon zu sehen? Er trank seinen Scotch entschlossen in großen Zügen – wie Medizin. Er trank die Flasche fast aus. Er hatte ein Bier in seiner Jackentasche; das trank er auch.
Er stand auf und fand einen Felsen am Ufer. Er setzte sich auf ihn und sah auf die Mitte des Flusses hinaus, wo er und Floyd betrunken und grölend vorbeigetrieben waren, flussabwärts, dorthin, wo sie ihre betrunkenen Schwüre getan hatten; flussaufwärts zu der Biegung vor dem Zusammenfluss und weiter hinauf zu dem reißenden Teil des Flusslaufs in den Bergen, wo sie ihre Fahrt begonnen hatten. Es war ein wunderbares Erlebnis, dachte er jetzt. Er wollte es nie vergessen. Und die lächerlichen Versprechen waren rührend gewesen. Damals wäre er wirklich für Floyd gestorben. Damals war er dumm und jung genug gewesen, so lächerliche Dinge zu tun.
Aber jetzt war es Abend und viele Jahre später. Die Sonne war untergegangen, die Sterne kamen heraus – Stecknadelköpfe in der überwältigenden Dunkelheit des Himmels. Auf dem gegenüberliegenden Ufer war ein Stand Birken vom Frühjahrshochwasser überschwemmt und niedergeworfen worden. Jetzt lagen die Bäume halb unter Wasser, ein Gewirr von Ästen vermoderte langsam und erinnerte an das reißende Wasser des Frühlings.
Carl sah, dass genau über ihm Arcturus stand, der Stern im Zentrum des Himmels.
Hier ändert sich gar nichts, dachte er – auch wenn die meisten Dinge sich schon verändert hatten. Und er wünschte, er hätte Floyd nicht in der Backwarenabteilung gesehen. Er wünschte, es wäre nicht geschehen. Kein Mensch sollte auf solche Weise an die Vergangenheit erinnert werden. Kein Mensch hatte einen solchen Schock verdient.
Er ging zum Camper. Louise und er setzten sich an den Tisch und spielten Rommé und aßen Käsechips. Sie spielten acht Spiele, dann nahm Louise ihr Strickzeug wieder zur Hand. Carl trank nach und nach zwei Dosen Bier. Eine Weile unterhielten sie sich über seine Töchter – eine lebte von ihrem Mann getrennt. Er hatte die Scheidung eingereicht. Den Grund hatte Carl nicht verstanden. Seine Tochter hatte aus Wisconsin angerufen, aus einer kleinen Stadt, wo eine Freundin von ihr wohnte.
Bevor er zu Bett ging, sah er nach, ob das Gas abgestellt war. Es war zehn Uhr abends an einem Samstag im August. Der Campingplatz war überfüllt: Musik und Stimmen, vorbeirumpelnde Autos, Leute, die lachend hinter dem Licht ihrer Taschenlampen zu den Toiletten gingen. Carl horchte angespannt auf das Rauschen des Flusses, aber der Fluß war zu weit weg, mindestens hundert Meter durch die Tannen.
Sie waren spät gekommen und hatten einen der schlechteren Plätze nehmen müssen, zu weit weg von der Musik des Little Nelson. Carl bedauerte das jetzt.
Im Bett küsste ihn Louise zweimal auf die Wange: »Lass nicht die Ohren hängen«, sagte sie. »Morgen gehst du fischen, Carl. Du hast keinen Grund, die Ohren hängen zu lassen, ja?«
Er sagte ihr, dass er sie liebe. »Ohne dich wär ich verdammt einsam«, sagte er. Er küsste sie aufs Ohr, auf die Nase.
»Du hast Whiskey getrunken«, antwortete Louise. »Du hast getrunken, und jetzt bist du mit Fleischwurst vollgestopft, Carl.«
Carl hatte einen leichten Schlaf. Er war es gewohnt, nachts aufzustehen und sich Gedanken zu machen. Es kam ihm sogar so vor, als schlafe er fast gar nicht mehr, es war, als ob er nicht mehr wisse, wie man schlief. Und das Bild von Floyd im Last Stop ging ihm nicht aus dem Kopf. Vielleicht hätte er doch etwas sagen sollen. Vielleicht hätte Floyd alles erklären können.
Er setzte sich ächzend auf und zog die Hose an. Er war noch immer betrunken, jedenfalls zu betrunken, um stillliegen zu können. Er band sich im Dunkeln die Schuhe zu. Er zog die Jacke über und ging mit der Taschenlampe hinaus. Er fand den Weg zwischen den Tannen, stolperte einmal über einen toten Ast, tastete ein bisschen in der feuchten Dunkelheit herum und kam dann zum Ufer des Little Nelson; dort blieb er stehen und hörte der Endlosigkeit des Flusses zu.
Floyd! sagte er zu sich selbst. Floyd! Gott noch mal! Aber dann schaute er nach oben, und da standen Arcturus und eine Million andere Sterne, und alle schimmerten in ihrer geheimnisvollen Art.
Bei dem Anblick fühlte er sich besser. Lass den Fluss ruhig rauschen und vorbeiströmen, dachte er, ein Fluss ist am Ende doch nur etwas Winziges, verglichen mit einem Stern. Er fand nicht die Worte, um es sich selbst zu erklären, aber ein Stern schien der richtige Trost zu sein für einen Mann, der auf die Siebzig zuging.