Roland war als kleines Kind oft erkältet. Er hatte auch im Sommer eine Lecknase.
– Das kommt nur davon, weil du ihn zu warm anziehst – , behauptete der Vater. – Der Junge kann sich gar nicht abhärten. –
– Roland ist ein zartes Kind – , sagte die Mutter und setzte ihm eine Mütze auf.
Bei schönem Wetter ging sie mit Roland auf den Spielplatz. Sie saß mit anderen Müttern auf einer der Bänke und strickte. Dabei sah sie zu, wie Roland in der Sandkiste spielte. Wenn andere Kinder ihm sein Eimerchen oder die Schaufel weggenommen hatten, lief sie zu ihm hin, tröstete ihn und holte seine Sachen zurück.
Als Roland 4 Jahre alt wurde, überlegten Karl-Heinz und Renate, ob sie ihn in den Kindergarten schicken sollten. Sie fanden aber keinen rechten Platz, und die städtische Kindertagesstätte in ihrer Nähe kam für sie auf keinen Fall in Frage. Über die Zustände in diesen KITAS war ja genügend in den Zeitungen berichtet worden. Die Kinder sollten dort überhaupt keine Anleitung bekommen, sondern machen dürfen, was sie wollten.
Aber dann bekam Roland die Windpocken, und das Problem löste sich erst einmal von selbst.
Damals wohnte unten im Haus schon die alte Frau Marecke.
– Die ist noch gar nicht so alt. Die ist höchstens 60, sieht aber aus wie 80 –, hatte der Vater gesagt. – Die soll früher gesoffen haben wie ein Loch und dann hat sie im Hausflur rumgelegen. Ich versteh nicht, dass man sie nicht längst rausgeschmissen hat. Na ja, wer weiß, was da wieder dahinter steckt. Geld soll sie haben. –
Manchmal, wenn Roland mit der Mutter die Treppe herunterkam, öffnete die alte Frau die Tür einen Spaltbreit und sagte über die Kette hinweg freundlich:
– Guten Tag … –
Aber die Mutter gab keine richtige Antwort und zog Roland schnell weiter. Roland war das unheimlich.
Einmal klingelte der Briefträger bei Frau Marecke Sturm. Aber sie öffnete nicht.
– Der alten Hexe sollte man Feuer unterm Arsch machen! Die ist doch zu Hause. Ich bin jetzt das dritte Mal mit dem Einschreiben da. –
Er steckte einen roten Zettel in ihren Briefkasten und ging wieder. Roland fragte seine Mutter:
– Ist Frau Marecke wirklich eine Hexe? –
– Nein, natürlich nicht, Roland. Es gibt keine Hexen. –
Roland war sich nicht so sicher, ob die Mutter Recht hatte.
Als er 5 Jahre alt war, schickte der Vater ihn schon manchmal an die Ecke zum Kiosk. Zigaretten holen oder die neue BILD. Roland flitzte dann immer ganz schnell an der Tür von Frau Marecke vorbei. Eines Tages erkannte er von der Straße aus ihr Gesicht hinter den schmutzig grauen Gardinen und blieb stehen. Sie schob die Gardine etwas beiseite und sie sahen sich einen Augenblick lang an.
Als er ins Treppenhaus kam, stand sie in ihrer Wohnungstür. Sie stützte sich auf einen Stock und winkte ihn zu sich heran.
– Komm doch mal her, mein Jungchen … –
Roland starrte sie einen Moment an, er war wie gebannt. Dann rannte er die Treppe hinauf.
Roland liebte Märchen. Und am liebsten mochte er gruselige Märchen, in denen Hexen, Riesen und unheimliche Mächte vorkamen. Dann kuschelte er sich ganz dicht an die Mutter und konnte sich genau vorstellen, dass er ein zotteliger Troll war. Einmal erzählte er der Mutter davon.
– Also, das Kind hat eine Phantasie! – , sagte sie beim Abendbrot.
– Mir wäre lieber, wenn er endlich schwimmen könnte – , antwortete der Vater. – Wenn er in die Schule kommt, muss der Junge seinen Freischwimmer haben! –
Eigentlich konnte Roland schon schwimmen. Er hatte es im Stadtbad Mitte gelernt. Aber am Ende des Schwimmkurses hatte er die Masern bekommen und jetzt kriegte er immer Wasser in die Nase. Vor allem im Tiefen.
– Das liegt nur am falschen Atmen – , behauptete der Vater und zeigte ihm, wie man richtig Luft holen muss.
Aber Roland kriegte weiterhin Wasser in die Nase. Er blieb lieber im Nichtschwimmerbecken.
Am Sonntag fuhr der Vater oft mit ihm in das neue Freibad nach Lorsch. Der Vater war ein guter Schwimmer, er hatte lange Wasserball gespielt. Wenn er kraulte, zog er so richtig ab.
Einmal trafen sie in Lorsch Herrn Holzkamp mit seiner Tochter Biggi. Herr Holzkamp war ein Kunde von Vater. Es stellte sich heraus, dass Biggi zwei Monate jünger war als Roland und im Herbst auch in die Schule kommen sollte. Biggi hatte schon ihren Freischwimmer. Sie sollte heute zum ersten Mal vom Dreier springen. Vom Einer war sie schon oft hinuntergesprungen.
Biggi wusste nicht so recht, ob sie sich trauen sollte oder nicht. Herr Holzkamp und der Vater redeten ihr gut zu.
– Das ist überhaupt nicht schlimm. Los! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! –
Biggi kletterte auf den Sprungturm. Die anderen standen unten und sahen zu ihr hinauf. Sie ging auf das Sprungbrett und stand einen Augenblick da oben. Herr Holzkamp rief:
– Jetzt! Ist frei! –
Biggi hielt sich die Nase zu und sprang herunter. Als sie wieder auftauchte, klatschten die Männer Beifall.
– Bravo! Toll! Prima! –
Dann ergriff der Vater plötzlich Roland.
– So! Und jetzt kommst du dran! –
Roland fing an zu schreien. Er ließ sich auf den Boden fallen. Der Vater zog ihn wieder hoch und wollte ihn ins Wasser werfen.
– Stell dich nicht so albern an! –
Roland schrie noch stärker. Eine Frau mischte sich ein.
– Lassen Sie den Jungen los! Mann, Sie sehen doch, dass er Angst hat! Ist ja unglaublich! –
Da ließ der Vater ihn los und Roland rannte weg.
Später eroberten der Vater und Herr Holzkamp einen Tisch im voll besetzten Schwimmbad-Restaurant. Sie bestellten sich jeder ein Helles. Biggi holte sich am Kiosk einen NOGGER.
Roland beobachtete alles genau. Er stand etwas entfernt bei den Umkleidekabinen. Er hatte geheult.
Vorsichtig kam er immer näher an den Tisch heran. Der Vater beachtete ihn gar nicht. Roland stand eine Weile so da. Dann fragte er leise:
– Papa? –
– Ja? –
– Kann ich mir auch ein Eis holen? –
– Hau bloß ab, du Flasche! –
Der Vater sah Roland nicht an. Er redete weiter mit Herrn Holzkamp.
Als Roland in die 2. Klasse ging, bekam er eines Morgens plötzlich Bauchschmerzen. Er sah auch blass aus, fand die Mutter. Sie wollte unbedingt Fieber messen. Das Thermometer zeigte etwas erhöhte Temperatur an, wenn man so wollte. Auf jeden Fall sei es besser, wenn Roland im Bett blieb, meinte die Mutter. Er bekam nur Tee und Zwieback, aber sie las ihm fünf Kapitel aus ROBINSON CRUSOE vor. Mittags waren die Bauchschmerzen weg und Roland tobte in der Wohnung herum.
Am nächsten Morgen tat es wieder weh im Bauch.
– Du willst dir wohl nochmal einen gemütlichen Tag im Bett machen, was? – , fragte der Vater.
Die Mutter rief den Kinderarzt an. Der kam am Nachmittag, ließ sich Rolands Zunge zeigen und drückte ihm auf dem Bauch herum.
– Tut das weh? –
– Ja, da … ein bisschen … –
Zur Vorsicht horchte der Kinderarzt noch Rolands Lunge ab.
– Jetzt mal die Luft anhalten, so … und jetzt ausatmen. – Dann gab er Roland einen Klaps auf den Po und sagte:
– Das wäre doch gelacht, wenn wir die Bauchschmerzen nicht wegkriegten. –
Er verschrieb ein allgemeines Stärkungsmittel und wollte sich die Hände waschen. Auf dem Flur sagte er:
– Fragen Sie doch mal in der Schule nach, Frau Geiger. Ob da etwas ist. Und wie gesagt, kein Grund zur Beunruhigung. Kinder haben leicht mal Bauchschmerzen. Aber wenn etwas sein sollte, rufen Sie mich gleich an. –
– Roland muss sich mehr durchsetzen – , sagte die Lehrerin in der Schule.
– Hau doch mal zu! – , meinte der Vater am Abend.
In demselben Sommer kaufte sich der Vater den großen TS 1800 und sie fuhren in den Ferien nach Jugoslawien. Sie hatten Glück mit dem Hotel und dem Wetter. Der Vater schenkte Roland eine richtige Angel und ein Fischmesser.
Manchmal mieteten sie sich für den ganzen Tag ein Boot mit Außenbordmotor. Sie nahmen die Angeln, Badezeug und Proviant mit und fuhren zu einer der kleinen Inseln hinaus, die draußen im Meer lagen. Roland durfte das Boot steuern. Es machte ihm Spaß zu tauchen, und er traute sich sogar, von den Felsen ins Wasser zu springen. Oft ließ er sich minutenlang von den Wellen schaukeln und spielte TOTER MANN.
Während die Mutter in der Sonne lag, angelte er mit dem Vater. Als Köder nahmen sie Muschelfleisch. Wenn sie genug gefangen hatten, machten sie ein Feuer, steckten Stöcke durch die Fische und brieten sie. Die Mutter meinte zwar, diese Fische könne man nicht essen, aber schlecht wurde ihnen kein einziges Mal. Roland weiß noch genau, wie es war, als der erste Fisch an seiner Angel anbiss. Es war sogar gleich ein ziemlich großer.
Die Mutter war in diesen Ferien sehr lustig; sie ekelte sich nur vor den Tintenfischen, die der Vater aus dem Wasser holte. Der Vater kaufte ihr in Dubrovnik ein langes Kleid im Folklore-Stil und ging jeden Abend mit ihr tanzen.
Es war die schönste Zeit, an die Roland sich erinnern kann.
In der Schule machte er sich dann doch ganz gut. Er fiel nur dadurch auf, dass er im Unterricht oft herumkasperte und es offensichtlich darauf anlegte, die Klasse zum Lachen zu bringen. Ansonsten konnten die Lehrer wenig über ihn sagen.
Rolands untere Zähne standen etwas zurück.
– Ich hab dir immer gesagt, du sollst nicht am Daumen lutschen! Das hast du nun davon! – , sagte der Vater.
Der Zahnarzt sprach von einer leichten Kieferfehlbildung und ließ Roland in Gips und in Wachs beißen. Wegen der Abdrücke. Dann passte er ihm eine Regulierungsklammer an, die Roland nachmittags und nachts tragen sollte. Sprechen konnte er mit dem Ding im Mund nur schlecht.
– Das macht nichts – , sagte die Mutter. – Dann sprichst du eben nicht. –
Einen richtigen Freund hatte Roland nicht. Er bastelte gern und zeichnete viel. Die Mutter hob alle seine Bilder auf. Sie übte mit ihm auch Diktat und Rechnen und las viel über Erziehungsfragen. Ab und zu fing sie davon an, ob sie nicht halbtags wieder in der HESSISCHEN LEBEN arbeiten sollte. Aber als Roland auf das Gymnasium kam, ließ sie den Gedanken wieder fallen. Sie hatten es auch nicht nötig, dass sie arbeiten ging, denn der Vater verdiente immer besser. Seine Provisionen waren gestiegen.
Eines Tages kam der Vater begeistert aus der HESSISCHEN LEBEN nach Hause und brachte ein neues Spiel mit. Das hieß SUPERHIRN.
– Damit kann man sein logisches Denken trainieren – , sagte er.
So richtig klargekommen sind sie mit dem Spiel aber nie.