2. Demokratie

Gottfried Keller steht in bewußter Opposition zu allen diesen Strömungen. Daß er Gutzkow und die Jungdeutschen verachtet, wird niemanden überraschen. Es klingt schon auffallender, wenn er die Philisterhaftigkeit Adalbert Stifters kritisiert und Gotthelfs echt epische Größe den Stifterschen Beschreibungen polemisch gegenüberstellt. Gegen Hebbel hat er, trotz tiefer Wirkung der Jugendwerke auf ihn, zeit seines Lebens immer eine Antipathie; er anerkennt seine hohe Begabung, lehnt aber das Gekünstelte an ihm heftig ab. Mit Richard Wagner steht er in Zürich zeitweilig in ganz guten persönlichen Beziehungen. Er charakterisiert ihn aber in einem Brief an Freiligrath so: ‹Ein sehr begabter Mensch, aber auch etwas Faiseur und Charlatan.›

Kellers Ablehnung der in Deutschland herrschenden Literaturströmungen ist nicht literarischen Ursprungs. Daß Keller zugleich gegen die spießerhafte Enge des Provinzialismus und gegen die genialisch-individualistische Überspanntheit polemisieren kann, ist überhaupt weniger eine Folge seiner persönlichen Eigenart als vielmehr seiner tiefen Verbundenheit mit der noch vielfach urwüchsigen Schweizer Demokratie.

Die deutsche Freiheitsdichtung der vierziger Jahre wirkte sehr stark auf den jungen Keller; er wird mitgerissen von der demokratischen Entwicklung, die ihn bis zur Aneignung der höchsten begrifflichen Form der deutschen revolutionären Demokratie führt: der Philosophie Feuerbachs. Keller steht nun auf der Höhe der philosophischen und literarischen Entwicklung der Demokratie in Deutschland vor der achtundvierziger Revolution.

Seine Eigenart besteht darin, daß er die rückläufige Bewegung nach der Niederlage der Revolution nicht mitmacht. Davor bewahrt ihn die Schweizer Demokratie. Während er bis dahin lebhaft an den geistigen Kämpfen des deutschen Kulturgebiets teilnimmt, wird er jetzt immer mehr zu einem bloßen Beobachter der deutschen Entwicklung. Er studiert sie gründlich, mit tiefem Mitgefühl, mit heftiger Empörung über die Reaktion, aber sie bedeutet für ihn nicht mehr ein grundlegendes Element seiner geistigen Existenz, ihre Veränderungen verändern seine Entwicklung nicht mehr.

Man muß nur die Aufzeichnungen und Briefe Kellers aus Heidelberg (1848/50) und Berlin (1850/55) aufmerksam lesen, um diesen Unterschied, diese Wendung in seiner ganzen Haltung zu erkennen. Er lebt in Heidelberg als tiefinnerlich Beteiligter an den Ereignissen, in Berlin dagegen als Schweizer Demokrat auf einer Studienreise, um – politisch aktiv – in das öffentliche Leben seiner Heimat zurückkehren zu können. Und da die bedeutenden Werke Kellers in dieser Zeit entstanden sind, wenn auch ihre Themata vielfach auf frühere Erlebnisse zurückgreifen, bestimmt diese Abwendung vom reaktionär gewordenen Deutschland, diese ausschließliche Hinwendung zur Schweizer Demokratie Inhalt und Form seiner ganzen Dichtung.

Oberflächlich angesehen, ist in diesem Rückzug etwas, was an die rückläufige Linie der provinziellen Dichtung in Deutschland, die wir vorher kurz charakterisiert haben, erinnern könnte. Und die tiefe Sympathie der besten Vertreter dieser Richtung – man denke vor allem an Theodor Storm – hat zweifellos hier ihre Wurzeln. Aber die beiden Rückzüge sind nur sehr formal einander ähnlich, wenn sie auch beide letzten Endes von der Niederlage der achtundvierziger Revolution verursacht worden sind. Denn Keller verkriecht sich nicht in einen deutschen Provinzwinkel, um dem reaktionär gewordenen öffentlichen Leben verdrossen oder sich bescheidend den Rücken zu drehen. Er kehrt vielmehr in seine demokratische Heimat zurück und steht von nun an menschlich wie dichterisch im Mittelpunkt ihres öffentlichen Lebens.

Dieser entscheidende Unterschied wird noch dadurch unterstrichen, daß die kapitalistische Entwicklung der Schweiz später einsetzt und längst nicht so stürr misch ist wie die deutsche. Selbstverständlich zersetzt der Kapitalismus auch in der Schweiz alle urwüchsigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Und diese Wirkung spiegelt sich in Kellers Werk, wie wir später sehen werden, ebenfalls negativ. Aber erstens werden diese negativen Wirkungen des Kapitalismus in der Schweiz erst viel später so wichtig und offenkundig, daß sie auf Kellers Produktion entscheidend einwirken. (‹Das verlorene Lachen›, 1874, und ‹Martin Salander›, 1886) Zweitens und vor allem spielt sich in der Schweiz diese Entwicklung des Kapitalismus damals noch nicht unter politisch und sozial reaktionären, das demokratische Bürgertum erniedrigenden Umständen ab. Keller erlebt hier nur die beginnende kapitalistische Zersetzung der urwüchsigen Schweizer Demokratie.

Es scheint also, daß wir in Keller einen Schweizer Nationaldichter vor uns haben, dessen Eigenart aus seiner Züricher Bodenständigkeit abgeleitet und verstanden werden muß. Keller hat gegen eine solche Auffassung zeit seines Lebens scharf protestiert. Am Anfang der ersten Fassung des ‹Grünen Heinrich› steht eine aufschlußreiche Auseinandersetzung des Helden mit einem demokratischen Feuerbach-Schüler, dem süddeutschen Grafen. Der Held (und durch seinen Mund Keller) bekennt sich leidenschaftlich zum demokratischen Republikanismus der Schweiz, ist bereit, die Unabhängigkeit von Deutschland mit seinem eigenen Leben zu verteidigen. Auf die Frage jedoch, ob er dann ein Anhänger einer Schweizer Nationalliteratur, einer Schweizer nationalen Kultur sei, antwortet er (und auch hier mit ihm Keller) folgendermaßen: ‹Es gibt zwar viele meiner Landsleute, welche an eine schweizerische Kunst und Literatur, ja sogar an eine schweizerische Wissenschaft glauben. Das Alpenglühen und die Alpenrosenpoesie sind aber bald erschöpft, einige gute Schlachten bald besungen. Und zu unserer Beschämung müssen wir alle Trinksprüche, Mottos und Inschriften bei öffentlichen Festen aus Schillers Tell nehmen, welcher immer noch das Beste für dieses Bedürfnis liefert.› Wissenschaft und Literatur brauchen nach Keller das weite Feld der großen Zusammenhänge. Jeder Teil der Schweiz gehört mithin literarisch zu jenem großen Land, mit welchem er sprachlich und der geistigen Kultur nach verbunden ist: zu Deutschland, Frankreich, Italien.

Diese Stellungnahme Kellers zu einer eigenen Schweizer Literatur ändert sich nicht. Es ist sehr charakteristisch, daß er nur ein einziges Mal erlaubt, einzelne seiner Gedichte in einer Schweizer Anthologie abzudrucken. Er begründet diese Zustimmung mit der ‹jetzigen auffallenden Impotenz in Deutschland› (es handelt sich um die Zeit nach 1870), fügt jedoch gleich hinzu: ‹Aber ich möchte damit die ewigen Gründer einer schweizerischen literarischen Hausindustrie keineswegs unterstützen.›

Keller betrachtet also das schweizerische Schrifttum als Teil der deutschen beziehungsweise der französischen Literatur. Er ist ebenso ein deutscher Schriftsteller wie der Genfer Rousseau ein französischer.

Er ist aber zugleich ebenso ein Züricher Demokrat, wie Rousseau ein Schüler der Genfer Demokratie war. Das heißt, er stellt die einheimische, die Schweizer, die Züricher Demokratie dem sich langsam und qualvoll aus dem halbfeudalen Zustand herauswindenden kleinstaatlichen Deutschland und später dem Hohenzollern-Bismarckschen vereinigten Deutschland polemisch gegenüber, wie seinerzeit Rousseau das demokratische Genf dem französischen Absolutismus.

Freilich müßte das Wort ‹ebenso› in Anführungszeichen gesetzt werden. Denn bei Rousseau wird das soziale und politische Vorbild der Genfer Demokratie – theoretisch verstärkt und unterbaut durch das Plutarchsche Ideal von Sparta und Rom – zur Fahne der französischen radikalen Demokratie und durch sie des Demokratismus ganz Europas. Das Ideal der Genfer Demokratie bildet nicht nur den vernichtenden polemischen Gegensatz zum Feudalabsolutismus der Bourbonen, sondern auch zu jenen Aufklärern, die in der Einführung der englischen konstitutionellen Monarchie den rettenden Ausweg für die französische Gesellschaft gesucht haben. Dieser Gegensatz entwickelt sich später zu einem der wichtigsten Merkmale des Unterschieds zwischen radikalen Demokraten und kompromißlerischen Liberalen, zwischen Jakobinern und Girondisten.

Kellers Zürchertum erlangt in der deutschen Kulturentwicklung, gar nicht zu sprechen von der internationalen, niemals eine derartige weltgeschichtliche Bedeutung. Die Züricher Demokratie ist für Keller nur eine ihn menschlich wie künstlerisch gesund erhaltende Rückzugsmöglichkeit vor der Pestilenz der deutschen Reaktion. Die Anlehnung an die Züricher Demokratie rettet Keller als großen volkstümlichen und realistischen Schriftsteller, schafft aber zugleich für ihn eine einzigartige, isolierte Stellung in der Geschichte der deutschen Literatur. Die Niederlage der demokratischen Revolution in Deutschland, die reaktionäre Art, wie die deutsche Einheit entsteht, die undemokratische Weiterentwicklung Deutschlands bedeuten nicht nur eine Wendung für die Kultur des Deutschen Reichs, sondern auch für ihre Beziehung zu jenen deutschen Sprachgebieten, die außerhalb der Grenzen lagen, in denen sich die deutsche Nation konstituierte. Die Hoffnungen auf ein demokratisches Großdeutschland brachen in den Jahren 1848/49 zusammen. Deutsche Sprachgebiete, wie die Schweiz und Österreich, lösen sich erst jetzt wirklich von der allgemeinen deutschen Entwicklung ab, fangen an, bisher vorhandene Keime einer selbständigen Kultur energisch herauszubilden.

Keller steht im Schnittpunkt dieser Trennung. Seine Weltanschauung bleibt weiter die eines achtundvierziger radikalen Demokraten (damit hängt, neben anderem, auch seine Ablehnung der selbständigen Schweizer Nationalliteratur zusammen), aber sein politisches und literarisches Leben wird mit voller Entschiedenheit schweizerisch. Dieser Widerspruch wirkt sich auf allen Gebieten seiner Tätigkeit aus. So ist die Demokratie Kellers – ebenso wie weltanschaulich sein Feuerbachscher Materialismus – nicht aggressiv, nicht propagandistisch, nicht universalistisch, wie es die sozialen, politischen und weltanschaulichen Überzeugungen Rousseaus waren.

Es wäre eine flache Erklärung dieses Gegensatzes, wollte man in Keller nur den Künstler sehen und bei Rousseau den politischen Theoretiker und Publizisten einseitig in den Vordergrund stellen. Denn einmal bildet das theoretische und künstlerische Lebenswerk Rousseaus eine unzertrennliche Einheit, die als solche Einheit zur welthistorischen Wirksamkeit gelangt ist. Man kann seine Romane, seine Selbstbiographie usw. nicht von dem ‹Gesellschaftsvertrag› absondern. Und wenn die Einheit dieses Lebenswerkes widerspruchsvoll gewesen ist, so hat es gerade durch diesen inneren Widerspruch einheitlich und als Ganzes gewirkt. Denn dieser Widerspruch war der des Lebens, war ein grundlegender Widerspruch der radikalen Demokratie vor und in der Großen Französischen Revolution.

Zum anderen könnte Keller nur sehr bedingt als bloßer Künstler gelten. Seine fünfzehnjährige Tätigkeit auf dem hohen und verantwortlichen Posten eines Staatsschreibers der Züricher Demokratie (1861–1876) ist keineswegs nur eine biographische Episode. Der große autobiographische Jugendroman Kellers, ‹Der grüne Heinrich›, hat die Erziehung eines vielseitigen und problematischen Menschen zur öffentlichen, zur politischen Tätigkeit als Grundthema. Keller gestaltet hier wie in dem größten Teil seiner Werke die positiven und negativen menschlichen Eigenschaften, durch die man zur öffentlichen Tätigkeit geeignet oder ungeeignet wird. Erziehung zur öffentlichen Wirksamkeit: das ist der leitende Grundgedanke der ganzen schriftstellerischen Tätigkeit Kellers.

Keller faßt die Wechselwirkung zwischen öffentlichem und privatem Leben breit und tief auf. Er polemisiert gegen die reaktionären politischen Anschauungen des von ihm hochverehrten Schweizer Volksschriftstellers Jeremias Gotthelf, bejaht jedoch entschieden dessen leidenschaftliche politische Parteinahme. Er sagt: ‹Denn heute ist alles Politik und hängt mit ihr zusammen, von dem Leder an unserer Schuhsohle bis zum obersten Ziegel am Dache, und der Rauch, der aus dem Schornstein steigt, ist Politik und hängt in verfänglichen Wolken über Hütten und Palästen, treibt hin und her über Städten und Dörfern.›

Es wäre aber ebenfalls unrichtig, an der Aufrichtigkeit und dem Niveau der demokratischen Überzeugungen Kellers zu kritteln, sie nicht von seiner spezifischen historischen Lage aus zu verstehen. Freilich ist Keller kein plebejischer Demokrat, er hat insbesondere wenig Verständnis für die sozialistische Arbeiterbewegung. Wenn man aber diese Begrenztheit seines Demokratismus mit dem Rousseaus und der Jakobiner vergleicht, so darf man nie vergessen, daß diese in einer Gesellschaft von viel weniger entfalteter Klassendifferenzierung gewirkt haben, in einer Zeit, in welcher das Proletariat sich noch nicht zur selbständigen Klasse konstituiert hat. Freilich ist Keller kein Enthusiast der revolutionären Umwälzung und zieht friedlich legale, politische Änderungen dem revolutionären Umsturz vor. Aber auch in dieser Frage besteht eine größere Übereinstimmung zwischen ihm und Rousseau, als man dies auf den ersten Blick annehmen würde. Man muß scharf unterscheiden zwischen einer allgemeinen derartigen Überzeugung und dem tatsächlichen Verhalten im Falle einer bereits ausgebrochenen Revolution. Wie sich Rousseau zur Wirklichkeit der demokratischen Revolution verhalten hätte, können wir freilich nicht wissen. Keller dagegen hat an dem demokratischen Kampf gegen den ‹Sonderbund› in der Schweiz aktiv teilgenommen und in den Revolutionsjahren in Heidelberg die lebhafteste Sympathie für den demokratischen Flügel gehabt.

Aus dieser Heidelberger Zeit, aus den damaligen Vorarbeiten zum ‹Grünen Heinrich›, besitzen wir ein ausführliches Glaubensbekenntnis von Keller. Es erscheint uns so wichtig, daß wir es trotz seines verhältnismäßig großen Umfanges hier vollständig anführen:

‹Patriotismus und Kosmopolitismus

Erst durch richtige Vereinigung beider gewinnt jedes seine wahre Stellung. Die Ratschläge und Handlungen des beschränkten und einseitigen Patrioten werden seinem Vaterlande nie wahrhaft nützlich und ruhmbringend sein; wenn dasselbe mit dem Jahrhundert und der Welt in Berührung tritt, so wird er sich in der Lage eines Huhnes befinden, welches angstvoll die ausgebrüteten Entchen ins Wasser gehen sieht, indessen der einseitige Kosmopolit, der in keinem bestimmten Vaterlande mit seinem Herzen wurzelt, auf keinem konkreten Fleck Erde Fuß faßt, für seine Idee nie energisch zu wirken imstande ist und dem fabelhaften Paradiesvogel gleicht, der keine Füße hat und sich daher aus seinen luftigen Regionen nirgends niederlassen kann.

Wie der Mensch nur dann seine Nebenmenschen kennt, wenn er sich selbst erforscht, und nur dann sich selbst ganz kennenlernt, wenn er andere erforscht, wie er nur dann anderen nützt, wenn er sich selbst in Ordnung hält, und nur dann glücklich sein wird, wenn er anderen nützlich ist, so wird ein Volk nur dann wirklich glücklich und frei sein, wenn es Sinn für das Wohl und die Freiheit und den Ruhm anderer Völker hat, und es wird wiederum diesen edlen Sinn nur dann erfolgreich betätigen können, wenn es erst seinen eigenen Haushalt tüchtig geordnet hat. Immer den rechten Übergang und die innige Verschmelzung dieser lebensvollen Gegensätze zu finden und zur geläufigen Übung zu machen, ist der wahre Patriotismus und der wahre Kosmopolitismus. Mißtrauet daher jedem Menschen, welcher sich rühmt, kein Vaterland zu kennen und zu lieben! Aber mißtrauet auch dem, welchem mit den Landesgrenzen die Welt mit Brettern vernagelt ist und welcher alles zu sein und zu bedeuten glaubet durch die zufällige Geburt in diesem oder jenem Volke oder dem höchstens die übrige weite Welt ein großes Raubgebiet ist, das nur dazu da sei, zum Besten seines Vaterlandes ausgebeutet zu werden.

Allerdings ist es eine Eigenschaft auch der wahren Vaterlandsliebe, daß ich fortwährend in einer glücklichen Verwunderung lebe darüber, gerade in diesem Lande geboren zu sein, und den Zufall preise, daß er es so gefügt hat; allein diese schöne Eigenschaft muß gereinigt werden durch die Liebe und Achtung vor dem Fremden, und ohne die große und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgertums ist der Patriotismus … ein wüstes, unfruchtbares und totes Ding.›

Keller ist dieser Überzeugung stets treu geblieben. Über sein politisches Verhalten in der Jugendzeit haben wir bereits gesprochen. Er zeigte während und nach der Revolution stets ein gesundes Mißtrauen gegen die Politik Preußens, Österreichs und Rußlands. Zur Zeit der Savoyenkrise (1859) war er für den bewaffneten Kampf gegen Napoleon III . zur Verteidigung der Unversehrtheit der Schweiz. Er verfolgte jede demokratische Regung in der ganzen Welt mit der lebhaftesten Sympathie; so hat er zum Beispiel eine große Freude darüber, daß die Londoner Arbeiter den Henker der italienischen und ungarischen Revolution, den österreichischen General Haynau, durchgeprügelt haben; er verfolgt sogar den kaukasischen Aufstand Schamyls gegen den russischen Zarismus mit aufrichtigem Mitgefühl; er nimmt an der Jahrhundertfeier für Schiller lebhaft teil, fordert aber, daß die Schweiz auch die Jahrhundertfeier der Französischen Revolution begehe usw.

Die Grundlinie seines politischen Verhaltens ist also die resolute Verteidigung der Unversehrtheit der Schweizer Demokratie. Seine prinzipielle Auffassung ist aber – im weiten historischen Sinne – die der revolutionären Demokratie. Er betrachtet die Schweiz als ein historisch-organisch erstandenes Gebilde. Gegen die reaktionären Mächte Deutschland und Frankreich, die zu seiner Zeit die Schweiz zeitweilig bedrohten, ist er bereit, zu den Waffen zu greifen. Er hält aber keinen politischen Zustand für endgültig und er hofft immer wieder eine zukünftige Ausweitung und Vertiefung der Demokratie in ganz Europa, welche dann auch auf die staatlichen Probleme der einzelnen Völker einen bestimmenden Einfluß ausüben könnte.

Als im Jahre 1872 der Züricher Professor Gusserow an die neubegründete Straßburger Universität berufen wird, hält Keller eine Abschiedsrede, deren Inhalt er selbst so zusammenfaßt: ‹Gusserow möchte die Straßburger von ihren alten Freunden, den Zürichern, grüßen und ihnen sagen, sie möchten sich nicht allzu unglücklich fühlen im neuen Reiche. Vielleicht käme eine Zeit, wo dieses Deutsche Reich auch Staatsformen ertrüge, welche den Schweizern notwendig seien, und dann sei eine Rückkehr der letzteren wohl denkbar. Selbstverständlich kann nicht von der Form bloßer freier Städte hierbei die Rede sein, da diese ja schon da sind, sondern nur von dem Bestehen größerer Volksrepubliken.› Diese Gedanken Kellers, die seinerzeit eine allgemeine Entrüstung erregten, sind mit den Traditionen der deutschen Demokratie eng verknüpft. Im Vorwort zu seinem Gedicht ‹Deutschland, ein Wintermärchen› drückt Heinrich Heine bezüglich des Verhältnisses von Elsaß-Lothringen zu Deutschland dasselbe Prinzip aus.

Die Tiefe dieser demokratischen Überzeugungen Kellers zeigt sich darin, wie sehr sie mit seiner ganzen Literatur verwachsen sind. Alles ist Politik: dies ist bei ihm nicht nur tief gefühlt, sondern auch gründlich durchdacht. Die Blüte der Poesie, die bei ihm mit der des Realismus gleichbedeutend ist, scheint ihm unmöglich ohne eine politische und soziale Blüte der Demokratie. In der Heidelberger Zeit schreibt Keller einen kleinen Aufsatz über die Beziehung der Romantik zur Gegenwart. Er leitet dort die historische Berechtigung der romantischen Poesie aus der damaligen Unmöglichkeit und Unfähigkeit zum ‹tüchtigen Handeln› ab. Und von dem gesellschaftlichen Aufschwung der Revolution, vom Aufschwung des Lebens durch die Revolution erwartet er die neue Höhe der Poesie.

Auch in diesen Anschauungen ist er mit den besten demokratischen Traditionen Deutschlands, mit der Literaturbetrachtung Heines, mit den Anschauungen des Freundes Hermann Hettner in seiner Feuerbachschen, demokratischen Periode nah verwandt. Er schreibt seine Betrachtungen inmitten der Revolution (Juni 1849), noch ungewiß darüber, wie diese letzten Endes ausgehen wird. Aber Inhalt und Perspektive des Zusammenhanges von Literatur und Leben stehen ganz klar vor seinen Augen:

‹Doch komme es, wie es wolle: aus der Reibung dieser verschiedenen Tendenzen ist schon Handlung und Poesie die Fülle entstanden, und mithin sind die bisherigen Surrogate [Romantik, G.L.] entbehrlich in Hinsicht der poetischen Bevölkerung unserer Räume. Die Junitage zu Paris, der ungarische Krieg, Wien, Dresden und vielleicht auch Venedig und Rom werden unerschöpfliche Quellen für poetische Produzenten aller Art sein. Eine neue Ballade sowohl wie das Drama, der historische Roman, die Novelle werden ihre Rechnung dabei finden. Daß man sie aber auch unmittelbar im Leben selbst findet, habe ich nun in der badischen Revolution gesehen.

Wie ‚deutsch‘ eigentlich nichts anderes heißt als volkstümlich, so sollte auch ‚poetisch‘ zugleich mitinbegriffen sein, weil das Volk, sobald es Luft bekommt, sogleich poetisch, das heißt es selbst wird.›

Und diese Betrachtungen werden im selben Aufsatz sehr wirksam dadurch ergänzt, daß Keller in dem bürgerlich-liberalen Nachleben der Romantik die wahrheitsscheue Philisterhaftigkeit aufdeckt:

‹Bloß eine blutlose Bourgeoisie möchte bleiben, wo und wie wir sind, an dem halbverdorrten Zweige hangend mit der ganzen Last und seine paar Beeren benagend, bis er reißt und der ganze Klumpen in den Abgrund purzelt. Wahrlich, wenn ich nicht zu gut wüßte, daß die Philister eben Philister sind, so müßte ich sie für die leichtsinnigsten allerpoetischsten Käuze halten. Denn nur solchen kann es eigentlich in einer solchen zweideutigen Lage wohl gefallen.›

Dieselbe Linie sehen wir in Kellers größten und wichtigsten kritischen Arbeiten, in den Aufsätzen über Jeremias Gotthelf. Keller hat die größte Bewunderung für diesen bedeutenden epischen Gestalter. Durch eine feine Analyse erklärt er, wie bei Gotthelf ein ‹Sieg des Realismus› möglich war, ein Realismus trotz seiner bornierten und reaktionären Anschauungen, trotz seiner ‹kurzatmigen Weltanschauung›. Er findet die Möglichkeit für diesen Sieg des Realismus darin, daß Gotthelf zwar ein spontan beschränkter Gegner des Fortschritts ist, aber doch zutiefst mit dem Volk verbunden bleibt und nichts mit den reaktionären Intriganten der Oberschicht, mit der literarischen und politischen Salonreaktion zu tun hat.

Gleichzeitig übt aber Keller eine schonungslose Kritik an Gotthelf dort, wo dieser durch seine reaktionären Anschauungen die Wirklichkeit vergewaltigt und durch sein grobes und unmittelbares Propagandistentum die künstlerische Gestaltung der Wirklichkeit vernachlässigt oder vergröbert. Sowohl die positiven als auch die negativen Seiten dieser Auseinandersetzung des volkstümlichen Realisten Keller mit seinem größten Schweizer Vorgänger zeigen, wie tief bei ihm wirkliche Kunst mit Volkstümlichkeit, echte Poesie mit Demokratie zusammenhängen.

Der Geist der Demokratie durchdringt eben das ganze Denken und Schaffen Kellers.

Wo ist aber dann der Grund zu suchen, daß dieser Demokratismus in seinem Schaffen doch in der Verteidigung und bis zu einem bestimmten Grade lokal bleibt? Hier kann nicht die persönliche Psychologie des Dichters Antwort geben; diese ist, wie wir gesehen haben, konsequent demokratisch. Jedoch die historische Kombination der beginnenden kapitalistischen Zersetzung der urwüchsigen Schweizer Demokratie mit der reaktionären Entwicklung Deutschlands und Frankreichs nach der Niederlage der achtundvierziger Revolution, die reaktionäre Entstehungsweise der nationalen Einheit der Deutschen zwingen Keller sehr gegen sein subjektives Temperament, sehr gegen die Tendenzen seiner Jugendentwicklung dieses Verhalten auf.

Die Jugendentwicklung Kellers, die in dem Miterleben der deutschen Revolution und in der unmittelbaren Schülerschaft Feuerbachs in Heidelberg gipfelt, bedeutet die Aneignung und Entfaltung des besten Erbes der fortschreitenden deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Hätten die Jahre 1848/49 einen revolutionär-demokratischen Umschwung in Deutschland hervorgebracht, wäre also in ihrer Folge eine große, fortschrittliche, demokratische deutsche Kulturgemeinschaft entstanden, so hätte Keller ohne Frage eine führende Stelle in dem so entstehenden großen deutschen Realismus eingenommen. Die ganze Konzeption des ‹Grünen Heinrich› ist eine ideologische Vorbereitung darauf.

Durch das Mißlingen der Revolution, durch die deutsche Kulturkrise der Reaktionszeit ist auch dieser große Anlauf gescheitert: Keller war auf das Schweizerische – im engeren Sinne – zurückgeworfen. Wir meinen damit nicht die unmittelbare Fragestellung und Stoffwahl; die wäre wohl auch in jenem Fall überwiegend schweizerisch gewesen, obwohl entscheidende Teile des ‹Grünen Heinrich› in Deutschland spielen, obwohl der Aufenthalt, das Leben Kellers in einem Deutschland der siegreichen demokratischen Revolution ganz anders abgelaufen wäre und ganz andere schriftstellerische Konsequenzen gehabt hätte. Auf die Verschiedenheit der Lebensstimmung Kellers in Heidelberg und Berlin haben wir bereits hingewiesen.

Wir meinen diesen Unterschied in einem geistigen, gesellschaftlich-weltanschaulichen Sinne. Keller verliert die unmittelbar dichterisch-menschliche Beziehung zu den großen Problemen einer gewaltigen gesellschaftlichen Umwandlung, die Rousseau im vorrevolutionären Frankreich miterlebt und an deren Weiterführung er aktiv mitgearbeitet hat, zu jenen Problemen, die Keller selbst im eben zitierten Heidelberger Aufsatz als zentrale Gegenstände des erwarteten großen Aufschwungs der realistischen Literatur bezeichnet hat. Sein Schaffen kann nicht mehr ein Kampf um den Sieg der demokratischen Ideale in einer großen deutschsprachigen Kulturgemeinschaft sein, nicht mehr die Gestaltung jener heroischen Aufgabenstellung, von der er in der Revolutionszeit in Heidelberg geträumt hat. Sein Schaffen konzentriert sich nunmehr auf einen Kampf zur Verteidigung der alten urwüchsigen Schweizer Demokratie gegen die Bedrohung vom reaktionären Ausland, gegen die innere Zersetzung durch den Kapitalismus.

Aber auch bei diesem Rückzug ist Keller kein Schweizer ‹Lokaldichter› geworden. Eine ähnliche breite und tiefe Auseinandersetzung mit den großen Problemen der deutschen Kultur, wie wir sie im ‹Grünen Heinrich› finden, kehrt allerdings im späteren Schaffen Kellers nie wieder. Die gesellschaftliche Grundlage, die entscheidende Fragestellung seiner späteren Periode wird immer ausschließlicher die Besonderheit der Schweizer Demokratie. Aber Keller tritt an diese Probleme doch auf der Grundlage seiner Jugendentwicklung heran. Das heißt, er führt die Probleme des deutschen Humanismus weiter; er bringt eine Wiedergeburt dieser Probleme aus dem Geiste der urwüchsigen Schweizer Demokratie hervor. Und auch dort, wo Keller scheinbar nicht gesellschaftliche, sondern rein persönlich-menschliche Probleme gestaltet, ist dieser Zusammenhang, ist diese Weiterführung sichtbar: die demokratische Grundlage des deutschen Humanismus tritt bei keinem deutschen Dichter so klar zutage wie bei Keller.

Kellers historische Position als Schriftsteller ist in mancher Hinsicht mit der Stellung seines Lehrers Ludwig Feuerbach in der Geschichte der deutschen Philosophie verwandt. So wie dieser das Ende der klassischen deutschen Philosophie bedeutet, so stellt Kellers Schaffen das Ende der klassischen deutschen Literatur dar. Diese Parallele beschränkt sich nicht auf oberflächliche Züge. Denn wie der Materialismus Feuerbachs zugleich Weiterführung und Auflösung des klassischen deutschen Idealismus bedeutet, so ist auch Kellers Realismus zugleich die Erfüllung und die Auflösung der klassischen literarischen Überlieferungen Deutschlands; Kellers Realismus ist in Wirklichkeit das, was bei Heine nur ironische Auflösung, nur Programm war: das Ende der ‹Kunstperiode›.

Erst bei Keller zeigt sich ein ganz urwüchsiger, neuartiger Realismus, der dem Wesen nach etwas anderes ist als der Realismus der klassischen Zeit, der das erste deutsche eigenartige literarische Gegenstück zum westeuropäischen Realismus darstellt. Keller ist der erste und einzige deutsche Schriftsteller dieser Zeit, bei dem das Hinübergehen in die neue Periode der Literatur weder Verflachung noch Provinzialismus, weder Anpassung an die reaktionären Strömungen des Bürgertums noch einen verzweifelt auf sich selbst gestellten Individualismus bedeutet.

Das Hinausgehen Kellers über die Traditionen der ‹Kunstperiode› ist ein tiefer, das Wesen der Sache berührender, nicht formalistischer, nicht artistischer Anschluß an die großen Traditionen des Realismus in den entwickelten demokratischen Ländern. Die deutsche Literatur wird in zunehmendem Maße unmittelbarer Zeitgenosse der gesamteuropäischen Entwicklung. Keller ist aber der einzige Schriftsteller deutscher Zunge, bei dem dieser Anschluß keine Ankränkelung durch die beginnende europäische Dekadenz bedeutet, deren Anzeichen – um nur ein paar große Beispiele anzuführen – bei Richard Wagner, bei Friedrich Hebbel oder Conrad Ferdinand Meyer deutlich sichtbar sind. Keller führt die Ideale des deutschen Humanismus in ein kraftvoll realistisch aufgefaßtes und gestaltetes Volksleben ein; besser gesagt: er zeigt mit großer realistischer Kunst, daß diese Ideale in Wahrheit die gewachsenen, reifen Früchte eines demokratischen Volkslebens sind.

Natürlich zeigt das Schaffen Kellers immer wieder eine bestimmte Enge der Problemstellung und eine Resignation als Grundstimmung. Aber Resignation ist ein allgemeiner Zug des großen Realismus des 19. Jahrhunderts. Er zeigt immer wieder zugleich die Notwendigkeit des Entstehens und die Notwendigkeit des Scheiterns der heiligsten Ideale des bürgerlichen Humanismus. Und Kellers Resignation ist – aus Gründen, die, wie wir später ausführlich auseinandersetzen werden, mit der schweizerischen Enge seines Schaffens zusammenhängen – sogar schwächer, weniger verzweifelt als die der meisten großen Realisten des 19. Jahrhunderts. Sie ist auch darum schwächer, weil das Zerstörende des kapitalistischen Progresses in seiner Welt des Menschlichen weniger stark wütet als in der von Balzac oder Dickens. Wo Keller mit realistischer Unerbittlichkeit das Vordringen des Kapitalismus wahrnimmt und seine zersetzenden Wirkungen aufzeigt, zerfällt die spezifisch Kellersche Welt.

Auch die Kellersche Gesellschaftskonstruktion enthält, wie die Balzacs, utopische, im Wirklichen nicht vorhandene Züge; auch sie ist vielfach eine nichtwirkliche Musterwelt, aus Zügen der Vergangenheit in die Zukunft gewoben. Sie ist nicht reaktionär wie die Tory-Utopien Balzacs mit feudal-sozialistischen Zügen, sie ist viel organischer aus der Schweizer Demokratie herausgewachsen als die Balzacs aus dem nachrevolutionären Frankreich. Darum ist die Spannung zwischen Utopie und Wirklichkeit bei Keller viel schwächer. Aber eben darum führt diese Spannung bei ihm in der Schilderung des Kapitalismus nicht zu jenem ‹Sieg des Realismus›, den Balzac errungen hat. Je stärker der Realist Keller die Kapitalisierung der Schweizer Wirklichkeit wahrnehmen muß, desto trockener, prosaischer wird seine dargestellte Welt und steht immer starrer einer abstrakten Utopie gegenüber. Die Poesie des ‹geistigen Tierreichs› zu gestalten, liegt außerhalb von Kellers Möglichkeiten. Der späte Keller versucht, sich zu überreden, daß sein Kampf nicht hoffnungslos sei. Seine schriftstellerische Ehrlichkeit drückt sich darin aus, daß ihm dieses Sich-Überzeugen-Wollen nicht gelingt; aber dieser Kampf bringt keine dichterischen Früchte mehr.

Eine Utopie aus Zügen der Vergangenheit gewoben: dies verbindet Keller mit den besten und ehrlichsten deutschen Realisten seiner Zeit, etwa mit Storm oder Raabe. Der Unterschied ist aber, daß diese auf eine Entwicklung zurückgreifen, deren Niederlage bereits so vollkommen besiegelt ist, daß die Schriftsteller sich über sie keiner Täuschung mehr hingeben können. Daher der tapfer humorvolle Pessimismus Raabes, bei dem die alten enttäuschten Kämpfer der Freiheitskriege, des polnischen Aufstandes usw. wie Gespenster aus einer anderen Welt unverstehend und unverstanden im reaktionären Philisterland dahinschwanken. Daher die lyrische Selbstbeschränkung Storms auf eine Novellistik der Erinnerungen, von welcher er selbst sagt: ‹Zur Klassizität gehört doch wohl, daß in den Werken eines Dichters der wesentliche geistige Gehalt seiner Zeit in künstlerisch vollendeter Form abgespiegelt ist … und ich werde mich jedenfalls mit einer Seitenloge begnügen müssen.›

Der Kellersche Realismus ist keine solche Seitenloge. Auf der Höhe seines Schaffens ist es für Keller möglich, über die urwüchsige Schweizer Demokratie Illusionen zu haben, die mit einer realistischen Wiedergabe der Wirklichkeit vereinbar sind, ja, die ihm noch dazu verhelfen, diese Wirklichkeit wesentlich, vielseitig, reich, ihre höchsten Möglichkeiten entfaltend zu sehen. Diese reiche und vielseitige Lebensgestaltung ist bei Keller eine der wichtigsten Quellen seines Humors, der – im Gegensatz zu Raabe oder zu Reuter – nicht aus Verzweiflung, sondern im Gegenteil aus Zutrauen zu seinen Idealen, aus innerer Sicherheit entspringt: aus der Überzeugung, daß die Kraft der urwüchsigen Demokratie imstande sein wird, alle fortschrittlichen ökonomischen und kulturellen Momente der kapitalistischen Entwicklung in sich aufzunehmen, organisch zu verarbeiten, daß sie durch den Kapitalismus nur ertüchtigt, aber nicht zerrüttet wird. Freilich ist diese eingebildete Sicherheit auf die Dauer nicht zu halten. Immer tiefere Schatten fallen auf diese Kellersche Wunschwelt. Und da seine Kraft auch dichterisch im Vertrauen und nicht im erbittert-schadenfrohen Entlarven liegt, beginnt hiermit der Niedergang seiner Kunst.

Damit sind die Umrisse der Einzigartigkeit seiner literarischen Stellung im guten wie beengenden Sinne skizziert. Deshalb bedeutet sein Schaffen trotz der in ihm überwiegenden bedeutenden neuen Züge den Abschluß der klassischen deutschen Literaturentwicklung, keinen Anfang eines neuen Aufschwungs. Diese Feststellung schließt – wie wir später sehen werden – keineswegs die tiefen und für die weite Zukunft fruchtbaren Ergebnisse des dichterischen, gesellschaftlichen und menschlichen Gehaltes des Kellerschen Werkes aus.

Gerade hier ist die Wirkung der Niederlage der achtundvierziger Revolution auf die deutsche Geistesentwicklung handgreiflich faßbar. Man denke wieder an Feuerbach: in Deutschland bedeutet er den Abschluß einer großen Entwicklungslinie; nach ihm setzen Verfall und Niedergang der Philosophie ein. Aber diese Wendung folgt nicht aus dem philosophischen Gehalt Feuerbachs. Denn in Rußland wird sein Einfluß zum Ausgangspunkt eines großen Aufschwungs auf dem ganzen Gebiet des Denkens für die revolutionäre Demokratie. Daß in Deutschland auf Feuerbach nichts folgte, in Rußland dagegen Denker vom Range Tschernyschewskijs und Dobroljubows, liegt also ausschließlich an der Verschiedenheit der demokratischen Entwicklung in den beiden Ländern.

So große Parallelitäten die Schicksale Kellers und Feuerbachs zeigen, darf man doch diesen Vergleich nicht mechanisch überspannen. Denn Feuerbach hat sich nach 1848 philosophisch nicht weiterentwickelt; auch seine Wirkung in Deutschland verebbt immer mehr, und er stirbt in beinahe vollständiger Vereinsamung und Vergessenheit. Kellers dichterische Vollendung vollzieht sich dagegen in den Jahrzehnten nach der Niederlage der Revolution, und sein Werk erringt, wie bereits gesagt wurde, von Anfang an eine anerkannte Stellung. Diese Entwicklungsmöglichkeit, diese Fähigkeit zum fruchtbaren Wirken verdankt Keller seinem Schweizertum. Es ist ebenso echt und tief, wenn auch – aus Gründen, die wir hier dargelegt haben – weniger welthistorisch als das Rousseaus. Aber auch hier liegt das Unentfaltet-Sein der höchsten Möglichkeiten weniger am Menschen als am Gang der Geschichte. Kellers Schweizertum, die Quelle seiner sich erhaltenden Kraft, ist also zugleich ein Kapitel aus der an Tragödien reichen Lebensgeschichte der deutschen Demokratie.