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Der Zwiespalt im gesellschaftlich-geschichtlichen Weltbild Raabes hat zur Folge, daß er nur individuelle Auswege aus den sozialen Widersprüchen kennt. Schon im ‹Abu Telfan› heißt es: ‹Wir sind wenige gegen eine Million, wir verteidigen ein kleines Reich gegen eine ganze wilde Welt …› Und dieses Reich wird als etwas bestimmt, ‹von dem die Welt nichts wisse›. Die Grundlinie von Raabes Schaffen geht dahin, individuelle Wege, Erziehungswege, durch Menschen und durch Begebenheiten des Lebens aufzudecken, die geeignet sind, in den Menschen jenen echten Kern, der sie zu wirklichen Menschen macht, der ihr Leben mit den besten Überlieferungen des Deutschtums verbindet, zu erhalten, zur Blüte zu bringen.

Diese Menschlichkeit, dieses Deutschtum empfindet Raabe von Anfang an als von übermächtigen Feinden bedroht. Er schildert von vornherein einen Defensivkampf, dessen höchstes Ziel nicht weiter gesteckt sein kann als: einen Winkel zu finden, in dem sich die echten Kräfte der inneren Menschlichkeit unverzerrt und ungebrochen entfalten können.

Raabes Helden ziehen nicht zur Eroberung der Welt aus wie die Helden Goethes, Balzacs oder Stendhals. Sie wollen nur ihre menschliche Integrität aus den drohenden Gefahren des neuen Lebens retten. Ihr Weg nimmt also zuletzt immer die Form der ‹Entsagung› an, wie übrigens schon beim späten Goethe. Diese ‹Entsagung› kann unter Umständen der Rückzug in eine stille, weltentlegene Ecke, ein resignierendes Glück in einer solchen Idylle sein, sehr oft ist sie aber einfach innere Selbstbewahrung im äußeren Untergang.

Wer ist der Feind? Beim jüngeren Raabe sind die Umrisse infolge der historischen Lage Deutschlands kompliziert. Es ist einerseits das alte feudal-monarchistische, reaktionäre, zerstückelte Deutschland, in dem jeder Mensch mit wirklichem Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl ‹mißliebig›, verhaßt werden muß. Andererseits ist es der diese veralteten Gesellschaftsformen durchdringende, teils zerstörende, teils sich anpassende Kapitalismus. Raabe hat das Urteil von Marx über den deutschen Kapitalismus dieser Zeit sicherlich nicht gekannt, und wenn er es gekannt hätte, so hätte er es sicherlich nicht verstanden. Aber das Bild Raabes von Deutschland entspricht vielfach den Marxschen Bestimmungen; auch bei ihm ergreift das Tote das Lebendige.

Freilich muß diese Übereinstimmung mit großen Einschränkungen aufgefaßt werden. Raabe sieht den ökonomischen Prozeß der Kapitalisierung Deutschlands nur in seinen äußerlichen Symptomen: hauptsächlich die Zerstörung der alten Städte, der alten Landschaften, die Proletarisierung, die Auswanderung, das Ersetzen der alten persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen durch die fetischisierten, unmenschlichen, auf nackte Ausbeutung und Beherrschung ausgehenden Formen des Kapitalismus. In der Zeit nach 1870 treten bei Raabe die kapitalistischen Züge immer häufiger und ausgeprägter auf.

Hinzu kommt, daß Raabe, wie auch sein großes Vorbild Dickens, sich weniger für die Entwicklung des Kapitalismus selbst interessiert als für die seelischmoralischen Verzerrungen, die dieser in den Menschen, Ausbeutern wie Ausgebeuteten, verursacht. Während wir bei Balzac die finanzpolitische Physiognomie eines Nucingen, Keller, du Tillet oder Gobseck genau kennenlernen, schildert Dickens, etwa in Dombey, nur den Prozeß der seelischen Versteinerung und die Perspektive des menschlichen Auswegs aus ihr. Diesen Weg geht auch Raabe.

So entstehen bei Dickens und Raabe zwei verschiedene Stile für die Schilderung von oben und unten: jener ist karikaturistisch-satirisch, dieser humorvoll, liebevoll-realistisch. Freilich trennt Raabe von Dickens der wesentliche Unterschied zwischen England und Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dickens’ Karikaturen erheben sich oft zu einer Hogarth-Daumierschen Höhe und sind – gerade in ihrer satirischen Wucht – sehr realistisch. (Umschreibeamt in ‹Klein Dorrit›, Gerichtspraxis in ‹Bleakhouse›, kapitalistisch-politisches Treiben in ‹Harte Zeiten› usw.) Bilder von dieser unheimlichen Größe kann man bei Raabe nicht finden; allenfalls nähert sich dieser Höhe die Beschreibung der kleinen Höfe im ‹Abu Telfan›. Aber der satirische Haß gegen die kapitalistische Oberschicht bewegt sich durchaus in Dickensschen Bahnen. So beschreibt Raabe zum Beispiel in dem Jugendroman ‹Die Leute aus dem Walde› eine Soirée bei der Geldaristokratie im Stil der Börsenberichte:

‹Ehe wir uns den Einzelheiten hingeben, können wir den Totaleindruck in der Sprache der Zeit, der Börsensprache, charakterisieren. Wir finden, daß die Stimmung der Gesellschaft im allgemeinen eine feste war, und das Geschäft der Unterhaltung sich auf der soliden Bahn ruhigen Fortschritts bewegte. Komplimente und Schmeicheleien fanden mit den bestehenden Gegenkomplimenten Nehmer und Nehmerinnen. Nach Skandal vielseitige Nachfrage; Stadtklatschereien aber leider loco unverändert, fest – jedoch beliebt. Politik ziemlich schwankend, in Musik und Theater lebhaftes Geschäft, günstige Stimmung für den letzten Roman; wissenschaftliche Fragen und Wahrheit still und flau. Die älteren Damen befanden sich in sehr fester Haltung, die jüngeren zur Notiz, schwimmend und flott. Die älteren Herren unverändert – Konsumgeschäft. Die jüngeren Herren in matter Haltung zur Notiz. Nach zwei Uhr sanken die Kurse der Unterhaltung; die Notierungen aus der letzten Stunde der Gesellschaft sind uns nicht zugegangen.›

Ähnlich wie bei Dickens, wenn auch fast immer auf niedrigerer Stufe, liegt bei Raabe die Schwäche darin, wie das innere Leben und das äußere Schicksal der Kapitalisten gestaltet wird. Die geschäftlichen Abenteuer und Unmenschlichkeiten, die sexuellen Exzesse der Oberwelt sieht Raabe mit der naiven und erschrockenen Romantik eines deutschen Kleinbürgers.

Als bedeutender Gestalter zeigt sich Raabe auf diesem Lebensgebiet nur dort, wo er die innere Tragödie einer Verzerrung der Menschlichkeit, ihr Überwuchert-Werden, ihr Verkehrt-Werden durch Habgier und Machtgier darstellt. Die eisige Leere, in der solche Menschen leben, wird, etwa im Lebenslauf des Juristen Hahnenberg (‹Drei Federn›), auf Dickensscher Höhe gestaltet. Und die starke, betonte und bewußte Parteinahme Raabes für unten verschleiert seinen Blick nicht, wenn gezeigt werden soll, wie Habgier und Egoismus die Charaktere auch der unteren Schichten verzerren.

All dies ist aber für Raabe, wie auch für Dickens, nur Basis, Hintergrund und Kontrast. Seine wesentliche Aufgabe sieht Raabe darin: zu gestalten, wie Leben innerlich und äußerlich aussieht. Die allgemeinen Umrisse stehen schon klar vor uns: es kann nur die Zurückgezogenheit vom großen Getriebe des Staates und der Wirtschaft sein. Eine lyrische oder ironische, eine stoische oder epikureische Resignation, die gesellschaftlich und weltanschaulich bei den verschiedenen Menschen auch die verschiedenen individuellen Motive hat. Menschliche Freiheit in der Gesellschaft seiner Gegenwart besteht für Raabe im Verzicht auf Macht, Reichtum und Geltung. ‹Macht … dient am Ende nur dazu, uns zu größeren Sklaven zu machen.› (Hagenheim in ‹Ein Frühling›.)

Der Charakter dieser Entsagung ist zugleich sehr einfach und sehr kompliziert. Einfach, weil bei der großen Wahrhaftigkeit Raabes in der Schilderung seiner Figuren und ihrer Schicksale der letzte soziale Grund klar hervortritt: die Hilflosigkeit, die Schwäche des einzelnen gegenüber mächtigen gesellschaftlichen Strömungen, die Ohnmacht der individuellen Moralität gegen die sozialen Tatsachen des wachsenden deutschen Kapitalismus.

Diese Hilflosigkeit hat aber bei Raabe eine sehr interessante, abwechslungsreiche, innere, moralische und weltanschauliche Dialektik, deren Hauptfragen sich freilich nicht so sehr darum drehen, ob Entsagung oder Kampf der Weg sei, sondern um die Möglichkeit, das innere Wie und Warum des Verzichts klarzulegen. Raabes Romane sind voll lebendiger und vielseitig differenzierter Gestalten, deren Leben, Entwicklung, Gefühle, Reflexionen usw. diese Dialektik mannigfaltig abwandeln. Es wäre auch falsch, nicht zu sehen, daß Raabes Verhalten zu seinen entscheidenden Lebensproblemen im Lauf der Zeit wichtigen Wandlungen unterworfen war. Diese Änderungen können zwar den Grundcharakter seines Schaffens nicht entscheidend verwandeln, reichen aber dazu aus, auf der Basis der jeweiligen variierten Dialektik der einzelnen Lebensbilder die gestaltete Welt Raabes reich und vielseitig zu machen.

Diese Vielseitigkeit wird durch die realistische Schärfe Raabes sehr gesteigert. Denn obwohl das weltanschaulich Entscheidende, ja, das letzte Wort der Menschlichkeit bei ihm notwendigerweise mehr in den Reflexionen über die Begebenheiten als in diesen selbst liegt und demnach die Figuren sich mehr durch ihre Gedanken und Gefühle als durch ihre Taten voneinander und vom gesellschaftlichen Hintergrund abheben, hat doch jede Erzählung Raabes eine interessante, oft spannende Fabel.

Auch hier geht Raabe auf Dickens’ Wegen. Das ist aber kein Schülertum und keine Nachahmung, sondern bei beiden Schriftstellern eine innere Verwandtschaft bestimmter letzter Stellungnahmen zum Menschen.

Der Moralist Raabe will in seinen Werken die Menschen erproben. Ihr innerer Kern soll freigelegt, Kern und Schale sollen voneinander getrennt werden. Die dialektischen Reflexe solcher Umwandlungen, ihr moralisches Pro und Contra werden in den sehr charakteristischen Raabeschen Gesprächen farbenreich, gefühlsgesättigt, humoristisch-doppelbödig, aber zugleich auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, mit feiner weltanschaulicher Individualisierung gegeben. Das Auslösende ist aber stets die Tat , eine Lebensentscheidung, vor die die Figur gestellt wird, in der sie sich – in der Außenwelt handelnd – zugleich innerlich dem eigenen Zentrum zu- oder von ihm fortbewegt. So sehr die Gefühle, die Reflexe und Reflexionen, das humoristisch-weltanschauliche Für und Wider die Hauptsache bleiben, so sehr muß Raabe, um seine Absichten künstlerisch zu verwirklichen, eine Kette derartiger Peripetien zu einer komplizierten, überraschungsvollen Handlung verknüpfen.

Aus dieser weltanschaulich-dichterischen Anlage der Handlung folgt bei Raabe, wie bei vielen bedeutenden Erzählern, eine souveräne Behandlung des Zufalls. Nur hat diese bei Raabe ihre besondere, spezifische Note. Einerseits spielt in seiner ganzen Auffassung der Welt der Zufall eine außerordentliche Rolle: ‹Er ist und bleibt der Herr und Gebieter›, heißt es in einem seiner Romane. Je mehr sich für Raabe das gesellschaftliche Geschehen in die persönlichen Schicksale einzelner Individuen zurückzieht, je mehr die gesellschaftlichgeschichtlichen Kategorien zu nur allgemeinen Formen des Hintergrunds werden, eine um so größere Rolle muß Raabe dem Zufall in der objektiven Abfolge der Begebenheiten zusprechen.

Dies reflektiert sich in den Gefühlen und Anschauungen seiner Menschen. Das tiefe Erlebnis der Unsicherheit und Unerklärbarkeit des gesellschaftlichen Lebens gestattet Raabe nicht, sich gänzlich von der Religion loszusagen. Es bleibt bei ihm stets ein bestimmtes religiöses Gefühl erhalten, aber zugleich ist eine Abneigung gegen die Religion nicht zu verkennen, so sehr sie auch durch humoristische Vorbehalte verdeckt ist. Und diese humoristische Dialektik führt ihn dazu, etwas von den sozialpsychologischen Wurzeln der modernen bürgerlichen Religiosität (die eigne mitinbegriffen) zu ahnen. So heißt es zum Beispiel in dem Roman ‹Kloster Lugau›: ‹Es gibt keinen Menschen, der an keinen Gott glaubt: einen hält jeder und jede fest bis zum letzten Atemzug im drangvollen hilfebedürftigen Erdenleben – den Deus ex machina ! An dessen Eingreifen in größten und kleinsten Dingen hofft und glaubt der Atheist, der Pantheist, der Deist und sogar der Theist. An ihn klammert sich alles im zertrümmerten Staat, im versinkenden Familienglück, auf scheiternden Schiffen … Wenn aber ein Gott sich selten persönlich machen läßt, so ist der Deus ex machina.›

Andererseits empfängt der Zufall bei Raabe seine volle künstlerische Berechtigung von den Grundproblemen des ‹Erziehungsromans›. Der Zufall ist das Lackmuspapier, das die wahre Beschaffenheit, die wirkliche Kernstruktur der einzelnen Figuren sichtbar macht. So viel, aber nicht mehr. Da nun die innere Notwendigkeit, der künstlerische Zusammenhalt jeder Erzählung Raabes auf der sozialen und individuellen Wahrheit solcher Entwicklungen beruht, ist die pragmatische Beschaffenheit der Anlässe, die die einzelnen Knotenpunkte auslösen helfen, berechtigterweise von sekundärer Bedeutung. Es reicht vollkommen aus, wenn diese Anlässe ein Minimum an kausaler Möglichkeit aufweisen; schon Schelling hat gesagt, daß aus der bloßen, wenn auch noch so folgerichtigen, kausalen Verknüpfung nie eine künstlerische Notwendigkeit entstehen kann. Die künstlerische Überzeugungskraft solcher mehr oder weniger zufälligen Anlässe entsteht aus den Reaktionen, die sie hervorrufen, aus der Energie, mit der sie den inneren Kern der Menschen zum Vorschein bringen. In dem Roman ‹Alte Nester› läßt Raabe seinen Helden sagen:

‹Es ist manchmal dem Menschen nichts dienlicher, als daß er mal so recht vollständig umgekehrt wird, wenn das Allerinnerste nach außen kommt, dann erfährt er erst, was eigentlich alles in ihm gesteckt hat und was ihm nur angeflogen war.› Wenn Raabes Zufallshäufungen mitunter gemacht, ‹romanhaft› wirken, so deshalb, weil an einzelnen Stellen – besonders wo die oberen Schichten geschildert werden – die seelischen Reaktionen unwahr, romantisch im schlechten Sinn oder leer-konstruiert sind.

Raabes Weg, den Inhalt seiner Resignation ständig neu zu fassen, ist – alles in allem – ein mutiges Abrechnen mit unhaltbar gewordenen Illusionen. Freilich ist der reale Spielraum dieser Unerschrockenheit sozial begrenzt. Unzweifelhaft macht er aber von dem weichen, entsagungsvollen Lyrismus seiner Anfänge (‹Die Chronik der Sperlingsgasse›, 1854/55; ‹Ein Frühling›, 1856/57; ‹Die Leute aus dem Walde›, 1861/62) bis zum siebziger Krieg eine starke Entwicklung durch, die sich in der gewaltigen Steigerung der sozialen und historischen Anklage äußert (‹Drei Federn›, 1864/65, nach Raabes Urteil sein erstes wirklich selbständiges Werk; ‹Abu Telfan›, 1865/67; ‹Der Schüdderump›; 1867/69).

Auch diese Anklage Raabes erscheint in der bürgerlichen Literaturgeschichte als ‹Pessimismus› Schopenhauerischer Observanz. Worin besteht aber in Wahrheit dieser ‹Pessimismus›?

Raabe verurteilt mit großer Schärfe die deutsche Kleinstaaterei und ihren feudal-monarchistischen Charakter. Er sieht in ihr einen Sumpf des kleinlichsten Philistertums. Sie ist jeder anständigen individuellen wie sozialen Regung feindlich. Jeder bedeutende, ja schon jeder streng moralische Mensch wird in dieser Welt zum Paria, zum outcast.

Raabe sieht zugleich in der Kapitalisierung Deutschlands keine Wendung zum Besseren. Der Kapitalismus ist für ihn die Zerstörung und Korrumpierung des Besten in der Welt und im Menschen. Dazu erkennt Raabe sehr früh, daß die neue Macht des Geldes zwar jene alte Welt vernichtet, die er betrauert, zugleich aber die ihm verhaßte, kleinlich verkommene, feig hochmütige adlige Oberschicht der Kleinstaaten an der Macht erhält. Von ‹Ein Frühling› bis ‹Der Schüdderump› finden wir bei Raabe überall das Bündnis des alten Adels und der neuen Finanzmagnaten.

Raabes allgemeines Bild der individuellen Rettungen vor diesen beiden Feinden ist uns bereits bekannt. Wie in ‹Wilhelm Meisters Lehrjahren› entsteht zuweilen sogar ein Kreis Gleichgesinnter, und es fehlt auch nicht an der pädagogisch-propagandistischen Perspektive (‹Abu Telfan›). Es wäre aber abstrakt, aus der Tatsache, daß auch die Perspektive des Goetheschen Erziehungsromans utopisch ist, weitgehende Folgerungen zu ziehen und Raabes Verwandtschaft mit dem Goetheschen Vorbild, das ihm immer teuer war, zu überschätzen. Goethes Utopie steht inmitten der Weltumwälzung durch die Französische Revolution. Ihre Gesellschaftlichkeit war bei allen utopischen Zügen ein vermeintlich sichtbarer Weg der Entwicklung. Raabes Perspektive ist nicht nur skepsisumwittert, nicht nur ein resigniertes Zurückgehen von dem Weg, den damals ‹die ganze Welt› ging, nicht nur der verzweifelte Versuch, in einer geist- und menschheitsfeindlichen Realität stille ‹Intermundien› zu schaffen, sondern – und hier zeigt sich Raabes große schriftstellerische Ehrlichkeit – seine Perspektive wird stets von der Handlung selbst widerlegt oder wenigstens zweifelhaft gemacht. Die positiven Helden Raabes vertreten den Geist einer versunkenen Epoche, des seelischen Aufschwungs zur Zeit der Befreiungskriege, und stehen, wenn sie sich zum äußersten Heroismus des Widerstands aufraffen, als ‹waffenrasselnde Gespenster›, als Don Quichottes der siegreichen äußeren Wirklichkeit gegenüber.

Wir haben gesehen, daß sich mit dem siebziger Krieg eine wichtige Wandlung in Raabe vollzieht; auch seine – zwiespältige – Reaktion auf diese Ereignisse ist uns bekannt. Raabe versucht unter gründlich veränderten Verhältnissen jetzt wieder, während der Übergangszeit, das Beste lebendig zu erhalten, in die Zukunft hinüberzuretten. So verteidigt er die Begeisterung der Schiller-Feier von 1859 gegen den egoistischen ‹Realismus› der Philister (‹Der Dräumling›, 1870/71). Und er sieht sich nun gezwungen, mit dem wirklichen Herrscher Deutschlands, mit dem Kapitalismus, sich schriftstellerisch auseinanderzusetzen. Hier erleidet er eine dichterische Niederlage. Und zwar gerade deshalb, weil er um jeden Preis einen Mittelweg, eine ‹Versöhnung› sucht. Raabe bemüht sich, Gestalten zu erfinden, in denen die kapitalistische Tätigkeit mit dem von ihm gehüteten Geist der deutschen Traditionen in Einklang gebracht werden kann. Aber weder der gutmütige Berliner Sonderling und Unternehmer Schönow (‹Villa Schönow›, 1882/83) noch der Chemiker Asche, der selbst Kapitalist wird, doch in einer Liebesehe, in humanistischen Studien ein seelisches ‹Intermundium› für sich schaffen will (‹Pfisters Mühle›, 1883/84), haben die Wahrheit des Typischen; im besten Fall sind sie, wie Schönow, Gestalten von individuell exzentrischer Echtheit. Wenn der alte Pfister, dessen Ahnen jahrhundertelang Mühle und Gasthaus geführt haben, vor der neuen Welt entsagungsvoll verstehend kapituliert und sagt: ‹Dann wird es wohl der liebe Gott für die nächsten Jahre und Zeiten so fürs beste halten›, spricht er Raabes Wunschtraum nach Versöhnung aus und zeigt die sozialen Schranken seines Schöpfers. Aber zum Glück für Raabes Werk ist dieser Versuch, zu versöhnen, in Raabes Leben eine vorübergehende Episode geblieben.

Raabe hat nie einen allzu festen Glauben an diesen Mittelweg gehabt; sein Wirklichkeitsgefühl war viel zu stark, als daß er hierin die echten und bezeichnenden Typen entweder der Epoche oder seiner eigenen Zukunftssehnsucht hätte sehen können. Seine Opposition gegen die neue Welt des Kapitalismus läßt auch nicht nach, obwohl er die nationale Einheit durch das neue Reich bejaht. Diese Opposition Raabes, wird aber immer individualistischer, apolitischer. Es entsteht ein Zyklus von Romanen über den ‹Sieg der Vergangenheit›, über das verlorene und wiedergewonnene ‹Kindheitsparadies› (‹Alte Nester›, 1877/79; ‹Stopfkuchen›, 1888/90; ‹Die Akten des Vogelsangs›, 1893/95; ‹Altershausen›, ab 1899 Fragment).

Hier herrscht die Flucht ins seelische ‹Intermundium›, die Rettung des Menschen in die realisierte Welt der Kindheitsträume oder gar, wie im letzten Fragment, in die Welt der Kindheitsträume schlechthin. Die Betonung des Wertes von Vergangenheit und Erinnerung ist für die ganze Entwicklung Raabes charakteristisch. Schon in seinem Erstlingswerk heißt es: ‹Die wahre, lautere Quelle jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung ist die traurig süße Vergangenheit mit ihren erloschenen Bildern, mit ihren ganz oder halb verklungenen Taten und Träumen.› Und in ‹Pfisters Mühle› läßt Raabe einen halbverkommenen Dichter die Forderung der Zeit aussprechen: ‹Folge du unserem Rate, so wirst du etwas vor dich bringen.› Er fügt aber sofort hinzu: ‹Nur sieh dich nicht um nach dem, was du vielleicht dabei hinter dir liegenließest.› Und gerade das, was der Mensch bei der Anpassung an die Praxis des kapitalistischen Lebens verliert, hinter sich liegenläßt, hält Raabe für das menschlich Wertvollste. In jenen späten Romanen wird nun dieses Verlorene gesucht – verfehlt oder gefunden.

Diese Fragestellung bei Raabe ist echt deutsch und wächst organisch aus dem Zusammenstoß seiner Weltanschauung mit dem sich rasch entfaltenden Kapitalismus. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Privatproblem einer exzentrischen Dichterpersönlichkeit. Vielmehr beruht Raabes Popularität weitgehend darauf, daß er die kapitalistische Wirklichkeit leidenschaftlich, aber nur gefühlsmäßig und subjektiv ablehnte.

Der deutsche Charakter der spezifischen Problemstellung bei Raabe ändert aber nichts daran, daß sie zugleich eine internationale Erscheinung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist. Die Poesie der Kindheit ist ein alter Schatz der Literatur. Sie ist aber bei den englischen Realisten des 18. Jahrhunderts, bei Goethe und bei Gottfried Keller, dem großen Spätling der demokratischen Literatur, noch aus jenem sozial ungebrochenen Gefühl entstanden, das Marx mit allen sozialen und historischen Wurzeln klar auf den Begriff gebracht hat: ‹Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden, oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivität des Kindes nicht und muß er nicht selbst wieder auf einer höheren Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren? Lebt in der Kindernatur nicht in jeder Epoche ihr eigener Charakter in Naturwahrheit auf?›

Marx kennzeichnet hier zugleich die sozialen Voraussetzungen für die Ungebrochenheit und soziale Unproblematik dieses Gefühls. Die Möglichkeit für das Individuum, ‹auf einer höheren Stufe seine Wahrheit zu reproduzieren›, hängt durchaus davon ab, ob und wieweit der spezifische Charakter einer Epoche seine Naturwahrheit im Leben selbst finden und realisieren kann. Ist dies möglich, so gewinnen die bedeutenden Schriftsteller das von Marx geschilderte normale Verhältnis zur Kindheit. Führt dagegen infolge der gesellschaftlichgeschichtlichen Struktur einer Periode die ‹normale› Entwicklung des Individuums zur Erstarrung, zur Verknöcherung der Menschlichkeit, so erscheint auch die individuelle Beziehung zur Kindheit in einer anderen Beleuchtung. Wir wissen, wie Raabe die Entwicklungsmöglichkeit der Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft eingeschätzt hat; wir haben auch gesehen, daß er hiermit eine typische Wahrheit der sozialen Lage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesprochen hat. Er gibt in seinen Werken wiederholt sowohl konkrete als auch verallgemeinerte Schilderungen solcher Prozesse. Wir führen ein solches typisch-verallgemeinertes Beispiel an (aus ‹Fabian und Sebastian›):

‹ … Nicht immer fällt einem die Wahrheit wie ein Stein auf das Herz und zermalmt es. Das Gewöhnliche ist, daß sie niederrieselt wie Sand; anfangs kaum beachtet in den fliegenden Atomen, aber Körnchen auf Körnchen durch Tag und Nacht – belächelt – dem Anschein nach durch einen Hauch weggeblasen, nicht des Nachdenkens und noch weniger eines körperlichen Mißbehagens wert. Wie genau muß der Mensch aufpassen, um zu merken, wie die Dämmerung kommt, wie aus der Helle die Dunkelheit wird! … Wie grau die Welt wird! Staub über Deinem Leben! Staub auf Deinem Geiste! … Machtlos gegen den rieselnden Sand; wehe Dir, Du fängst an nachzugrübeln über die Stunde, in der Du zum erstenmal Erde auf Deiner Zunge schmecktest! … und heute weißt Du … daß der Staub, der graue, trostlose Überzug auf Deinen Lieblingsneigungen, Anschauungen und Begriffen wachsen, immer wachsen wird; daß der Schatten und der Staub von Rechts wegen Deine Herren sind auf Deinem ferneren Lebenswege … Du fühlst und findest Dich in einer grauen Wüste allein – zähle doch die Sandkörner! rechne, rechne – aber rückwärts! Du rechnest mit dem Staube, der sich auf Deiner Welt gesammelt hat und den kein Hauch der Luft in irgendeiner Stunde wieder von den Dingen bläst …›

Ist es nicht selbstverständlich, daß in einer Welt, die so beschaffen ist, für eine Weltanschauung, die sie so betrachtet, Kindheit und Jugend nicht mehr nur als der sonnige, märchenhaft-strahlende Anfang des Lebens erscheinen, sondern als das verlorene Paradies der Wahrheit, der Natur, des menschlichen Daseins?

Dickens ist der erste große Gestalter der Kindheit in diesem Sinn, Flaubert läßt am Schluß seines subjektiven Romans (‹L’éducation sentimentale› ) die zwei Hauptgestalten, beide nach verlorenem, vertanem Leben, sich über kleine, unwesentliche Episoden ihrer Jugendzeit unterhalten, und beide finden, diese Erinnerungen seien das Beste, was ihnen das Leben überhaupt beschert hätte. Und Baudelaire singt (Moesta et errabunda ):

– Mais le vert paradis des amours enfantines,

L’innocent paradis, plein de plaisirs furtifs,

Est-il déjà plus loin que l’Inde et que la Chine?

Peut-on le rappeler avec des cris plaintifs,

Et l’animer encor d’une voix argentine,

L’innocent paradis, plein de plaisirs furtifs?

– Doch unsrer kindlichen Liebe grünender Garten,

Schuldloser Garten, erfüllt mit verstohlenem Glück,

Ob er schon weit in den indischen Meeren verschwimme?

Ruft man ihn wieder mit klagenden Lauten zurück,

Lebt er noch einmal beim Klang einer silbernen Stimme,

Schuldloser Garten, erfüllt mit verstohlenem Glück?

Die späten Werke Raabes bilden ein originelles deutsches Gegenstück zu diesen internationalen Tendenzen. Das Besondere – und spezifisch Moderne – bei Raabe besteht darin, daß solche Rückreisen ins Kinderparadies noch viel energischer in den Mittelpunkt der Gestaltung gerückt sind als bei Dickens oder Flaubert: Sie bilden den Hauptinhalt der späten Werke und bestimmen demgemäß auch den Stil. Die humoristische Willkür, die bei Raabe stets in einer lebendigen Wechselwirkung zu den episch streng gebauten Fabeln stand, verwandelt sich immer mehr in ein Ineinanderspielen von Vergangenheit und Gegenwart, von Erinnerung und Erlebnis, wobei in wachsendem Maß die aufsteigende Kindheitserinnerung die immer spärlicheren Gegenwartserlebnisse überwuchert.

Hätte indes Raabe diese Gegenüberstellung geradlinig und folgerichtig durchgeführt, hätte er sans phrase , ohne jeden Vorbehalt gegen das Leben der ‹Erwachsenen›, für die Kindheit optiert, fände sich hier kein Raum für das komplizierte dialektische Für und Wider solcher Lebensgefühle und Stellungnahmen zum Leben – so wäre der alternde Raabe in einer sentimentalen Unterhaltungsliteratur versunken oder zum subjektivistischen décadent geworden. (In seinen schwachen Werken, in den schwachen Abschnitten der guten Schriften seiner Spätzeit streift er beides.)

Aber der Schriftsteller Raabe ist seinen eigenen Träumen gegenüber sehr kritisch. Er ist in ihrer Gestaltung ein echter Realist, das heißt, er sieht Traum und Traumverwirklichung stets im lebendigen Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Woher? Wohin? Wozu? Dies wird von ihm stets unerbittlich wahrheitsgetreu gefragt; er vermischt nicht seine Wertung der Wirklichkeit mit dieser selbst, ja, er deckt die realen Wurzeln seines Wertens, seiner Träume immer wieder auf.

Deshalb werden – schon in den früheren Romanen – die Träume mit der Wirklichkeit kontrastiert; deshalb wird der Don-Quichotte-Charakter der Träumer, sogar das nur Spielerische (in bestimmtem Maß geradezu die Gewissenlosigkeit) ihres Eingreifens in fremde Menschenleben aufgedeckt; deshalb stellt Raabe in jeder Periode seines Schaffens seinen Träumern realistische, gesunde, zuweilen bis zur Philisterhaftigkeit kluge Frauencharaktere gegenüber. Die feine Dialektik Raabes zeigt sich darin, daß diese Klugheit nur äußerlich die ‹Lebensweisheit› der Spießer streift, in ihrem tiefsten Kern jedoch eine andere, höhere Form resignierten Durchschauens der Wirklichkeit vorstellt. Solche Frauen sind sich einerseits über die Irrealität dieser Träume und Träumer im klaren, andererseits schätzen sie zugleich deren tiefe Lebensnotwendigkeit gerecht ein. Sie belächeln – bald traurig, bald gutmütig-ironisch – die irreale Lebensgrundlage der besten Menschen ihrer Zeit und versuchen, sie von vergeblichen Zusammenstößen mit der gemeinen Wirklichkeit fernzuhalten; zugleich aber sind sie stolz darauf, daß sie anders sind als die einfachen, ‹organischen› Produkte der Gegenwart, die Philister. So wie Sancho Pansa, trotz seiner oft erprobten Voraussicht, sich die Überlegenheit Don Quichottes stets gefühlsmäßig klarmacht, verfahren auch diese Frauen. Nur ist ihr Sancho-Pansatum einsichtsvoller, gefühlsbetonter, ironischer und selbstironischer, als es das klassische Vorbild aus historischen Gründen sein konnte.

Diese komplizierte Widersprüchlichkeit von Traum und Leben, von Ideal und Wirklichkeit wird beim späten Raabe immer innerlicher und dialektischer. Da das Ideal auch subjektiv bewußt jede Wirksamkeit im Leben verloren hat; da der Träumende seinen Traum nicht mehr mit der Wirklichkeit verwechselt, noch ihn ihr kämpfend aufdrängen will; da er träumend weiß, daß er träumt, daß er sich außerhalb der Lebensrealität befindet – entsteht ein neuartiges Weltbild. Was in den früheren Romanen Raabes die anderen von den donquichottehaften Helden wußten, das wissen diese nun von sich selbst.

Diese Bewußtseinsänderung ist aber zugleich eine Verwandlung der Inhalte und der Bewertung. Beim späten Raabe taucht notwendig das Ibsensche Problem der Lebenslüge auf. Schon verhältnismäßig früh (‹Vom alten Proteus›, 1875) wird gesagt: ‹Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute›; zwei Jahre später lautet es in ‹Alte Nester›: ‹Was ist die nichtige dumme Phrase: Mein Haus ist meine Burg! gegen die so sehr unpolitische, so selten ausgesprochene und doch so tief und fest, ja manchmal mit der Angst der Verzweiflung im Herzen festgehaltene Überzeugung: Mein Luftschloß ist mein Haus!› Und in dem späten Roman ‹Die Akten des Vogelsangs› gibt Raabe eine interessante Parallele zum – durch phantasievollen Betrug – glücklichen, erfüllten Tod der alten Mutter Peer Gynts bei Ibsen. (In ‹Villa Schönow› ist ein kleines episodisches Vorspiel dazu gestaltet.) Wie bei Ibsen Solveig ein Leben lang auf Peer Gynt wartet, so wartet hier die charakterstarke, phantasiereiche, kluge Mutter auf die Rückkehr des Sohnes, der auszog, die Wirklichkeit seinen Idealen zu unterwerfen. Auch sie weiß einiges aus der späten Weisheit Raabes über den Zusammenhang von Ideal und Illusion: ‹Auch die Illusion gehört eben zu den Mitteln, die Erde grün zu machen und schön zu erhalten›, sagt sie einmal. Inmitten der immer prosaischer und feindlicher werdenden Umwelt bewahrt sie das Jugendparadies des Sohnes für ihn in unveränderter Form. Dieser kehrt nun heim, gebrochen und desillusioniert. Er findet die sterbende, noch immer gläubige Mutter und spielt für sie eine Komödie der ‹unverlorenen Illusionen›; wiegt sie dadurch, durch phantastische Lügen, wie Peer Gynt, in einen glücklichen Tod.

Diese Relativität gesellschaftlich wurzellos gewordener Ideale, Lebenslügen, Selbsttäuschungen ist nicht zufällig ein gemeinsames Thema des späten Ibsen und des späten Raabe. Das Aufbewahren-Wollen der alten Ideale aus der Aufstiegszeit der bürgerlichen Klasse führt bei durchdringenden Psychologen notwendig zu diesem Problem und zur Erkenntnis seiner Unlösbarkeit (auf bürgerlichem Boden, was freilich diese Schriftsteller nicht wissen können). Raabes Helden stehen der kapitalistischen Wirklichkeit allein gegenüber. Wenn ihnen die Flucht in ein ‹Luftschloß› nicht gelingt – und auf jedes Luftschloß fällt der Schatten von Selbsttäuschung und Lebenslüge –, müssen sie sich der Wirklichkeit anpassen oder zugrunde gehen. Und Raabe schildert, melancholischironisch, eine ganze Reihe von Lebensläufen, wo das Unvermögen, Traum und Wirklichkeit voneinander zu scheiden, schließlich mit langsamer und unerbittlicher Logik ins Philisterland führt.

So gestaltet der späte Raabe eine tief traurige Welt voller Enttäuschungen, Entgleisungen, Untergänge und Lebenslügen. Aber auch hier weicht er vor den äußersten Konsequenzen nicht zurück; er nennt die Flucht eine Flucht und das Luftschloß ein Luftschloß. Trotzdem entsteht auch hier kein Weltbild pessimistischer Verzweiflung, obwohl für Raabe kein realer Ausweg aus seinen Dilemmas sichtbar ist. Der Grund hierfür ist Raabes Volksverbundenheit. Im Jahre 1843 nennt Marx den elegischen ‹Grabgesang› Arnold Ruges unpolitisch. Er begründet dies so: ‹Kein Volk verzweifelt, und sollt es auch lange Zeit nur aus Dummheit hoffen, so erfüllt es sich doch nach vielen Jahren einmal aus plötzlicher Klugheit alle seine frommen Wünsche.› Hinter der alles auflösenden Dialektik der Illusionen steht auch bei Raabe diese ‹Dummheit› des Volkes: es ist unmöglich, fühlt er, daß der menschliche Kern eines großen Volkes wirklich, endgültig verderbe, wesenlos werde, sich zersetze. Diese ‹Dummheit›, mit der Raabe ‹trotz alledem› (beiläufig: das letzte Wort des sterbenden Ibsen) ja sagt, ist sein Humor.