20

Es war bereits tiefe Nacht, als Kranach den Fiat durch den immer schmaler werdenden Forstweg steuerte. Der Anhänger schaukelte auf den tiefen Fahrtrinnen wie ein steuerloses Ruderboot. Die Beschreibungen, die ihm Elia immer wieder als aufmerksame Beifahrerin zurief, stimmten mit der Realität nicht überein. Weder der beschriebene Weg, der nach der Passhöhe links die beiden zu ihrem Ziel bringen sollte, fand seinen Platz in der Wirklichkeit noch die nach dem Wagen greifenden Fichten- und Tannenarme, welche sie zu einer Wiese geleiten sollten. Erst recht gab es keine Spur von der kleinen verlassenen Villa, die angeblich vor einem weiten Horizont auf sie wartete wie einst auf die Romanfigur Marlene Castor und ihre fiktive Tochter Lya. Da half es auch nichts, dass Elia wie verrückt im Roman hin- und herblätterte, um einen Ausweg aus dem dunklen Wald zu finden, in den Kranach mit lautem Fluchen eingebogen war.

»Wir sind hier falsch«, sagte Elia und sah mit vorwurfsvollen Blicken den abgekämpften Kommissar an, der nicht nur Mühe hatte, die Augen offen zu halten, sondern auch, den Wagen nicht gegen einen der Bäume zu steuern, die im Scheinwerferlicht immer näher an die beiden heranrückten.

»Du wolltest zu dieser verdammten Villa. Hier ist aber weit und breit keine Villa.«

»Weil Sie auch nicht ordnungsgemäß meinen Anweisungen gefolgt sind, sondern die erstbeste Abzweigung genommen haben.«

»Da war keine andere«, fluchte Kranach.

»Weil Sie nicht richtig hingesehen haben.«

Kranach wollte platzen vor Wut, und just in dem Moment sprang der Wagen förmlich in die Höhe und setzte dann mit einem lauten Krachen auf dem Weg auf.

»So passen Sie doch auf! Rosinante wird noch übel bei so einem Gerüttel«, empörte sich Elia, sah wieder in das Buch und wartete, bis Kranach den Wagen aus seiner misslichen Lage herausmanövriert hatte.

»Hier ist nichts. Absolut nichts. Wir haben uns verfahren«, schimpfte er erneut, stellte den Motor des Wagens ab, stieg aus und suchte auf seinem Handy nach der aktuellen Position. »Ich hätte nie auf dich hören sollen. Wir hätten ganz normal nach Tannenfall fahren und uns dort ein Hotel nehmen sollen.«

»Das geht nicht, Herr Kommissar«, sagte Elia, ohne aufzublicken.

»Was geht nicht? Ein Hotel nehmen? Damit wir uns diesen Mist hier erspart hätten?«

Ohne zu antworten, blätterte Elia im Buch vor. »Hier, Seite sechsundachtzig«, sagte sie und las: »Dieses Tannenfall: Wo ist das? Ist das zwischen Spital und dem Semmering? Nördlich vom Stuhleck?«

Dann verstellte Elia ein wenig ihre Stimme. Sie sprach tiefer und ahmte so einen Dialog zwischen der Heldin Marlene und einem mysteriösen Bergführer nach.

»Du weißt gar nichts, oder?«

»Was meinst du?«

»Tannenfall existiert nicht.«

Elia atmete tief ein und blickte Kranach aus dem Inneren des Wagens an. »Da nützt Ihnen Ihr Handy nichts«, sagte sie. »Da können Sie draufstarren, so lange Sie wollen.«

Kranach war inzwischen so wütend, dass er mit der flachen Hand wie ein Verrückter auf das Dach des Fiat schlug, sodass Rosinante, der die ganze Reise über still und unauffällig gewesen war, zu schnauben begann und sich im Anhänger wie wild hin und her bewegte.

»Sehen Sie? Jetzt machen Sie Rosinante auch noch nervös«, sagte Elia.

»Und was sollen wir jetzt tun? Ich kann hier nicht mehr zurücksetzen, da es zu dunkel ist und ich den Anhänger in den Abgrund schieben würde. Und vorwärts geht es auch nicht, weil ich auf diesem verfluchten Weg aufsitze.«

»Dann lassen Sie uns zu Fuß gehen! Dieses Stuhleck ist sicher nicht weit. Von dort oben sehen wir ins Tal und können Ausschau nach Tannenfall halten. Oder nach dem, was danach aussieht.«

»Einen Ort, den es nicht gibt«, sagte Kranach spöttisch. Er suchte nach einer neuen Zigarette und war nach einem kurzen Schreck erleichtert, als er eine letzte volle Packung in der Innentasche seines Mantels fand, der zusammengeknüllt auf der Rückbank lag. Nachdem er sich seine Zigarette angesteckt hatte, ging er ein paar Schritte vor dem Auto auf und ab und sagte dann zu Elia, die weiter im Buch blätterte: »Wir bleiben vorerst einmal hier und schlafen im Auto. Wenn es hell ist, hole ich Hilfe. Ein Traktor kann uns herausziehen. Dann fahren wir ins Dorf, gehen in ein Hotel, essen etwas, und dann fahren wir von mir aus auf dieses Stuhleck.«

Elia schwieg.

»Einverstanden?«

Elia schwieg weiter. Erst als ihr Kranach das Buch zuklappte, nickte sie, sichtlich unglücklich über diese Entscheidung. »Sie können ruhig schlafen. Ich werde in der Zwischenzeit den ersten Teil von ›Tannenfall‹ lesen.«

»Natürlich, du hast ja die ganze Zeit über geruht, während ich gefahren bin«, sagte Kranach und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann rauchte er stumm vor sich hin grollend die Zigarette fertig, dämpfte sie auf dem Waldboden aus und setzte sich zurück ins Auto. Er kippte den Fahrersitz so weit es ging nach hinten, machte es sich darin so bequem wie möglich und deckte sich mit dem Mantel zu. Doch bevor er die Augen schloss, schaltete er unter Elias Protest das Licht im Wagen aus, bis die beiden in völliger Dunkelheit saßen.

»So kann ich nicht lesen.«

»Du hast jahrzehntelang kein Buch gelesen, jetzt kommt es auf diese eine Nacht auch nicht mehr an«, sagte Kranach. »Schlaf jetzt! Morgen finden wir dein Tannenfall«, fügte er hinzu und war für einen Moment nicht sicher, ob er im Wald Schritte hörte. Doch bevor er sich aufsetzen konnte, um nachzusehen, war er eingeschlafen.

Als die Sonne wenige Stunden später ihren ersten Lichtspeer durch den Dunkelwald stieß und Kranach im Gesicht traf, sprang er wie von der Tarantel gestochen aus einem bleiernen, traumlosen Schlaf und sah sich benommen um. Der Platz neben ihm war leer.

Sofort war Kranach hellwach und sprang aus dem Wagen. Er rief nach Elia und suchte in allen Himmelsrichtungen nach ihr. Doch sein altes Mädchen blieb verschwunden. Ebenso wie die drei »Tannenfall«-Bände.

Zurück beim Wagen bemerkte er, dass der hintere Teil des Anhängers geöffnet und leer war. »Du verdammtes, störrisches Ding!«, rief er und entdeckte im Boden Hufabdrücke des alten Rosinante, der vermutlich mit einem neugierigen Stoffbären und der stolzen Elia im Sattel in Richtung Stuhleck unterwegs war.

Es war ein Abend im Frühling 1965, als ich June ins Bett brachte und Baptiste hinter mich trat. »Morgen geht unsere Sonne auf«, sagte er sanft und küsste mich auf den Hals.

»Natürlich geht morgen die Sonne auf«, sagte ich lächelnd und zog die kleine karierte Decke über Junes Brust, die sich im Schlaf ruhig auf und ab bewegte.

»Morgen kommt Jinji. Und er will bleiben«, sagte Baptiste.

»Das ist nicht dein Ernst?«, fuhr ich herum und musste Baptiste mit so großen Augen angesehen haben, dass er vor Freude laut zu lachen begann. »Aber er kommt nicht allein. Frank Carpenter begleitet ihn. Auch er will bleiben.«

»Du veräppelst mich doch! Jinji Gotarama und Frank Carpenter kommen zu uns und wollen in unsere Chalets ziehen?«

»Unser kleines Jena spricht sich herum«, sagte Baptiste stolz und mit leuchtenden Augen.

Jinji Gotarama war der bekannteste Schriftsteller unserer Zeit. Er galt als Genie und wurde von allen Künstlern verehrt als eine beispiellose Koryphäe. Gotarama hatte Jura in Osaka studiert, später als Anwalt gearbeitet und dann zu schreiben begonnen. Ende der 1940er Jahre hatte er mit dem Roman »Der lange Tod des Künstlers Karl« – der Geschichte eines verzweifelt liebenden Künstlers, der Selbstmord begeht – internationale Aufmerksamkeit erregt. Gotaramas Held agierte nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges irrational, hochemotional und frei. »Ich kehre zärtlich zu mir nach Hause zurück und entdecke in mir eine neue Welt, die ich draußen nie gefunden habe«, erklärte der junge Künstler Karl in dem Buch.

Der Roman fing die Sehnsucht nach einer neuen Empfindsamkeit der Zeit ein und wurde zum Kultbuch der Nachkriegsgeneration. Gotarama schuf damit einen internationalen Bestseller und wurde so populär, dass er bald die ganze Welt bereiste. Viele junge Männer kleideten sich wie der junge Karl mit einem Anzug aus erschwinglichem marineblauem Stoff, der nicht zu aufwendig gestaltet war. Darunter trugen sie ein einfaches hellblaues Hemd mit einer gelben Fliege. In Lateinamerika wurden sogar Porzellanfiguren von Karl für den europäischen Markt hergestellt.

Es hieß, dass Gotaramas Werk eine ganze Suizidwelle junger Männer ausgelöst habe, die nach den Wirren des Krieges ihr Heil in der Kunst suchten, aber nicht fanden, da die Welt um sie zerstört war. »Der lange Tod des Künstlers Karl« war Gotaramas Beitrag zur wieder aufkeimenden Sehnsucht der neuen Generation nach zelebrierten Emotionen, die in allen Extremen ausgelebt werden wollten – von der leidenschaftlichen Liebe bis zur selbstmörderischen Sehnsucht nach der Kunst und nach einer Welt außerhalb der Trümmer.

Nachdem Gotarama ein Megastar der Literatur geworden war, lebte er über zwanzig Jahre lang zurückgezogen in einem großen Haus in Japan mit Blick auf das Meer. Er war ein schmaler, stiller Mann mit kleinen Augen und kurz geschorenem Haar. Im Gegensatz zu der jüngeren Generation trug er einen dezenten Anzug.

Nach dem großen Erfolg von »Der lange Tod des Künstlers Karl« hatte Jinji Gotarama der großen Weltbühne der Literatur den Rücken gekehrt. Doch es schien, als hätte sich auch die Kreativität von ihm abgewendet, denn er hatte seit Jahren nichts Bemerkenswertes mehr geschrieben. So hieß es, dass er oft tagelang regungslos auf seinem Stuhl aus Stroh sitze und sich auf den Klippen, die vor seinem Haus ins Meer ragten, den Kopf über seine Schriften zerbreche.

Mehr als ein Jahrzehnt zuvor hatte Jinji Gotarama mit der Arbeit an seinem Roman »Die Tragödie der Menschheit« begonnen – einem Werk über die tiefgründigen Fragen des menschlichen Daseins und der Suche nach Wissen, Macht und Sinn –, aber bis dahin nur wenige Kapitel geschrieben. Viel mehr beschäftigte ihn in dieser Zeit die Pflanzenkunde, was ihn auch immer wieder nach Europa führte, wo er in Paris in einem Studentenkeller durch Zufall die feurigen Reden des Honoré Abies gehört hatte, die fortan in ihm brannten.

Frank Carpenter war Mitte der fünfziger Jahre mit dem Roman »Die Rebellion der Söhne« bekannt geworden. Darin ging es um den Konflikt zwischen der jüngeren und der älteren Generation innerhalb einer Familie. Carpenter hob dabei nicht nur die Rebellion der Söhne gegen ihre Väter hervor, sondern auch gegen die Gesellschaft, die sich zunehmend dem bloßen Funktionieren innerhalb des Kapitalismus verschrieb.

So erzählte Carpenter die Geschichte zweier Brüder, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nach Macht oder Freiheit streben sollten. Carpenter war gebürtiger Kanadier und in einer Offiziersfamilie aufgewachsen. Widerstrebend war er in die Armee eingetreten und hatte bereits nach wenigen Monaten an Selbstmord gedacht, worin ihn die Lektüre des Weltbestsellers »Der lange Tod des Künstlers Karl« bestärkt hatte. Carpenters Vater zog damals die Notbremse und verhalf seinem Sohn zu einer Stelle an der Universität, wo er Medizin studieren sollte, ein Studium, das der junge Mann ebenfalls zutiefst hasste. Vor diesem Hintergrund begann Carpenter, »Die Rebellion der Söhne« zu schreiben. Das Buch schilderte, wie ein guter Mensch zu einem Verbrecher werden konnte, wenn man ihn ungerecht behandelte.

Der Roman wurde ein großer Erfolg. Doch trotz des weltweiten positiven Echos bestand Carpenters Vater darauf, dass sein Sohn das Studium beenden sollte, was Frank auch widerwillig tat. Nach dem Abschluss aber floh er aus seinem Elternhaus und ging nach Europa, wo das Geld immer knapper wurde, sodass er gezwungen war, als Lehrer an Schulen zu unterrichten und gelangweilten Schülern die Vorzüge der Ästhetik näherzubringen. Für Carpenter aber war in dieser Zeit nicht das Geld oder der Erfolg wichtig, sondern, dass er endlich die Freiheit zu schreiben erlangt hatte.

1960 zog er in die Schweiz und hörte dort durch französische Freunde von Honoré Abies und dessen alles übergreifenden Ideen. Als dieser in ein kleines Schweizer Bergdorf zu einer Diskussion eingeladen wurde, entschied Carpenter, der Veranstaltung beizuwohnen, und fuhr in das verschneite Dorf, das ein beliebtes Reiseziel für Skiläufer und Wintersportbegeisterte war. Ein Jahr zuvor hatte man dort begonnen, sich neu zu erfinden und sich als wichtiger Ort für Diskussionen über Wirtschaft und Politik zu etablieren. Man hielt Konferenzen und Veranstaltungen ab, die das Bewusstsein für Themen wie Umwelt, Gesundheit und Bildung fördern sollten.

Carpenter war von Abies’ Vortrag so begeistert, dass er begann, über ein neues Buch – oder besser noch: ein neues Drama – nachzudenken. Er wollte es »Die Machtgier des Generals« nennen und dem Thema Korruption und den Intrigen eines Politikers widmen. Das Buch sollte zeigen, welche Folgen es für einen Charakter hatte, wenn Machthunger und politische Ambitionen die Oberhand gewannen.

Als Carpenter schließlich Gotarama begegnete, der Abies’ Ruf ebenfalls gefolgt war, verließen die beiden gemeinsam die kleine Veranstaltung und unterhielten sich über den soeben gehörten Vortrag. Dies war der Beginn einer innigen Freundschaft, die sich in unserem neuen Jena im Frühling 1965 unter dem farbenfrohen Himmel des Bergells entladen sollte.

Als sie aus dem unteren Waldrand des Maiensäß stießen, sahen sie aus wie ganz gewöhnliche Wanderer. Carpenter, der von hoher Statur war, mit kantigem Gesicht, kariertem Hemd und strohigem Haar, war einen Kopf größer als der zierliche Gotarama. So unterschiedlich die beiden aussahen, so verschieden war auch ihre Sicht der Dinge. So beschrieb Gotarama das, was er beobachten konnte, und vertrat somit einen konträren Standpunkt zu Carpenter, der glaubte, dass Gotarama nur das beschreiben konnte, was er schon vorher in seinem Geist gesehen hatte.

»Du musst mehr aus der Seele schreiben, mein Freund«, sagte er in Streitgesprächen des Öfteren zu Gotarama. »Sonst verirrst du dich in deiner Sinneswelt«, fügte er hinzu.

Doch auch wenn sie hier unterschiedliche Standpunkte vertraten, so einten sie ihre Probleme mit dem Schreiben. Und die gegensätzliche Haltung forderte sie heraus, inspirierte sie, sodass sie begannen, einander Texte vorzulesen. Der Geist des Abies, an dessen Chalet sie eben vorbeigingen, sollte fortan das Feuer und die Leidenschaft liefern, um sie zu großen Werken anzustiften.

Als die beiden vor uns standen und Baptiste ihnen den Schlüssel zu den frisch errichteten Chalets auf der anderen Seite des Maiensäßes gab, stand ich mit rotem Kopf und stumm neben diesen zwei Weltstars, als die ich sie sah. Später ärgerte ich mich, ganz gegen meine Natur so zurückhaltend gewesen zu sein.

Immerhin gab ich meine Zurückhaltung auf, als wir uns an den nächsten Tagen in Baptistes Atelier trafen, das Handwerker und die Kraft der Künstler in diesen Wochen des Frühjahres 1965 gemeinsam fertigstellten.

Dabei waren die drei Gäste, die zu dieser Zeit unser neues Jena bewohnten, völlig unterschiedlich. Liebte es Jinji Gotarama, draußen in der Natur zu sein und ausgiebige Sparziergänge durch das Bergell zu machen, so zog es Carpenter vor, auch bei strahlendem Sonnenschein im Chalet zu sitzen. Gotarama war in dieser Zeit auf dem Maiensäß unbeschwert und folgte seiner Intuition, während Carpenter angespannt war, ständig über alles nachzudenken schien und nach einem strikten Zeitplan arbeitete. Honoré, der Dritte im Bunde, war keinem der beiden ähnlich. Er war wie ein zorniger Wind, der – wenn er eine Idee verfolgte – an den Läden rüttelte oder laut schreiend über die Wiese nach unten zu Gotarama lief, wenn er gerade von einem Spaziergang zurückgekommen war.

Ich liebte dieses Jahr 1965 und genoss es, umringt von den großen Denkern der Welt vor dem Chalet zu sitzen und an meinen Bildern zu malen, während June in der blühenden Wiese Insekten nachjagte und Baptiste mit roher Naturgewalt in seinem Atelier arbeitete.

Geadelt wurde unser Kreis durch die Ankunft von Martin Fichtenberger. Fichtenberger war Wissenschaftler und Künstler zugleich. Er sah aus wie ein Revolverheld in einem Wildwestroman, trug gerne bodenlange Mäntel und einen schlappen Hut, in dem sein meist schräg gehaltener Kopf steckte. Fichtenberger war begeistert von der Idee, dass die Natur nicht in ein Korsett von Klassifizierungen gepresst werden konnte und auch nicht nach einem göttlichen Uhrwerk tickte, und sah sie als ein Netz des Lebens. Für ihn war alles verbunden, er nahm die Natur als einheitliches Ganzes wahr, in dem alles miteinander interagierte. Den Menschen betrachtete er als einen bloßen Teil der Natur, demselben Ganzen zugehörig wie alles, was ihn umgab.

Fichtenberger testete seine Theorien am eigenen Körper und fügte sich oft Schnittwunden zu, um im Selbstversuch Chemikalien hineinzuträufeln. Oder er klebte sich Metalle auf die Beine und Arme, um zu sehen, wie aufkommende Blitze darauf reagierten. Er steckte sich aber auch Drähte durch die Haut oder stach sie in die Zunge, notierte dabei seine Empfindungen und Regungen akribisch genau und beobachtete die Reaktion der Natur auf sein Tun.

Fichtenberger stammte aus einer alten österreichischen Adelsfamilie und glaubte, dass Wissenschaft und Bildung neu erfunden werden müssten, um den Gesetzen der Kunst, die er als Teil der Natur sah, folgen zu können. Doch um diese Gesetze, die Poesie, freizulegen, die zwischen den Dingen klebte und aus seiner Sicht alles zusammenhielt, ging er über Grenzen. So sezierte er eines Nachts eine tote Kuh, die während eines Gewitters vom Blitz erschlagen worden war, und genoss dabei anscheinend den Geruch der Verwesung. Er war abenteuerlustig und träumte als ein Mann der Tat von fremden Ländern.

Gotarama war von Fichtenbergers Theorien angetan und unterhielt sich mit ihm oft durch die Fenster seines Chalets, das gleich neben dem des Denkers lag.

»Ohne diesen verrückten Österreicher hätte ich niemals die Poesie gesehen, die in der Natur verborgen liegt«, hatte mir Gotarama einmal gesagt, sodass ich den Wissenschaftler zeichnete, wie er sich über die tote Kuh beugte, und das Bild »Der unsichtbare Atem« nannte.

Somit bildete sich zwischen Gotarama und Fichtenberger eine weitere tiefe Freundschaft. Doch anders als bei Carpenter verband die beiden ihr Interesse für die Farben der Natur, für chemische Experimente, die Metamorphose von Pflanzen, die Seidenkokons von Schmetterlingen oder für die Selbstheilung des Körpers.

»Durch alles fließt Poesie«, war Gotarama überzeugt, und Fichtenberger fügte hinzu: »Natur, Ideen und Gefühle, alles schmilzt zusammen.«

Und bald waren nicht nur die beiden, sondern auch Honoré Abies, Frank Carpenter, Baptiste und ich überzeugt, dass die Poesie das alleinige Werkzeug war, um die Geheimnisse der natürlichen Welt zu verstehen.

Ich war in diesem Zaubersommer des Jahres 1965 so glücklich, dass ich ihn nie wieder gehen lassen wollte. Und so beschloss ich am letzten warmen Septembertag des Jahres, unseren Soglioer Kreis in Baptistes Atelier einzuladen, um bei ausreichend Wein und benebelt von flammenden Ideen ein Manifest zu verabschieden.

Die Schüchternheit der ersten Tage hatte ich längst abgelegt, und deshalb sprang ich, gleich nachdem alle anwesend waren, auf den Arbeitstisch, den Baptiste in der Mitte des Ateliers aufgestellt hatte, und rief: »Nach uns werden noch viele Sommer kommen, denen Herbste und Winter folgen werden und auch neugierige Frühlinge, doch diesen einen Sommer, in dem wir den Soglioer Kreis erschaffen haben, wollen wir niemals vergessen. Wir müssen ihn festhalten und der Nachwelt zeigen, welchem großen Geheimnis wir auf der Spur waren und sind. Insofern erhebe ich die Stimme und fordere ein Manifest, das der Menschheit als Leuchtturm in der Zukunft dienen soll.«

»Hört, hört!«, rief Fichtenberger.

»Ein unwiderstehlicher Gedanke«, platzte Abies heraus und trommelte auf den Tisch. Gotarama, Carpenter und Baptiste folgten ihm wie einem Mantra und begannen ebenfalls, zu trommeln und zu summen, als würden sie einen Geist beschwören.

»Ein Manifest mit drei Prinzipien«, schlug Carpenter begeistert vor.

»Drei und ein weiteres, das die Spitze unseres Manifestes darstellt«, sagte Gotarama leise, aber mit kräftigem Nicken. »Drei plus eins. Drei einfache Sätze und ein weiterer, der alles abbindet. Sätze, die nie ein Mensch mehr vergessen darf, will er das Geheimnis des Wesens der Welt begreifen«, ergänzte er und hob entschlossen die Hand, als würde er zum Sturm auf die Bastille rufen.

»Die Kunst ist der größte Lehrmeister des Menschen«, sagte Carpenter, umarmte Gotarama und drückte ihn fest an sich. »Dann lasst uns in dieser Nacht ein Wunder vollbringen und diese Drei-plus-eins-Prinzipien gemeinsam formulieren und sie in unseren Köpfen niederschreiben, damit sie wie eine unsterbliche Legende die Welt verändern!«

»Mmmmm … mmmm … mmmm …«, fingen die Männer zu summen und zu trommeln an, und ich begann, auf dem Tisch zu tanzen, als würden mich die ekstatischen Klänge einer anderen Welt verführen.

»Nur wer diesen Prinzipien folgt, wird ein wahrer Künstler sein!«, rief Baptiste.

»Und eine wahre Künstlerin«, ergänzte ich laut lachend. »Nur wer diesen Prinzipien folgt, wird ein wahrer Mensch sein«, rief ich und ließ mich vom Tisch in die Arme von Honoré fallen.

Die Touristen nutzten den schönen Herbsttag, um eine Tageswanderung vom steirischen Pfaffensattel hinauf zum Stuhleck zu unternehmen, der sie mit einem atemberaubenden Panoramablick auf die Rax, den Schneeberg, die Schneealpe und das Grazer Bergland belohnte. Vom höchsten Berg der Fischbacher Alpen blickte man fast über ein Drittel von Österreich und konnte an guten Tagen sogar bis nach Maribor sehen. Gleich in der Nähe befand sich auch das östlichste Hochmoor der Alpen, um das sich einige Sagen rankten. Unweit vom Gipfelkreuz trotzte das Güntherhaus dem stürmischen Wind. Mit seinen grauen Schindeln, die im Winter mit langen, spitzen Eiszapfen übersät waren, ähnelte das Schutzhaus einer polaren Forschungsstation.

Der Anraum, ein fester Niederschlag, der in die Windrichtung wuchs wie weißes Moos, verwandelte die Hütte und das Gipfelkreuz im Winter in eine bizarre Szenerie. Bei Vollmond wurde das ohnehin schon gespenstisch wirkende Schutzhaus blau beleuchtet und bot den Touristen eine zauberhafte Nacht zwischen Wolkendecke und Mond. Über einen Almrücken, der an mehreren abfallenden Gräben vorbeiführte, die wie Finger in die Täler fielen, erstreckte sich in Richtung Graz ein grotesk anmutender Wald aus Windrädern, die mit einem leisen, aber permanenten Raunen für erneuerbare Energie in der Region sorgten.

Als Kranachs Fiat über die Mautstraße des Pfaffensattels auf den Parkplatz des über der Waldgrenze liegenden Stuhleck-Gipfels fuhr und der leere Anhänger störrisch hinter ihm auf der unebenen Schotterstraße hin und her sprang, zog er die Aufmerksamkeit der Wanderer auf sich. Starker, eisiger Wind empfing ihn, als er die Tür des Wagens öffnete, und er hatte Mühe, sie bei den Windböen wieder zu schließen. Er war eindeutig falsch gekleidet, und sein Trenchcoat flatterte knatternd im Wind.

Der Kommissar war Berge gewohnt, doch das Dreihundertsechzig-Grad-Panorama, das sich vor ihm auftat, beeindruckte ihn so, dass er für einen Moment stehen blieb und in Richtung Westen schaute, als suchte er hinter den Gipfeln den Ursprung seiner Reise. Doch gleich danach wandte sich sein Blick in all die anderen Himmelsrichtungen, um über der weitläufigen Alm einen alten Gaul zu suchen, der seine Reiterin durch den Wind trug. Beim Anblick der vielen Windräder musste auch Kranach an Don Quijote und dessen inzwischen sprichwörtlichen »Kampf gegen Windmühlen« denken.

Schon bald traute er seinen Augen nicht, als er tatsächlich in der Ferne Elia mit ihrem klapprigen Rosinante durch das Meer der Windräder reiten sah. »Du verrücktes altes Stück«, fluchte er vergnügt. »Das glaubt mir niemand«, fügte er hinzu und begann, wie wild mit den Armen zu fuchteln, damit die verrückte Elia auf ihn aufmerksam wurde.

Und tatsächlich schien ihn die alte Dame auf dem Rücken des alten, aber tapferen Gauls zu entdecken, denn statt sich weiter umzusehen und mal hierhin, mal dorthin zu reiten, wohl auf der Suche nach einer geheimen Höhle oder einem Weg, der sie nach Tannenfall bringen konnte, ritt sie nun schnurstracks auf Kranach zu.

Kaum war sie beim Kommissar angelangt, stieg sie vom Pferd und erntete Verwunderung und Kopfschütteln von einigen Touristen, die gestärkt aus dem Güntherhaus nach draußen in den Wind traten.

»Was bildest du dir ein?«, fragte Kranach, doch bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, bemerkte er, dass Elia ihm gar nicht zuhörte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich aus der Umklammerung der Bäume befreien können, werter Kommissar. Sie müssen Ihrem blauen Gefährt danken, dass es Ihnen so wertvolle Dienste leistet«, sagte sie und sah zum Fiat, der an der Seite einige Kratzer von den Ästen und Zweigen im Dunkelwald abbekommen hatte.

Kranach ignorierte ihre Anspielung und hatte Mühe, seine Wut zu verbergen. Erst als Elia verkündete, dass sie Leidemann inzwischen für einen ausgemachten Lügner hielt, spitzte Kranach seine Ohren und blickte ihr in die leuchtenden Augen.

»Dieser Leidemann ist ein Sack voller Lügen. Ein Hochstapler.«

»Was führt dich zu dieser Einschätzung?«

»Auch wenn wir hier im wilden Atem der Natur stehen, Herr Kommissar: Wir sind immer noch per Sie.«

»Doña Quijota, wie konnte ich vergessen?«, brummte der Kommissar.

»Schon besser«, sagte Elia und stieg vom Pferd, bevor sie fortfuhr. »Als wir diesen Scharlatan in Carpenters Hütte gestellt haben, äußerte er den Verdacht, das Verschwinden der Welt gehe von Tannenfall aus. Hat behauptet, er wäre hier gewesen. Und dass hier überall riesige schwarze Löcher in der Erde wären und Häuser aus dem festen steinernen Boden herausgerissen worden. Erinnern Sie sich, Kranach?«

Der Kommissar nickte und wartete, worauf Elia hinauswollte.

»Wo sind die abgeknickten Bäume, die zerbrochen sind wie Stroh? Wo sind die verschobenen Berge? Wo sind die Hände der Riesen, die all das veranstaltet haben sollen?«

Kranach sah sich um und wusste natürlich, dass er keinen Riesen sehen würde.

»Und dann«, fuhr Elia fort, »sprach er davon, dass alle Menschen diesen Ort verlassen hätten. Auch das war eine Lüge. Sehen Sie doch nur! Überall Menschen, die auf die Berge gehen, weil sie es in ihren Tälern nicht mehr aushalten«, rief sie und sah zu den gaffenden Wanderern, die erschrocken das Weite suchten, als eine offensichtlich Verrückte sie anstarrte. »Dieser Leidemann ist ein Lügner, und Sie müssen ihn verhaften, Herr Kommissar.«

Kranach sah Elia mit großen Augen an und wunderte sich aufs Neue über ihre überschwängliche Energie und Entschlossenheit. Er fand in ihrem Ausdruck und ihrer Haltung keine Spur von Müdigkeit, obwohl sie keine Sekunde geschlafen haben konnte. »Wie stellst du dir das vor? Dass wir jetzt zurückfahren? Wo Leidemann doch selbst verschwunden ist?«, fragte er, fühlte sich aber in seiner Einschätzung bestätigt, dass mit dem Schriftsteller etwas nicht stimmte. Schließlich stank die ganze Sache zum Himmel, und er ärgerte sich, dass er sich je darauf eingelassen hatte.

»Das alles hier ist ein Schwindel«, sagte Elia und tätschelte dem alten Gaul, der neben ihr auf seinen wackeligen Beinen stand, den Hals.

»Du wolltest doch unbedingt hierher. Was hast du erwartet?«

»Dieser Leidemann hat keine Vorstellung, worauf er sich eingelassen hat«, sagte Elia und hob den Kopf.

»Was meinst du?«

»Die Gespenster, die meine Laura und meine Gloria entführt haben. Sie haben ihn verzaubert und seinen Verstand vernebelt.«

»Hör endlich auf mit dem Mist! Du siehst doch, dass hier nichts ist außer verdammtem Wind und verdammten Bergen. Und dass wir müde sind und nichts gegessen haben. Das ist doch alles absurd!«, rief Kranach und wandte sich von ihr ab. Dann drehte er sich mit einem Mal wieder um und ging drei Schritte auf Elia zu, die ein wenig erschrocken Haltung annahm. »Warum bist du hier? Was hast du hier oben gesucht?«, schrie der Kommissar gegen den stärker werdenden Wind.

Elia hob den Kopf, zog das Buch aus der Satteltasche und schlug es am Ende auf. Dann begann sie vorzulesen. »Vier Mädchen, aus denen Frauen geworden waren, die sich gegen die Welt der Technik und des Fortschritts erheben sollten und die eine Welt betreten wollten, die durchflutet war von der Wahrheit der Natur, der Wahrheit der Schöpfung.« Sie blickte kurz vom Buch auf, um zu sehen, ob Kranach ihr auch zuhörte. Dann fuhr sie fort: »Vier Frauen. Dorothea, Greta. Leonora. Und ich, Marlene. Und ich fühlte, dass auch sie hier waren. Sie hatten kupferne Farbe auf der Haut und trugen smaragdgrüne Striche. Sie standen hinter uns. Von uns erschaffen.«

Wieder sah Elia auf und sagte mit erregter Stimme zu Kranach. »Das sind wir, ich und die anderen drei, die von den Jenischen gerettet wurden. Leidemann hat nur die Rollen vertauscht. Er hat seine erfundenen Figuren vor uns gestellt.«

Kranach nickte höflich und suchte in Elias Gesicht nach ein wenig Verstand, der Licht ins Dunkel bringen konnte.

Doch Elia war so entflammt, dass sie weiterlas. »Jakob. Elias. Medora. Und etwas abseits – Lya.« Kurz sah sie hoch. »›Elias‹. Das bin ich. Nur ohne s. Elia. Ich bin das. Aber jetzt hören Sie genau hin!«, sagte sie und fuhr fort. »Und dann sahen wir es. In unserer gemeinsamen Halluzination … Die in der Nacht glitzernden Paläste der Schneehexen, die Geschwader der dunklen Sauger, die Armeen der Windreiter und die Wachtürme. Die weißen Hirsche. Aber dahinter tat sich eine große schwarze Weite auf. Eine Dunkelheit, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, wie ein schwarzes Loch, das tief in das Universum reichte. Etwas bewegte sich darin. ›Was ist das?‹, fragte Leo. ›Die Königin. Die Königin des Nachtvolkes‹, sagte ich.«

Kranach schüttelte den Kopf, aber Elia ließ nicht ab, ihm weiter wie besessen aus dem Buch vorzulesen.

»Jetzt kommt es, Kranach. Hören Sie genau hin!«

Er verdrehte die Augen, hörte aber trotzdem zu.

»›Ihr seid die Einzigen, die das Tor kennen. Wenn sich die Schwarze Familie erhebt und ihre Pläne von der Neuen Ordnung weiterverfolgt, dann ist das, was ihr dort seht, das Einzige, was sie aufhalten kann. Vereinigt die Völker der vergessenen Schöpfung und besiegt die Königin, führt die Rebellion an und bereitet die Invasion vor. Die Invasion gegen die Schwarze Familie! Bevor sich die Schwarze Familie gegen uns Menschen richtet.‹«

Elia atmete tief ein und versuchte offensichtlich, ihre Gedanken zu ordnen, während die ersten Wanderer in der Nähe des Schutzhauses kleine Grüppchen bildeten und auf die Verrückte mit dem Pferd und den heruntergekommenen Mann starrten.

Kranach sah dies als Zeichen und ging langsam zu Elia hin, um sie zu beruhigen und zu überreden, Rosinante wieder in den Anhänger zu bringen und gemeinsam mit ihm zurück ins Tal zu fahren. »Sieh doch! Hier gibt es keine glitzernden Paläste der Schneehexen, keine Geschwader der dunklen Sauger, keine Armeen der Windreiter, keine Wachtürme und keine weißen Hirsche. Und auch keine Königin des Nachtvolkes«, sagte er mit bemüht ruhiger Stimme.

»Und ich weiß auch, warum«, erwiderte Elia.

»Und zwar?«

»Weil Leidemann ein Lügner ist.«

Kranach nickte und fürchtete, dass Elia erneut in ihren Wahn verfiel.

Doch mit einem Mal änderten sich ihre Gesichtszüge, und sie wirkte klarer als zuvor. »Im Roman ›Tannenfall – Der erste Schnee‹ geht es vorrangig um eine Frau, die ihr Kind sucht. Marlene Castor sucht ihre vermeintliche Tochter Lya, die hier in dieser Gegend verschwindet. Auf dieser Suche verliert sich die Staatsanwältin immer mehr in Phantasien und Halluzinationen. Sie verliert ihren Verstand und wird selbst wieder naiv wie ein Kind.«

Kranach schwieg und blickte zu der Gruppe beim Schutzhaus, die offensichtlich die Polizei rufen wollte, da den Leuten nicht geheuer war, was sie sahen.

»Man muss selbst Künstler sein, um zu erkennen, worum es in diesem Buch wirklich geht. Um einen Umbruch der Zeiten. Eine Umerziehung. Das Unterjochen der Phantasie. Die Schwarze Familie will vernichten, was uns Menschen ausmacht. Sie will die Poesie in uns auslöschen, der Welt den Klebstoff rauben. Aber es gibt Hoffnung. Denn es geht auch um die Suche nach dem heilenden Elixier, der blauen Blume, welche die verborgene Wahrheit hinter dem Labyrinth des Verstandes zeigt. Deshalb auch diese Idee der weißen Hirsche als Symbol für den Weg zu diesem Elixier. Doch überall sind diese Doppelungen und Täuschungen, als wollte Leidemann die Leser bewusst in die Irre führen, als wollte er nicht, dass sie die Wahrheit erkennen. Als wollte er diesen Ort nicht verraten, an dem die Poesie verborgen liegt. Deshalb schickt er alle Leser in ihr eigenes Labyrinth, damit ihm niemand auf die Schliche kommt.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Kranach.

»Wissen Sie, wie Künstler denken?«, fragte Elia und sah dem Kommissar direkt in die Augen.

Ein tauber, längst verdrängter Schmerz drang aus seinem Herzen in den Hals. »Ich hab einmal versucht, ein paar Zeilen zu schreiben«, stammelte er, knetete die Lippen und kramte im Mantel nach einer Zigarette. Dabei blickte er in die Ferne und vermisste mit einem Mal seine vor Jahren verstorbene Frau so stark wie schon lange nicht mehr.

»Sie sollten sich jetzt eine Zigarette anzünden. Das werden Sie brauchen«, sagte Elia. Sie sah Kranach von der Seite an und spürte, dass sich etwas in ihm regte. Dann stellte sie sich neben ihn und fasste seine Hand, die im Wind eiskalt geworden war, und begann zu erzählen.

»Als wir den Soglioer Kreis gründeten, schufen wir ein Manifest. Wir haben es nie niedergeschrieben, sondern aus Prinzipien geformt. Wie eine Überlieferung. Das erste Prinzip lautete: Die Poesie ist wichtiger als die Realität. Verstehen Sie das, Kranach? Das ist der erste Teil des großen Geheimnisses der Welt. Ich habe nach dem Verschwinden von Baptiste noch nie mit jemandem darüber gesprochen, da wir mit diesen Prinzipien an die Schwelle gehen konnten. An den Rand unserer Welt. An den Rand unserer Realität, wo wir den großen Vorhang zu unserer Wahrheit aufziehen.«

»Was heißt das?«, fragte Kranach. »›Die Poesie ist wichtiger als die Realität‹?«

»Dass ein Künstler die Zusammenhänge der Welt erkennen muss – auch wenn sie zunächst unsichtbar sind. Dafür muss er oft die Perspektive ändern. Ein Künstler muss ständig hinterfragen, er darf so lange nichts als gegeben hinnehmen, bis er die Poesie sieht, die alles zusammenhält.«

»Und warum erzählen Sie mir das jetzt?«

»Weil ich jetzt, da ich den ersten ›Tannenfall‹ gelesen habe, weiß, dass dieser Leidemann, den wir im Chalet getroffen haben, kein Künstler ist.«

»Damit sind Sie wohl nicht allein.«

»Ich gehe sogar noch weiter und sage, dass Leidemann das Buch gar nicht geschrieben hat.«

Ein Schauer lief Kranach über den Rücken, er wusste nicht, warum. »Wer dann? Sein Name steht doch auf dem Umschlag?«

»Tut er das?«

Kranach wusste nicht, worauf Elia hinauswollte.

»Der Fährmann. Es war der Fährmann«, sagte sie ruhig.

Elias Worte klangen in Kranachs Ohren wie ein Donner, und für einen Moment hatte er den Eindruck, dass jemand die Berge vor ihm verschoben hatte.

21

An dieser Stelle der Geschichte blieb dem verwunderten und plötzlich stark hustenden Maurizio Kranach und der offensichtlich verwirrten Elia Khalberg samt klapprigem Gaul Rosinante nichts weiter übrig, als das windige Bergplateau zu verlassen und dorthin zu gehen, wo auch Tiere hinzogen, wenn sie nach dem Überschreiten einer Schwelle neue Kraft tanken wollten: zu einem Wasserloch. Schließlich wollten sie sich nicht den Fragen der Polizei stellen, die einer der Wanderer zu erreichen versuchte – vergeblich, da sein Mobiltelefon hier oben nicht den nötigen Empfang hatte.

Das Wasserloch war in diesem Fall ein Gasthof am südlichen Ortsende von Spital am Semmering. Dieses alte Gebäude lag direkt an der Durchfahrtsstraße, beherbergte ein rustikales Stüberl mit einem Wintergarten und bot Spezialitäten zum Verzehr an, vor allem deftige steirische Hausmannskost. Es war – so hieß es – gut geeignet für Familienausflüge, Hochzeiten und Taufen sowie Vereinssitzungen. Obendrein warteten Doppelzimmer und sogar ein Vier-Bett-Zimmer auf Familien mit Kindern. Dass sich diese Unterkunft ausgezeichnet als Wasserloch in dieser Geschichte eignete, bewies die Mitgliedschaft in den Vereinigungen »Gute Steirische Gaststätte« und »Steirischer Dorfwirt«.

In der Zeit, in der Kranach noch keinen brennenden Schmerz in seiner Lunge gespürt und sich noch kein Blut auf seinem Taschentuch befunden hatte, war der Kommissar gerne in die einem Tatort nächstgelegene Gaststätte gegangen, um dort nach Spuren zu suchen, die zur Lösung eines Falles führen konnten. Kranach nannte diese Versammlungsorte gerne Wasserlöcher, da – wie im Wildreich – Raubtiere von dort zur Jagd aufbrachen. Sie waren auch deshalb so interessant, weil man zugleich eine Aussicht auf Wild hatte. An dieser Stelle sah man die Spuren der durstigen Tiere. Und somit war für Kranach dieser Ort eine gute Informationsquelle. Und Informationen waren genau das, was er jetzt brauchte – natürlich neben einem ausgiebigen Frühstück, das für ihn und die alte Elia unerlässlich war.

Als Kranach, der nach einem blutigen Auswurf in seinem Mund immer wieder nach dem Geschmack von Blut suchte, aus dem Fiat stieg, den er gleich neben dem Gasthof geparkt hatte, ahnte er nicht, dass er und seine merkwürdige Begleiterin an diesem Ort bald von den Bewohnern von Spital am Semmering herausgefordert würden. Er ahnte auch nicht, dass sie bald auf neue Freunde und Feinde stoßen würden, die von Bündnissen erzählten, von denen weder Elia noch Kranach zu dieser Zeit etwas wussten.

Wollte Kranach nicht wie Elia komplett den Verstand verlieren, musste er schnell herausfinden, ob es diesen Leidemann tatsächlich gab, und überprüfen, ob dessen Angaben der Wahrheit entsprachen. Wenn es stimmte, was Leidemann im Chalet gesagt hatte, und wenn es stimmte, was Kranach selbst in den Büchern gelesen hatte, dann stammte Julian Leidemann aus Spital am Semmering und war nach Deutschland ausgewandert, um an der Universität Berlin als Literaturprofessor zu unterrichten. Und um den dunklen Schatten zu entfliehen, die sein Großvater über die Familie gebracht hatte.

Der war im Dritten Reich, wie es hieß, fasziniert gewesen von der »Rassenhygiene« und der Züchtung des »arischen Herrenvolks«, der neuen Ordnung der nationalsozialistischen Ideologie. Der Sohn einfacher Bauern hatte Medizin studiert, war Nervenarzt geworden und hatte in den vierziger Jahren gemeinsam mit Konrad Khalberg und Dr. Barbara Pollux am Grazer Feldhof an der Erschaffung einer neuen Rasse gearbeitet. Als ihm das Grauen und der qualvolle Tod vieler Kinder, an denen man schreckliche Experimente durchgeführt hatte, zu viel geworden waren, hatte er vier Kinder retten und auf den stürmischen Höhen des Stuhlecks in einer unbekannten Höhle verstecken wollen. Über diese vier Kinder – von denen eines vermutlich Elia gewesen war –, denen unter Mithilfe der Jenischen die Flucht gelungen war, hatte Julian Leidemann, der Enkelsohn ihres einstigen Peinigers und Retters, Bücher geschrieben, von denen das vierte und letzte fehlte.

Und als dieser Leidemann nun dieses vierte Buch über das letzte Kind, Elia, schreiben wollte, war nach seinen eigenen Aussagen sein eigener Sohn verschwunden. Julian Leidemann glaubte, dass die Jenischen, angeführt von einem Ferge, einem Fährmann, dahintersteckten, um sich an der Familie Leidemann für all das Leid zu rächen, das Julians Großvater den vielen unschuldigen Kindern angetan hatte. Offen blieben dabei aber die Fragen, warum auch Elias Tochter, ihre Enkelin Laura und Leidemann selbst verschwunden waren. Was wollte dieser Fährmann, wenn es ihn tatsächlich gab, damit bezwecken? Was war sein Motiv? War er tatsächlich der Anführer der Soglioer Künstlergruppe gewesen, der auch Elia in den sechziger Jahren angehört hatte? Führte er auch die Gespenster an, vor denen Elia sich so sehr fürchtete und die in ihren Augen für das drohende Verschwinden der Welt verantwortlich waren? Aber warum sollten dieser Fährmann und sein gespenstisches Gefolge dann Leidemanns Sohn entführen? Und warum hatte Leidemann, kurz bevor er verschwunden war, alle Notizen aus den ersten drei Romanen ebenso verbrannt wie ein vermeintliches Kriegstagebuch seines Großvaters?

Für Kranach passte das alles nicht zusammen. Deshalb musste er so schnell wie möglich herausfinden, was der Wirklichkeit entsprach und was nur dem Kopf eines Schriftstellers entsprungen war. Und während Elias Suche nach der geheimnisvollen Höhle, in der sie sich vermutlich als Kind vor den Nazis versteckt hatte, hatte sie behauptet, dass nicht Leidemann der Autor der »Tannenfall«-Bücher sei, sondern ein anderer. Der Fährmann. Und den zu finden – wenn es ihn gab –, war nun Kranachs oberste Aufgabe, denn nur er konnte Licht ins Dunkel bringen und verhindern, dass Kranachs Verstand ebenso verschwand wie Elias Welt.

All diese Fragen quälten Kranach, als er die Tür zum Gasthof öffnete und Elia den Vortritt ließ.

»Diese Tische sind leider alle reserviert«, sagte die Stimme einer übergewichtigen Wirtin mit rosa Dirndl, geplatzten Adern auf den Wangen und Mundgeruch, als sie die beiden merkwürdigen Gestalten ihre Gaststätte betreten sah.

Nach dem Ende der Pandemie, die in den letzten Jahren über die Welt gezogen war, war das Geschäft der Gastwirtschaft schwieriger geworden, sodass sich jeder Wirt zweimal überlegen musste, welche Kundschaft er anziehen wollte. Ein heruntergekommener, totenblasser, nach Rauch stinkender Mann mit fettigen Haaren und schmutzigem Trenchcoat sowie eine offensichtlich närrische alte Frau mit nach Pferdeschweiß stinkender Reiterkleidung und übertrieben selbstsicherem, aus der Zeit gefallenem Auftreten, als wäre sie von adeliger Abstammung, gehörten nicht dazu.

»Wir wollen nur kurz frühstücken, dann sind wir auch wieder weg«, sagte Kranach.

Die dralle Frau musterte die beiden ausführlich, und da sie und ihre Gaststätte jeden Cent dringend benötigten, willigte sie ein und wies den beiden einen abgelegenen kleinen Tisch hinter einer tragenden Säule zu. Trotz Elias Protest, da sie nicht unter staubigen Hirsch- und Rehtrophäen sitzen wollte, nickte Kranach der Wirtin zu, da er von diesem versteckten Platz eine gute Sicht auf die Eingangstür und den Tresen hatte, der früher oder später jene Leute herbeilocken würde, von denen er sich Antworten erhoffte.

Als die beiden die Speisekarten öffneten, sah sie der Hunger mit großen Augen an, und sie bemerkten, dass sie seit fast einem Tag nichts Vernünftiges gegessen hatten. Also vergaßen sie das Frühstück und entschieden sich gleich für das Mittagessen. Schließlich war es auch schon kurz vor zwölf Uhr. Kranach aß einen Zwiebelrostbraten vom Beiried, und Elia nahm die knusprige Polentaschnitte, wofür sie von der Kellnerin verständnisloses Kopfschütteln erntete.

Als die Kellnerin wenig später das bestellte Essen brachte, kamen auch die ersten Gäste, und Kranach musterte sie sorgfältig. Da war zunächst ein dünner Mann an der Theke. Er war groß, trug die abgetragene Kleidung eines Handlangers, hatte struppiges Haar, stand mit krummem Rücken am Tresen und trank Weißwein. Am großen Tisch neben der Eingangstür – offensichtlich der Stammtisch – saß ein großer, wuchtiger Mann mit glänzendem Gesicht. Er schien hier im Dorf etwas zu sagen zu haben, da er jeden, der den Gasthof betrat, mit einem warmen Händedruck begrüßte. Kranach hörte aus den Wortfetzen bald heraus, dass es sich um einen Großgrundbesitzer namens Khalberg handelte, der nicht nur in vielen Aufsichtsräten saß, sondern auch Kontakte zur Politik hatte.

»Die Khalbergs sind wie schwarze Aufhocker, die alles an sich reißen«, zischte der trinkende Tagelöhner der Wirtin zu, die ihm neuen Wein einschenkte.

Als Kranach den Namen Khalberg hörte, sah er zu Elia, die stumm an den zähen Streifen kaute und den Kommentar von der Bar offensichtlich nicht gehört hatte. Die Gäste, die diesem Khalberg die Hand reichten, waren ein Mann, der mit knusprig wirkender Haut und müden Augen aussah wie ein Bäcker und sich gleich nach seiner Ankunft am Tisch neben dem Stammtisch niederließ, und ein Paar, das sich offensichtlich für fleischlose Kost interessierte. Die Frau war schüchtern und trug einen roten Mantel. Ein schwules Paar mit giftigen Augen setzte sich wenig später zu der kleinen Gruppe, ohne Khalberg zu begrüßen.

Zuletzt kam ein alter Mann – auf den ersten Blick ein Bauer – mit sieben Kindern und einer kleinen, zierlichen Frau und setzte sich zu Khalberg.

Das Sprachgewirr wurde immer lauter, bis eines der Kinder an Khalbergs Tisch zu kichern begann und von dem alten Pferd erzählte, das es draußen in einem Anhänger gesehen haben wollte.

»Gehört euch das Pferd da draußen?«, fragte Khalberg mit sonorer Stimme Richtung Nachbartisch. Die dort Sitzenden zuckten erschrocken zusammen und schüttelten den Kopf.

»Sigi, was ist?«, sprach der alte Khalberg nun den Weintrinker am Tresen an. »Bist du unter die Reiter gegangen?«

Unter allgemeinem Gelächter schwieg der Mann.

»Auch nicht?«

Der wuchtige Mann sah sich im Raum um und entdeckte hinter der Säule eine alte Frau mit Reitkleidung.

»Gehört euch der Gaul da draußen?«

Bevor Elia antworten konnte, ergriff Kranach das Wort, da er nicht wollte, dass Elia mit ihrer oft eigenartigen Ausdrucksweise unnötiges Aufsehen erregte. »Wir sind auf der Durchreise«, sagte er und empfing ein abfälliges Stirnrunzeln.

»Ihr seid seltsame Gestalten. Was treibt ihr so?«, fragte Khalberg und erhob sich mit einem lauten Ächzen, um die beiden Unbekannten hinter der Säule besser sehen zu können.

»Wir sind aus der Schweiz auf dem Weg nach Wien«, log Kranach. »Als wir am Semmering waren, dachten wir, dass wir einen alten Freund besuchen könnten.«

»Einen Freund? Wie heißt der?«

»Leidemann«, sagte Kranach und achtete auf die Reaktionen im Gastraum.

»Kenne ich nicht. Wer soll das sein?«

»Ein Schriftsteller. An die fünfzig.«

»Ein Schriftsteller?«, sagte Khalberg und erntete Gelächter. »So etwas haben wir hier nicht.« Dann sah er zu Sigi, der mit dem Rücken zu ihm an der Bar stand, und fragte ihn in abfälligem Ton, ob er jetzt unter die Künstler gegangen sei. Wieder Gelächter.

Plötzlich erhob Elia das Wort. »Gibt es hier einen anderen Schriftsteller? Vielleicht einen, der hier aufgewachsen und dann weggezogen ist?«

»Wer bist du denn? Du bist die Reiterin, nicht wahr?«

»Seit wann sind wir per Du? Mein Name ist Elia Khalberg, und ich bin auf der Suche nach meiner Tochter und meiner Enkelin, die von Gespenstern entführt wurden. Und ich bin sicher, dass ein Schriftsteller, den sie hier versteckt halten, etwas damit zu tun hat.«

Wieder füllte Gelächter die Stube, nur diesmal so laut und heftig, dass selbst die Kinder mit einfielen.

»Wie heißt du? Khalberg? Und du bist auf Gespensterjagd?«, prustete der Mann, der immer größer zu werden schien.

»Hören Sie, wir haben keine Zeit für Ihre neugierigen Fragen und Ihr Herrschergetue. Geben Sie mir nur eine Antwort auf meine Frage: Gibt es hier einen anderen Schriftsteller?«

Kranach, der still neben Elia saß und sein Fleisch schnitt, schloss die Augen und wollte nicht wahrhaben, dass Elia seinen ganzen Plan über den Haufen geworfen hatte. Doch als die Frau im roten Mantel leise zu sprechen begann, legte er seine Zweifel beiseite.

»Hat nicht der Sohn vom alten Gendarmen geschrieben?«, fragte die Frau in die Runde. »Wie hieß er noch?«

Gleich sprang Elia auf und ging zu dem Tisch, um mit der Frau direkt zu sprechen. »Er hat vier Bücher konzipiert«, erklärte sie. »Drei hat er schon fertig. Ich denke, dass seine Familie, in der er hier aufgewachsen ist, aus vier Mitgliedern besteht. Deshalb die Zahl vier. Seine erste Heldin war Staatsanwältin. Der Beruf könnte von seinem Vater inspiriert worden sein. Insofern würde Gendarm passen. Vielleicht war seine Mutter Bäuerin, so wie die Heldin im zweiten Teil seines Romanzyklus. Möglicherweise ist seine Schwester – ich vermute, dass er eine Schwester hat – auch weggezogen und hat sich eventuell nach oben geheiratet. So wie die Heldin im dritten Buch.«

»Stopp!«, schrie der Großgrundbesitzer und unterbrach Elias dreiste Schlussfolgerungen.

»Wir wollen hier keinen Streit«, sagte die Kellnerin und stellte sich vor Khalberg, der vor Wut über Elias forschen Auftritt schäumte.

»Wir haben hier keinen Schriftsteller – auch keinen, der weggezogen ist«, sagte Khalberg und zeigte warnend mit dem Zeigefinger auf Elia. »Und jetzt setz dich dorthin, iss brav deinen Teller leer und verschwinde mit deinem Penner und deinem Gaul aus unserem Dorf! Und wag es nie wieder, den Namen Khalberg in den Mund zu nehmen!«

Elia wollte sich schon wehren, als Kranach neben sie trat und sie zurück auf ihren Platz führte.

»Wir wollen trinken«, rief die rotwangige Kellnerin, um die Situation zu beruhigen, und stellte eine Flasche selbst gebrannten Schnaps auf den Tresen. »Wer am meisten trinkt, bekommt einen Kuss von mir«, sagte sie und klatschte plötzlich wie wild in die Hände.

Khalberg, dessen Wut immer noch in ihm kochte, griff zur Flasche und nahm einen großen Zug, indem er fünfmal tief schluckte, bis er die Flasche mit einem lauten Krach zurück auf den Tresen stellte.

Herausgefordert sprang der alte Bauer auf, schaffte nur vier Züge und gestand mit erhobenen Händen seine Niederlage ein. Als Nächster griff Sigi zur Flasche und trank acht Schlucke unter großem Raunen und den wachsamen Augen von Khalberg.

»Acht«, sagte Sigi, aber nuschelte dabei so stark, dass man ihn nicht verstehen konnte. Dann sah er zur Kellnerin und wartete auf den verdienten Kuss mit ihren feuchten, dicken Lippen.

Doch die Kellnerin dachte nicht daran, den Handlanger zu küssen, stattdessen lachte sie ihn nur vor allen laut aus. »Glaubst du wirklich, dass ich einen Lumpen küsse? So läuft das Spiel nicht, Sigi«, sagte sie und wollte schon die Flasche wegräumen, als Elia mit einem Mal aufsprang und ihr die Flasche aus der Hand riss.

Elia wandte sich den anderen Gästen zu, die sie mit überraschten Gesichtern anstarrten, und nahm zwölf lange Züge aus der Flasche. Ohne auf eine Reaktion zu warten, drehte sie sich zur Kellnerin und küsste sie auf ihren kalten, von einem billigen Lippenstift klebrigen Mund. Dann wandte sie sich Kranach zu und sagte: »Herr Kommissar, lassen Sie uns gehen und diese unfreundliche Gaststätte verlassen.«

Ohne ein weiteres Wort ging sie nach draußen und wartete im Fiat auf ihren Begleiter.

Als er mit hochrotem Kopf nachkam und sich neben sie ins Auto setzte, zündete er sich rasch eine Zigarette ein. »Was war das denn?«

»Fahren Sie, Kranach.«

Der Kommissar nickte und startete den Wagen, als Sigi plötzlich neben dem Auto stand, an die Scheibe klopfte und Kranach mit einer Handbewegung bat, sie nach unten zu kurbeln.

»Ich habe einen Freund, der ist Jäger«, sagte Sigi. »Der hat einen Sohn, der etwas seltsam ist. Der hat immer komische Dinge gefragt und ist irgendwann weggezogen. Vielleicht ist das Ihr Schriftsteller«, sagte er undeutlich und nickte aufgeregt.

Elia, die Mühe hatte, ihn zu verstehen, beugte sich vor und sah, dass im Knopfloch der abgetragenen Jacke eine blaue Blume steckte.

»Wie heißt dein Freund? Können wir ihn sprechen?«, fragte Kranach.

»Ich will nicht, dass ihr ihm wehtut. Er ist alt. Er kann jeden Moment sterben. Er ist ein guter Mensch. Sein Hund ist schon tot. Wenn er stirbt, sind wir alle auch bald tot. Dann sind wir wieder Gespenster«, murmelte Sigi.

»Wann hast du den Sohn deines Freundes zum letzten Mal gesehen?«

»Gestern. Er ist zurückgekommen.«

»Weißt du, wo er jetzt ist?«

»Ins Schloss wollte er. Unten bei der Autobahnauffahrt. Da war so eine Frau. Steinalt. Und reich.«

Plötzlich verdunkelte sich das Gesicht des Handlangers. »Ich habe gesagt, dass er nicht hingehen soll. Sie war bei den Nazis. Was Hohes in Graz. Ich habe Angst vor ihr.«

»Weißt du, wie sie heißt?«

»Frau Barbara. Sie ist eine Teufelin. Ich habe Angst vor ihr.«

Elia lief ein Schauer über den Rücken. Frau Barbara. Der Name machte ihr solche Angst, dass ihre Hände zu zittern begannen.

»Sie lebt im Schloss? Was ist das? Ein Altersheim? Können wir zu ihr fahren?«, fragte Kranach und spürte, dass er einer ersten echten Spur ganz nahe war.

Sigi antwortete nicht, ging zu einem alten rostigen Jeep und gab Kranach mit wiederholten Handbewegungen zu verstehen, dass er ihm folgen sollte.

Kranach wartete, bis der wankende Handlanger sein Auto aus dem Parkplatz manövriert hatte, und folgte ihm dann mit ein wenig Abstand, ohne zu bemerken, dass an dem Zaun, der den Parkplatz des alten Geländewagens begrenzte, ein unscheinbares kniehohes Kreuz im Boden steckte – in Form eines Y.

22

Atrani war ein kleines Dorf an der Amalfiküste in der italienischen Region Kampanien, südlich von Neapel. Es lag etwa fünfhundert Meter vom Meer entfernt in einem engen Tal und war von steil abfallenden Bergen umgeben. Atrani war bekannt für seine malerischen verwinkelten, nach Zitronen duftenden Gassen, die steilen Treppen und die bunten Häuser, die an den Hängen des Tals klebten wie Schmetterlinge. Es war ein ruhiges und charmantes Städtchen, das von Touristen oft übersehen wurde, die sich für die bekannteren Nachbarorte an der Küste wie Amalfi, Positano und Ravello oder für die Insel Capri interessierten.

Die Piazza Umberto war das Zentrum von Atrani und bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt, da der Strand nur wenige Minuten entfernt lag und unter der Straße Amalfitana – auch Strada Statale 163 genannt – durchführte. Die Amalfitana war eine der schönsten Straßen der Welt und verlief entlang der Küste von Sorrent bis Salerno. Sie war bekannt für die atemberaubende Aussicht auf das warme Tyrrhenische Meer und die malerischen Küstenstädte. Obwohl die Straße sehr kurvenreich und eng war, war sie in Sommermonaten voll und sorgte bei den Autofahrern regelmäßig für einen astronomischen Adrenalinspiegel, wenn hinter einer Kurve mit einem Mal ein blauer Autobus vor der eigenen Stoßstange stand.

Der alte Signore Scognamiglio saß im Ristorante Veliero auf der Piazza Umberto und aß zu Mittag. Er kannte die Familie Leidemann schon lange. Sie lebte in einer Wohnung direkt an der Piazza, von deren Terrasse man das Meer sehen konnte. Leidemanns Frau, Beatrice, war um zwanzig Jahre jünger und hatte sich in den Österreicher verliebt, als er vor Jahren an der Amalfiküste nach den Spuren seines Großvaters gesucht hatte, den er für einen Kriegsverbrecher hielt. Da die Leidemanns das Veliero genauso mochten wie Signore Scognamiglio, kehrten sie immer wieder in den kleinen familiengeführten Laden mit seinen hervorragenden Meeresfrüchten, der wunderbaren Pasta und dem vielen Gelächter ein.

Scognamiglio sah auf den leeren Tisch, an dem früher immer Julian Leidemann gesessen hatte, als dieser Platz noch sein Stammtisch gewesen war, den der Eigentümer des Veliero immer für »l’austriaco« von Touristen frei machte. Leidemann liebte diesen Tisch, da er dort ganz nah am Brunnen der Piazza Umberto saß, von wo er den ganzen Platz einsehen konnte.

Nach dem Tod seines Großvaters hatte Leidemann dort begonnen, seine Romane zu schreiben. Zunächst hatte er nur dagesessen und nachgedacht, aber als er angefangen hatte, die Menschen und ihr Treiben zu beobachten, war etwas in ihm in Bewegung geraten. Er hatte etwa das kleine Mädchen beobachtet, das jeden Morgen mit schüchternem Blick aus einer der Gassen gekommen und in den Laden von Signora Gabriella geschlüpft war. Oder er hatte die große Familie des alten Scognamiglio und seines Bruders beobachtet, der so stolz war, dass seine Kinder im Norden studierten, wo etwas werden würde aus ihnen. Oder er hatte den Fischern zugesehen, die still rauchend aufs Meer geschlichen und mit stolzen, aber müden Gesichtern heimgekehrt waren.

»Come stai, Leidemann?«, sagte Signore Scognamiglio und sprach in sein Mobiltelefon. Als er Leidemanns Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, dachte er daran, wie der ihm einmal erzählt hatte, dass er ihn in seinem letzten Roman zur Figur des Enzo Cascone inspiriert habe, eines Mitglieds der Schwarzen Familie.

»Passt Signora Salazar gut auf Sie auf?« Signore Scognamiglio wartete, bis Leidemann antwortete. Dabei drehte er das Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme des Herbstes. »Machen Sie sich keine Sorgen! Ihrer Frau und Ihrem Sohn geht es gut. Und bald haben Sie es ja überstanden. Können Sie mir jetzt die Signora geben?«

Scognamiglio wartete noch, als ein würziger Geruch hohen Grases den alten Mann erreichte. Er drehte sich um und sah, wie sich ein ebenfalls älterer Herr neben ihn an den Tisch setzte. Er hatte einen grauen Mantel mit wolfsfarbigem Pelzkragen über den Arm geworfen und trug einen hellbraun karierten, gut sitzenden Anzug mit Krawatte über einem azurblauen Hemd mit einem modischen Haifischkragen sowie handgenähte Schuhe aus braun glänzendem Leder. Sein Haar war grau und passte zu seinem sicheren Ausdruck mit klaren Augen und hohen Wangenknochen. Er war groß, sah aus, als käme er aus dem Norden, vielleicht aus Finnland, mit unterkühlten Zügen und seltenem Lächeln.

»Setzen Sie sich!«, sagte Scognamiglio. »Ich will nur kurz mit Giorgia sprechen. Der Mann nickte und setzte sich neben Scognamiglio.

»Giorgia, come stai? Geht es deinen Gästen gut? Laura, Gloria, Leidemann? Sind alle artig und wohlauf?«

Scognamiglio bestellte für den Mann neben sich einen Espresso, während er Giorgia Salazar am Telefon zuhörte. »Das freut mich. Sobald wir das Gutachten haben, hast du deine Isola wieder für dich. Und mach dir um Guido und Michaela keine Sorgen, sie werden früher oder später darüber hinwegkommen.«

Dann verabschiedete sich Giorgia Salazar, und Scognamiglio begrüßte den Mann an seinem Tisch mit Wangenküssen.

»Wie hat Leidemann dich in seinen Büchern genannt? Merten?«

Der Mann, der von Leidemann Merten genannt wurde, nickte.

»In den Romanen spieltest du eine zentrale Rolle«, lachte Signore Scognamiglio. »Dann passt es ja gut, dass du jetzt auch tatsächlich in Erscheinung trittst. Fliegst du heute noch nach Österreich?«

»Am Abend bin ich dort. Dann sollten wir so weit sein.«

»Bevor du fliegst, kannst du den Mailändern sagen, dass sie nächste Woche mit dem Bau beginnen sollen? Sie sollen zumindest mal den Zement schicken. Ich will nicht, dass das Loch im Lovero-Graben so lange offen bleibt und der Gestank bis Castasegna hinunterweht. Ich denke, es wird Zeit, dass wir ein neues krummes Haus darauf bauen«, lachte Scognamiglio.

»Verlass dich auf mich!«, sagte der Mann, der von Leidemann Merten genannt wurde.

»Dich bedrückt etwas?«, fragte Scognamiglio, da er im Gesicht seines Gegenübers einen Schatten entdeckt hatte.

»Sie ist aufgewacht.«

»Wer?«

»Du erinnerst dich? Kolumbien?«

»Das ist ewig her. Sie lebt noch?«

»Vielleicht spürt sie, dass ihr Vater sich, ohne es zu wissen, auf die Suche nach ihr gemacht hat.«

»Dann kümmere dich um sie, wenn du zurück bist! Aber lass sie am Leben. Wer weiß, wofür wir sie noch brauchen können?«

Der Mann, den Leidemann Merten nannte, nickte.

»Sie ist verwirrt. Ihr Gehirn ist nur noch Mus«, sagte Scognamiglio.

Der andere trank einen Schluck Espresso. »Ich trau diesem Kranach nicht. Wenn er dahinterkommt, dass seine Tochter noch lebt und wir sie oben mit den anderen in den Floating-Tanks gehalten haben, ist er zu allem fähig«, sagte er.

»Er hat seine Leonora sicher längst vergessen. Und wovor hast du Angst? Dass er herkommt und mir, dem Vorsitzenden der Familie, in die Brust sticht?«, lachte Scognamiglio.

»Wenn ihn diese Elia mit ihrem Mut ansteckt, dann ist ihm auch das zuzutrauen. Sie ist das Mädchen, das den Nazis entronnen ist und den Soglioer Kreis gegründet hat«, sagte der Mann, den Leidemann Merten nannte.

»Aber das Thema Elia ist morgen Geschichte. Die letzte Reise unseres weiblichen Don Quijote geht dann zu Ende.«

23

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, bis der Handlanger mit seinem Jeep von der Schnellstraße links hinter einem kleinen Wäldchen auf einen Weg einbog und den Wagen vor einer großen Baustelle abstellte.

Elia schielte neugierig nach draußen zu den beiden haushohen Röhren, die aus dem sich hinter dem Wäldchen erhebenden Berg ragten. »Was ist das?«, fragte sie und sah in das ebenso verblüffte Gesicht von Kranach.

»Ein Tunnelbau«, las Kranach von den großen Informationsschildern ab, während er seinen Wagen samt Anhänger neben dem Auto des Handlangers parkte.

»In der Nacht hört man hier oft ein tiefes Grollen«, sagte Sigi, der von seinem Jeep zu den beiden herüberkam und dabei wieder so undeutlich sprach, dass sowohl Kranach als auch Elia Mühe hatten, ihn zu verstehen. »Sie sprengen die beiden Tunnel in Richtung Mürzzuschlag, auch in der Nacht, obwohl es verboten ist«, nuschelte er und sah zu den Röhren.

Elia folgte seinem Blick und dachte, dass die Tunneleingänge aussahen wie die freigelegten gewaltigen Nüstern eines seit Jahrtausenden im Berg begrabenen Riesendrachen. »Das steht auch in ›Der erste Schnee‹«, sagte sie.

»Was?«, fragte Kranach.

»Der Tunnel. Hier ist im Buch die Tochter von Marlene Castor verschwunden, weil sie einem Hirsch gefolgt ist«, erzählte Elia und wandte schließlich ihren Blick vom Tunnel ab, als Kranach ihr nicht antwortete.

»Dort ist es. Das Schloss«, sagte Sigi und sah auf die andere Seite des Parkplatzes, als sich Kranach mit einem schweren Seufzen aus dem durchgesessenen Fahrersitz heraushebelte, um das Gebäude näher in Augenschein zu nehmen.

Das Schloss schien aus dem 17. oder 18. Jahrhundert zu stammen. Es wirkte verlassen und ein wenig heruntergekommen. Eine schmale Treppe führte über einen kleinen Hang zum Eingang, der gespenstisch hinter drei blattlosen Bäumen lag. Vom Parkplatz aus gesehen wirkte es, als würden die Äste der Bäume wie dürre, lange Finger vom Himmel nach der gelben Fassade des Schlosses greifen. Ein großer Turm mit Spitzdach wachte über die restlichen Elemente des Bauwerks mit seinen Kapitellen, Bogen, geschwungenen Linien und Ornamenten.

Auch wenn das Schloss verlassen schien, vermutete Kranach, dass das Innere des weitläufigen Gebäudes luxuriös und prächtig gestaltet worden war, mit aufwendigen Malereien, Schnitzereien und anderen Verzierungen. Vor seinem geistigen Auge sah er große Empfangssäle und Banketträume und andere Räumlichkeiten für festliche Anlässe. Der ursprüngliche Garten, der das Schloss früher umgeben haben musste und vermutlich im französischen oder italienischen Stil angelegt gewesen war, hatte sicher mit Wasserspielen, Skulpturen und anderen Kunstwerken beeindruckt, dachte er. Dabei spürte er eine beklommene Traurigkeit in sich, als er den einstigen Prachtbau eingepfercht zwischen Straße und Baustelle verfallen sah.

»Dahin ist unser mysteriöser Schriftsteller also gegangen?«, fragte Elia. Sie war ebenfalls aus dem Auto gestiegen und blickte wie Kranach auf das große Schloss, das sie an dieser Stelle nicht vermutet hätte.

»Früher in der Schule waren wir oft hier schwimmen. Gleich dahinter ist ein Hallenbad«, stammelte der Handlanger wie ein ungelenker Reiseführer. »Es war ein Kinderheim früher. Dann war es ein Invalidenheim, und bevor die Baustelle kam, war es ein Hotel mit vielen Zimmern, haben die Leute gesagt«, zischte er und war mit einem Mal sichtlich nervös.

»Können wir hineingehen?«, fragte Kranach.

»Es ist geschlossen. Da wohnt niemand mehr. Außer Gespenstern«, lachte Sigi plötzlich seltsam prustend auf, beruhigte sich aber gleich wieder, als er in Elias ernstes Gesicht sah.

»Sie haben gesagt, dass der Sohn Ihres Freundes hierher wollte, weil er nach einer Frau Barbara suchte, die hier gewohnt haben soll«, sortierte sich Kranach.

»Die Teufelin ist tot«, sagte Sigi.

»Du hast vorhin gesagt, dass sie nicht sterben mag«, korrigierte ihn Kranach und ermahnte ihn mit einem strengen Blick, sodass Sigi gleich verstand, dass er die beiden nicht auf den Arm nehmen durfte.

»Sie hat nicht sterben wollen. Aber jetzt sind alle tot. Sie war so böse. Alle haben Angst vor ihr gehabt. Sie war Nazi. Sie wollte nicht sterben. Und ich denke, dass sie immer noch da drinnen ist. Deshalb habe ich zu meinem Freund gesagt, er soll auf seinen Buben aufpassen, wenn er dort hinwill.«

Mit einem Mal war Kranach beim Handlanger und packte ihn am Kragen. »Hör zu! Warum hast du uns hierhergebracht, wenn hier niemand ist? Kennst du jemanden, der uns hineinlassen kann, damit wir uns umsehen können?«

»Nein, nein. Die Tunnelarbeiter, die da früher gewohnt haben, wollen auch nicht mehr hinein. Nein, nein. Da will keiner hinein. Ich wollte euch nur helfen.«

»Wäre es nicht einfacher, du führst uns einfach zu deinem Freund, damit wir ihn über seinen Sohn befragen können, der vermutlich diese verrückten Geschichten geschrieben hat?«, sagte Kranach und ließ Sigi wieder los.

»Da war früher einmal ein Reiterhof, wo jetzt der Tunnel ist. Vielleicht wartet ihr hier mit eurem Pferd, bis er vorbeikommt. Vielleicht kommt er ja. Ich wollte euch nur helfen. Nur helfen«, sagte Sigi wieder, ging ohne ein Wort des Abschieds zu seinem Wagen und ließ die beiden vor dem leeren Parkplatz des Schlosses zurück.

»Und was wollen wir jetzt machen?«, fragte Elia, während sie zum Schloss blickte.

»Ganz sicher werden wir nicht unerlaubt in dieses ehemalige Prachtgebäude einbrechen.«

»Aber Sie haben ja gehört, dass er von Gespenstern gesprochen hat.«

»Es gibt keine Gespenster, altes Mädchen. Schlag dir das aus dem Kopf.«

»Und warum sind wir dann hier, Herr Kommissar?«, fragte Elia.

Kranach winkte ab und lief über die Treppen nach oben zum Schloss.

»Wo wollen Sie hin? Wollen Sie doch eine Karriere als Einbrecher starten? Aber am helllichten Tag? Man wird Sie schnappen«, rief sie ihm nach.

»Ich schau nach, ob uns der Bursche nicht angelogen hat und vielleicht doch jemand dort ist. Und wenn eine Tür nicht versperrt ist, dann ist es kein Einbruch, oder?«, rief Kranach und verschwand hinter dem kleinen Hügel im Säulenfoyer des Schlosses.

Elia wollte dem Kommissar schon folgen, als ein tiefes Grollen die Erde unter ihr erfasste. Das müssen die Sprengungen sein, dachte sie und entschied, hier auf Kranach zu warten, da sie vor ihrem inneren Auge sah, wie Staub von hohen Stuckdecken auf ihren Kopf rieselte. Zudem wurde Rosinante im Anhänger unruhig, aus Angst vor dem Grollen. Elia hielt es für besser, ihren alten Begleiter aus dem Anhänger zu führen und ihn ein paar Schritte über den Parkplatz laufen zu lassen.

Kurz darauf kam Kranach wieder zurück. Er ärgerte sich, als er vom Hügel aus Elia mit dem alten Gaul auf dem Parkplatz auf und ab gehen sah. Sie durften kein weiteres Aufsehen erregen. Warum kapierte Elia das nicht, fragte er sich.

»Haben Sie jemanden gefunden?«

»Alles zu. Bring den Gaul zurück in den Anhänger! Wir parken uns um und warten, bis es dunkel wird.«

»Sie wollen das Schloss beobachten und warten, bis der Fährmann kommt?«, sagte Elia sichtlich aufgeregt.

»Ich warte auf diesen verdammten Sohn«, brummte Kranach und stieg zurück ins Auto, während Elia noch draußen stehen blieb und mit Rosinante auf den Turm des Schlosses blickte.

»Was ist, kommst du?«

»Sie«, sagte Elia, ohne den Blick vom Turm zu nehmen.

»Kommen Sie

»Gleich.«

»Was haben Sie?«, fragte Kranach. »Sehen Sie etwas?«

»Dieser Turm sieht aus wie ein Wachturm.«

»Das ist ein gewöhnlicher Turm. Was soll man von dort denn bewachen?«

»Der Graben dort hinten, der vom Schloss auf den Berg hochführt, würde man da nicht auch auf das Stuhleck gelangen?

»Komm auf keine verrückten Ideen, altes Mädchen. Da gibt es weder einen Weg noch sonst etwas. Ich will dich nicht wieder von den windigen Gipfeln dort oben herunterholen müssen, hast du verstanden? Du und dein Gaul bleibt hier, verstanden?«

»Verstanden, Herr Kommissar«, sagte Elia, führte Rosinante in den Anhänger und setzte sich neben Kranach in den Wagen, der daraufhin einen Parkplatz auf der anderen Seite der Straße suchte. Von dort würde er sowohl die Tunnelbaustelle als auch das geheimnisvolle Schloss im Auge behalten können.

Doch während er sich eine Zigarette ansteckte und auf die Nacht wartete, versank Elia neben ihm in Gedanken, da es ihr schwerfiel, zu warten und nichts zu tun, während Gloria und Laura vielleicht um ihr Leben kämpften. Dabei sah sie immer wieder auf den dunklen Graben hinter dem Schloss, der immer steiler zu werden schien, je länger Elia darauf blickte. Und bald glaubte Elia, dass sich der Graben aufrichtete wie eine Mauer, die etwas vor ihren neugierigen Augen beschützen wollte.

»Ich werde den zweiten Band lesen, solange wir hier warten«, sagte Elia. Sie griff auf die Rückbank des Wagens und kramte zwischen schmutziger Wäsche, Müll von Fast-Food-Restaurants und alten Zeitungen den zweiten Roman des »Tannenfall«-Zyklus hervor. »›Das andere Licht‹«, sagte sie mit feierlicher Stimme. Doch bevor sie die erste Seite aufschlug, drehte sich Kranach zu ihr.

»Was war eigentlich euer zweites Prinzip?«

Elia sah zum Graben, der sich wie eine große Furche durch den Wald zog. »›Mut ist wichtiger als Sicherheit‹«, sagte sie und fragte sich für einen Moment, ob Rosinante den Weg zum Gipfel auch über diesen Weg hinter dem Schloss schaffen würde.

»Wart ihr denn so mutig?«, fragte Kranach und begann bei der Frage so heftig zu husten, dass er erneut einen blutigen Auswurf hatte, der zwischen seinen Fingern klebte.

»Sie sollten zum Arzt gehen«, sagte Elia und sah besorgt auf seine schwitzende, weiß glänzende Haut.

»Es ist Krebs, altes Mädchen. Es gibt keinen Arzt, der mir noch helfen kann.«

»Fichtenberger glaubte daran, dass alles verbunden ist. Er sah die ganze Natur als einheitliches Ganzes, das miteinander interagiert«, begann Elia und sah zu Kranach, der in ihren Augen das ferne Licht einer alten Erinnerung sah. »Fichtenberger war ein verrückter Kerl. Aber er hatte recht. Er sah den Menschen als Teil der Natur. Er war demselben Ganzen zugehörig wie alles andere, das ihn umgab.«

Kranach blickte zur Baustelle, die in der staubigen Nachmittagssonne lag, umgeben von einem stillen Wald, einer Straße, über die kaum Autos fuhren, und einem verlassenen Schloss. »Ihr Fichtenberger war tatsächlich ein verrückter Kerl«, sagte er und erinnerte sich an das Buch, das seine Frau ihm kurz vor ihrem Tod geschenkt hatte. Er hatte nie hineingeblättert und auch nie die Widmung gelesen, die sie hineingeschrieben hatte, da er wusste, dass es sein Herz zerbrochen hätte.

»Wir haben sie damals alle gesehen. Die Poesie. Sie war überall. Alles wirkte verbunden wie mit einem Klebstoff«, sagte Elia und bekam ein Leuchten in ihren Augen, wie Kranach es noch nie bei ihr gesehen hatte. »Alles war von ihr beseelt. Auch unser Körper, unser Geist und unsere Seele. Wenn es gelingt, diese Poesie zu spüren, die überall da draußen in der Natur liegt, dann ist es möglich, dass Kunst heilt. Auch einen kranken Körper.«

»Willst du mir jetzt sagen, dass Poesie meinen Krebs besiegen kann?«, fragte Kranach mit abfälligem Blick.

»Durch alles fließt Poesie, sagte Gotarama immer. Natur, Ideen und Gefühle, alles schmilzt zusammen.«

»So ein Unsinn!«, polterte Kranach und suchte nach einer neuen Zigarette.

»Wer die Poesie in sich spürt, kann auch die natürlichen Geheimnisse der Welt verstehen«, sagte Elia und sprach so leise und ruhig, als würde sie die Erinnerung an den Soglioer Kreis tief im Innersten berühren.

»Aber wenn ihr so schlau wart, warum habt ihr euch dann aufgelöst? Warum hast du deiner Enkelin verboten, Bücher zu lesen und sich mit Kunst zu befassen?«, fragte Kranach.

Elia schwieg und sah wieder auf den dunklen Graben, aus dem langsam das Licht der Nachmittagssonne verschwand.

»Geben Sie mir eine!«, sagte sie mit trockener Stimme und sah auf die Schachtel Zigaretten, die Kranach auf das Armaturenbrett vor sich gelegt hatte.

»Seit wann rauchst du? Du verrücktes altes Mädchen überraschst mich immer wieder«, sagte Kranach und lachte laut auf.

»Bekomm ich jetzt eine oder nicht?«

Kranach hielt ihr die Schachtel hin und gab Elia Feuer, nachdem sie sich eine Zigarette herausgezogen hatte.

»Als mich Baptiste fragte, ob ich seine Frau werden wollte, bestand ich darauf, dass er mit seiner Familie brach, den Giacomettis, der großen Künstlerfamilie aus Stampa, die –«

»Ich kenne die Giacomettis«, sagte Kranach. »Meine Frau war öfter bei denen.«

Elia nahm einen Zug von der Zigarette und ließ den Rauch durch ihre Lungen rascheln wie alter Wind, der verfaultes Laub von einem verklebten nassen Herbstboden hob. »Ich war vor Baptiste schon einmal mit einem Mann zusammen. Es war schrecklich. Und deshalb musste Baptiste mir versprechen, dass ich nie wieder im Schatten eines Mannes stehen würde.« Elia zog wieder an der Zigarette. Neuer Rauch stieg auf und legte sich an der Windschutzscheibe scheinbar über den Waldhang, auf den Elia starrte, als wäre es Nebel, der zwischen den Bäumen auf sie wartete.

»Hat sich Ihr Baptiste an die Abmachung gehalten?«

»Niemand hat sich daran gehalten«, sagte Elia und dämpfte plötzlich die Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stieg sie aus und stellte sich mit verschränkten Armen vor den Fiat. Ein kalter Wind fiel vom nahen Stuhleck auf die Welt, welche die beiden umgab, und trug den Geruch faulen Holzes in seinem Atem.

»Vielleicht hast du ja recht«, sagte Kranach, der ebenfalls ausgestiegen war und sich neben Elia an den Wagen lehnte. »Vielleicht klebt uns beide die Natur da draußen wieder zusammen.«

»Ich werde dafür sorgen. Ich werde uns alle retten«, flüsterte Elia.

Der Kommissar schwieg und glaubte für einen winzigen Augenblick tatsächlich daran, dass sein altes verrücktes Mädchen mit seiner peniblen Reiterkleidung auf dem alten Rosinante den Tod, der in ihm saß, besiegen konnte.

»Wir haben uns jetzt genug unterhalten, Herr Kommissar«, sagte Elia mit neuer Schärfe. »Wir sind hier, um Gespenster zu finden und um Laura und Gloria zu retten. Während Sie also weiter Ausschau nach dem Fährmann halten, werde ich den zweiten Teil von ›Tannenfall‹ lesen. Vielleicht haben wir ja etwas übersehen.« Sie blickte zum Himmel über sich, als wäre er eine große Kuppel, unter der die beiden nur wie lebensgroße Spielfiguren platziert worden waren.

24

Nach dem Abend kam die Nacht und mit ihr der Hunger und die Müdigkeit. Die setzte Kranach so sehr zu, dass ihn immer wieder der Schlaf in seinen gefederten Abgrund riss.

Es war knapp vor Mitternacht, als Elia aus dem Wagen stieg und Kranach aus seinem Sekundenschlaf weckte.

»Wo willst du hin?«, fragte er, mit einem Mal hellwach.

»Rosinante will sich die Beine vertreten. So wie ich.«

»Aber du haust nicht ab und reitest irgendwohin, nur weil du etwas Neues gelesen hast«, ermahnte sie der Kommissar und sah auf das fast fertige Buch, das geöffnet auf dem Beifahrersitz lag.

»Ehrenwort, Herr Kommissar. Wir beide sind artig«, sagte Elia und ging mit Rosinante, den sie aus dem Anhänger holte, über die Straße zum dunklen Schloss.

»Passen Sie auf, dass Ihnen nichts passiert«, rief ihr Kranach hinterher.

Während er auf sie wartete, nahm er das Buch und las wahllos darin.

»Elfte Aufzeichnung. Facebook hatte vor Jahren zwei Bots abschalten müssen, weil sie begonnen hatten, sich in einer Sprache zu unterhalten, die der Mensch nicht kannte. Sie erfanden selbst Codewörter. Ihr Menschen habt mit der Neuen Ordnung einen künstlichen Gott erschaffen und so eure vierte und letzte Kränkung erfahren.«

»Wer schreibt denn so einen Schwachsinn?«, fragte sich der Kommissar und warf das Buch zurück auf den Beifahrersitz. Er dachte an einen Zeitungsartikel, den er über künstliche Intelligenz gelesen hatte und in dem gefordert worden war, die Forschung daran dringend zu beenden. Aber was hatte das alles mit Tannenfall zu tun, mit dieser vergessenen Gegend hier, den verschwundenen vier Kindern und diesen verfluchten Gespenstern, die es hier geben sollte?

»Ach«, fluchte Kranach und stieg ebenfalls aus dem Wagen. Er steckte sich, wie nicht anders zu erwarten, eine Zigarette an und blickte in die Richtung, in die Elia mit Rosinante in der Dunkelheit verschwunden war. In den letzten Stunden, als sie hier gewartet hatten, war niemand zum Schloss gefahren – weder ein vermeintlicher Schriftsteller noch ein Fährmann oder jemand, der im Schloss nach dem Rechten sah.

Plötzlich schrak Kranach zusammen, denn das Wiehern von Rosinante durchbrach die Stille der Nacht. Er lief, so schnell er konnte, zum Schloss und folgte dem Wiehern des alten Pferdes. Als er den klapprigen Gaul auf der Rückseite des Schlosses fand, war dieser lose an eine große Wurzel gebunden und scharrte mit den Hufen. Ein Teil der Wurzel war abgebrochen und hatte Elia offensichtlich als Werkzeug gedient, um eine Tür zum Schloss aufzubrechen. Doch Kranach fand nicht nur den wackeligen Rosinante, sondern wurde weiter hinten auch Zeuge eines sonderbaren Schauspiels, das sich vor ihm wie auf einer alten Bühne abspielte.

Im spärlich beleuchteten Hallenbad mit seinen Glaswänden schwamm ein alter Mann ruhig seine Bahnen. Das Becken war umgeben von Liegestühlen, die augenscheinlich mit einem Stoff aus den siebziger Jahren überzogen waren. Zwischen den Stühlen ging Elia aufgeregt hin und her und hatte den Stock, den sie von der Wurzel gebrochen hatte, geschultert. Sie hatte offensichtlich beim Vertreten der Beine Licht gesehen und sofort die Gelegenheit ergriffen, um in das Gebäude einzudringen und den schwimmenden Mann nach den Gespenstern zu befragen. Doch der Mann schien ob des überraschenden Besuchs gelassen und zog weiter seine einsamen Bahnen, was Elia offensichtlich so wütend machte, dass sie immer wieder mit dem Stock auf das Wasser schlug, als wäre er ein Knüppel.

Kranach schrie mit lauter Stimme und trommelte mit der Faust so lange gegen das Fenster, bis Elia ihn endlich bemerkte und ihm zeigte, wo sie die Tür zum Schwimmbad aufgebrochen hatte.

»Bist du noch bei Trost?«, rief Kranach, als er den kühlen, nach Chlor riechenden Raum betrat, und wunderte sich zugleich, dass der alte Mann im vermutlich auch kühlen Wasser so ruhig seine Bahnen zog.

»Einer von uns muss doch schließlich die Dinge in die Hand nehmen«, sagte Elia. Sie prügelte wieder mit ihrem Stock auf das Wasser ein und forderte den alten Mann wütend auf herauszukommen, da die Polizei – damit meinte sie Kranach – mit ihm reden wollte. Doch der alte Mann hörte nicht.

Erst als Elia schon ins Wasser springen wollte und Kranach sie nur mit Mühe davon abhalten konnte, räusperte sich der Mann. »Sind Sie wirklich von der Polizei?«, fragte er und beendete seine Bahn direkt vor Kranachs Füßen.

»KaPo – das heißt, ja: Polizei. Aber wir machen das schnell. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie, wenn Sie gestatten«, stammelte Kranach.

»KaPo? Ist das nicht die Kantonspolizei? Was macht die Schweizer Kantonspolizei hier in der Steiermark?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Kranach und hockte sich an den Beckenrand. »Wollen wir uns nicht woanders unterhalten?«

»Nein, nein«, sagte der alte Mann, »ich liebe das Wasser.« Er hatte große, abstehende Ohren und sah Kranach mit neugierig kleinen Augen an. Der Mann war groß und hatte trotz seines hohen Alters noch einen durchtrainierten Körper. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, während Wassertropfen von seinen markanten Ohren regneten.

»Wer sind Sie? Und wie kommen Sie in das verschlossene Gebäude?«

»Verschlossen? Das erklärt, warum ich so selten Besuch bekomme«, lächelte der alte Mann und sah zu Elia, die ihn kritisch von oben bis unten musterte.

»Das heißt, Sie leben hier?«

»Natürlich lebe ich hier. Früher war hier alles voll mit alten Menschen. Viele waren invalid. Noch vom Krieg. Aber als die Tunnelarbeiter kamen, brachte man die Alten weg. Manche sind auch gestorben. Aber jetzt sind nicht einmal mehr die Tunnelarbeiter hier.«

»Hatten Sie vor Kurzem Besuch? Vielleicht von einem Schriftsteller?«, kam Kranach gleich auf den Punkt.

»Einem Schriftsteller? Nein. Die beiden Männer aus dem Laden im Dorf bringen mir immer wieder etwas zu essen. Aber sonst sind ja alle längst tot.«

»Lebte früher auch eine Frau hier? Eine Frau Barbara?« Kranach vermied den Begriff Teufelin.

Der Mann im Wasser schwieg und blickte zu Elia. Sein freundliches Gesicht schien einzufrieren. »Die Teufelin ist tot. 2015 ist sie gestorben«, sagte er und sah wieder zu Kranach.

»Ich kenne dich«, sagte Elia plötzlich und wusste nicht, warum sie das sagte.

»Natürlich kennst du mich, Elia. Oder sollte ich sagen: Elias?«

Elia begann zu zittern, bis ihre Beine nachgaben und sie nach hinten auf einen der Liegestühle niedersank.

»Jakob? Du lebst?«

Der alte Mann im Wasser, den sie Jakob nannte, nickte. »Natürlich lebe ich. Die Jenischen haben auch mich aus der Höhle herausgebracht. Vorerst zumindest.«

»Vorerst? Wo warst du all die Jahre, wo sind die anderen, Lya, Medora? Hast du von ihnen gehört?«

Jakob schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht sind sie tot. Ich dachte lange auch, dass du tot wärst.«

»Was heißt, du dachtest lange, ich wäre tot? Was meinst du damit?«

Jakob nahm einen tiefen Atemzug und sah Elia mit finsterem Blick an. »Erinnerst du dich an das kleine Kätzchen, das bei uns im Lager war? Erinnerst du dich daran, dass du es getötet hast vor unser aller Augen? Dass du ihm die kleine, weiche Kehle zugedrückt hast, bis es geknackt hat und die Augen ganz groß waren?«

»Ich habe es nicht getötet«, rief Elia, die sich plötzlich ganz genau daran erinnern konnte.

»Du wolltest Frau Barbara gefallen. Dein Bär war auch Zeuge. Wie hast du ihn immer genannt? Ach ja: Viktor. Aber Viktor war ebenso schockiert von dir wie wir. Du warst nicht einmal vier Jahre alt und hast schon getötet. Wir haben geschwiegen. So wie Viktor. Alle waren wir schockiert von dir. Nur sie nicht. Barbara. Ihre Augen haben geleuchtet, da du ihr von uns allen am ähnlichsten warst«, sagte der Mann, den Elia Jakob nannte, stieß sich vom Beckenrand ab und schwamm erneut eine Bahn.

»Was willst du damit sagen, dass ich ihr am ähnlichsten war?«, schrie Elia und lief zum Beckenrand.

»Du hast recht. Aber was, wenn ich deine Kinder frage? Deine Enkelin? Was werden sie sagen? Was wird mir deine tote June sagen? Was wird Gloria sagen? Dass du eine liebevolle Mutter warst? Was wird Laura sagen? Dass du eine großzügige Großmutter warst? Und Baptiste? Wird er sagen, dass du eine treue Ehefrau warst, bevor du das Feuer gelegt hast? Oder dass du eine selbstsüchtige Tyrannin warst, die ihre Lieben mit Füßen getreten hat? Ja, eine Tyrannin bist du geworden. Wie sie, eine Teufelin wie unsere Mutter.«

Kranach verschlug es den Atem. Er überlegte schon, ob er zu Elia laufen sollte, damit sie nicht wieder die Fassung verlor, als ihm auffiel, dass auf dem Liegestuhl, auf dem der alte Mann seine Kleider abgelegt hatte, ein kleines schwarzes Gerät lag, das aussah wie ein Handy. Kranach hatte es überhaupt erst unter der zusammengefalteten Hose entdeckt, als das Display kurz aufgeleuchtet hatte.

»Elia, ich würde jetzt schweigen«, rief er zu seinem alten Mädchen, da er vermutete, dass sie mit offenen Augen in eine Falle geraten war. Doch es war zu spät.

»Du steckst mit der Königin unter einer Decke, du Bastard!«, schrie Elia wie eine Besessene. »Du bist ein Gespenst, ein Gespenst! Gib mir meine Laura wieder, gib mir meine Gloria wieder!«, kreischte sie und lief plötzlich wie von Sinnen vor dem Beckenrand hin und her, auf den der alte Mann zuschwamm. Mit voller Wucht schlug sie auf den Kopf des Mannes ein, der sich laut schreiend und mit erhobenen Händen wehrte.

»Sie ist verrückt. Sie ist verrückt und gefährlich. Sie will mich umbringen, helfen Sie mir!«, rief er und tauchte immer wieder mit dem Kopf unter Wasser, obwohl er gar nicht richtig von Elias Hieben getroffen wurde.

Doch bevor Kranach dem Mann zu Hilfe eilen und die wutentbrannte Elia besänftigen konnte, betraten drei Männer und eine Frau das Hallenbad. Ein Mann und die Frau trugen Polizeiuniformen. Sie sprangen mit wenigen Sätzen zu Elia und rissen ihr den Stock aus der Hand. Der zweite Mann trug einen Mantel mit Wolfspelzkragen und verbarg den Handlanger, der Kranach und Elia den Weg in die Falle gezeigt hatte, im hohen Gras seines Duftes.

»Sie ist verrückt«, zischte Sigi kaum verständlich im Halbschatten eines Vorraumes. »Ich kann es bezeugen. Alle können es bezeugen. Die Leute beim Wirt und die Wanderer oben am Berg bei den Windrädern. Dort ist sie durchgeritten wie ein Ritter. Dabei ist sie doch eine Frau. Und eine Frau ist kein Ritter. Sie soll zu Hause bleiben.«

Kranach hob die Hände, obwohl niemand eine Waffe auf ihn gerichtet hatte, und ging wütend zu dem alten Mann, der sich mit einem kräftigen Ruck aus dem Wasser gezogen hatte und auf seinen Liegestuhl zusteuerte. Doch ehe sich’s der Mann versah, schlug ihm Kranach so fest ins Gesicht, dass dieser wie eine Pappfigur nach hinten fiel.

Gleich waren die beiden überraschten Polizisten bei ihm. Dabei rechneten sie nicht mit Elias Entschlossenheit und gaben ihr ausreichend Zeit, durch die vorhin gewaltsam geöffnete Hallenbadtür wieder ins Freie zu schlüpfen und mit Rosinante über den steilen, dunklen Hang zu fliehen.

Als die Polizisten Kranach von dem Mann, der sich als Jakob ausgab, wegzogen, sagte er noch: »Elia wird sich nie wieder in den Schatten eines Mannes stellen, hast du gehört? Sie wird stets mehr Ritter sein als du in deinem ganzen Leben.« Er spuckte aus und lächelte, als er Rosinantes Wiehern hörte, das langsam im kalten Wind von Tannenfall verschwand.

25

»Morgen geht es dir sicher wieder besser«, sagte ich zu June und deckte sie bis zur Nasenspitze zu. June war ein stilles Mädchen, und da sie im kommenden Jahr in die Schule kam, machte ich mir oft Sorgen, ob diese Zurückgezogenheit ihr nicht schaden würde. June hatte schattige traurige Augen und lachte selten. Selbst wenn sie mit ihrem Holzpferd spielte oder mir in der Küche half, wirkte sie distanziert. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie gar nicht da war. Deshalb nahm ich sie oft in den Arm und drückte sie fest an mich, als wollte ich mich vergewissern, dass sie auch tatsächlich aus Fleisch und Blut war.

Als June von einem neuen Hustenkrampf erfasst wurde, gab ich ihr noch einen Schluck vom Zwiebelsaft, den ich neben ihr auf das Nachtkästchen gestellt hatte. Ich hatte die Zwiebeln am Vortag in Stücke geschnitten, mit Zucker bestreut und über Nacht in der Küche stehen gelassen, damit genügend Saft austrat.

Baptiste hatte sich über den Gestank beschwert und wollte die Zwiebeln schon aus dem Fenster werfen, da er glaubte, dass June nur ein paar kräftige Atemzüge in der frischen Bergluft brauchte, um wieder gesund zu werden. Dieses Schattengewächs, wie er June nannte, wenn er sich über sie ärgerte, müsste hinaus in die Natur, sonst würde sie eines Tages eingehen wie ihr Vater, dieser nutzlose Lehrer. Sie müsste den Mund aufmachen und so laut schreien, dass sie unten in Soglio, ja sogar in Stampa noch zu hören wäre, meinte Baptiste. »Sie frisst alles in sich hinein und sitzt immer nur stumm und abwesend da. Da ist es doch offensichtlich, warum sie hustet. Das Leben will heraus aus ihr. Da hilft keine Zwiebel«, sagte er, schlug die Tür zu und lief wutentbrannt in sein Atelier, wo den Rest der Nacht das Licht brannte.

Doch es dauerte nie lange, bis Baptiste sich wieder beruhigte. Meist kam er mit den anderen zum Frühstück, und wir sprachen über die Arbeit der Männer. Während mein Herd in der Küche voll war, hörte ich, wie Gotarama neue Absätze aus der »Tragödie der Menschheit« vorlas und um eine ehrliche Meinung bat oder wie Carpenter sich aufschwang und seinen zweiten Akt der »Machtgier des Generals« mit bebenden Worten skizzierte, um dann unter tosendem Applaus von Fichtenberger und Abies befeuert zu werden.

Als ich die Pfannen mit frisch zubereiteten Eiern auf den Tisch stellte, suchten die Männer mit ihren leuchtenden Augen bei mir stille Zustimmung, die sie meist durch mein kurzes Nicken und Lächeln bekamen. Und wenn sie diese Anerkennung nicht wahrnahmen, weil sie sie im Feuer ihres Vortrages übersahen, dann schlichen sie mir in die Küche nach und halfen mir beim Abwasch, um als Lohn meine ehrliche Meinung über ihre präsentierte Arbeit zu bekommen.

»Du bist unser schlagendes Herz, Elia«, sagte Gotarama einmal. »Meist überhören wir im Donner unserer Arbeit sein Pochen. Erst wenn es aufhören würde zu schlagen, würden wir erkennen, was für einen Schatz wir verloren haben.«

Ich freute mich über die Dankbarkeit der Männer und half ihnen auch, so gut es ging, bei ihrer Arbeit. Ich motivierte sie und lud sie zu längeren Spaziergängen ein, wenn sie mit ihrem Geist feststeckten, oder übersetzte manche Werke von ihnen ins Deutsche oder Italienische, damit sie ein größeres Publikum erreichten.

»Du bist talentiert wie August Wilhelm Schlegel. Seine Übersetzungen von Shakespeare ins Deutsche waren auch besser als das englische Original«, sagte Fichtenberger und vergaß dabei, dass der Großteil der Übersetzungen in Wahrheit Schlegels Frau Caroline zu verdanken war. »Deine schöpferische Vorstellungskraft ist ebenso umwerfend wie deine Sprache, die so emotional und organisch daherkommt. Warum schreibst du eigentlich nicht selbst?«, fragte er.

Ich konnte ihm keine Antwort geben und schob vor, dass ich lieber malen und zeichnen würde, als meine Vorstellungskraft in Worte zu fassen. Zudem würden mir die Arbeit in unserem neuen Jena – die Chalets, der Haushalt und June – kaum noch Zeit fürs Schreiben lassen. Ich dachte nie viel darüber nach. Erst als Honoré Abies mir bei einem Spaziergang offenbarte, dass er mich für eine unsichtbare Künstlerin hielt, begann ich, darüber nachzudenken, ob Baptiste das Versprechen, das ich vor der Ehe eingefordert hatte, wirklich gehalten hatte. Ich wollte niemals wieder im Schatten eines Mannes stehen. Doch wenn ich jeden Morgen in der Küche stand und der Duft frisch aufgeschlagener Eier aus den Pfannen stieg, sah ich hinter dem Fenster dunkle Wolken aufziehen, auch wenn ich sie im Rausch der von den Männern verkündeten Ideen kaum wahrnehmen wollte, auch wenn mir Honoré immer wieder zuflüsterte, wie reizvoll er meine Inspirationen empfand, wie wild und wie lebendig sie seien. Durch mich seien seine Werke wie Pflanzen, die sich aus meinem Samen entwickelten. Sie entstünden von innen heraus. Ohne feste Regeln, nur den Prinzipien des Manifests folgend.

»Du vermischst alles – Natur, Kunst, Poesie und Prosa. Du bist Irdisches und Himmlisches zugleich. Komödie und Tragödie in einem«, sagte der blond gelockte Honoré und berührte wie zufällig meine Finger, als er mir eine abgewaschene Pfanne zum Abtrocknen aus der Hand nahm. Ich habe Baptiste nie davon erzählt. Auch nicht, wenn er wieder einmal wütend in sein Atelier ging und ich mich über ihn ärgerte, weil er mich und June einmal mehr allein gelassen hatte – so wie in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen hatte sich Junes Zustand weder gebessert noch verschlimmert. Und als Baptiste, umringt vom fröhlichen Lachen der anderen Männer, zu uns heraufkam, glaubte ich, in Junes Augen sogar ein Leuchten zu sehen, da sie sich kurz aufsetzte und mich fragte, warum die Männer so ausgelassen seien. Ich konnte ihre Frage nicht beantworten und sah stumm aus dem Fenster.

Der Morgen an diesem klaren Sommertag war sehr sonnig. Die Luft war frisch und kühl, und die Gipfel der Berge trugen noch ihren rosafarbenen Glanz des Sonnenaufgangs. Die Täler lagen im Nebel, der sich an manchen Stellen in einem grandiosen Schauspiel aufzulösen begann und die Landschaft dahinter zeigte.

»Du wirst es nicht glauben, Schatz!«, rief Baptiste völlig außer sich zu mir, als er mich am Fenster stehend entdeckte. Dabei humpelte er so ungelenk wie ein zu groß geratenes Kind. »Du wirst nie erraten, wen Jinji bei seinem Morgenspaziergang getroffen hat! Illimité mit Madame! Sie wohnen im krummen Haus.«

»Phantastisch«, sagte ich und klatschte in die Hände, obwohl ich nicht wusste, wer Illimité und diese Frau, die Baptiste »Madame« nannte, waren.

»Sie kommen zum Frühstück. Sie haben von uns gehört. Sie waren in der Nähe und wollten das Bergell kennenlernen. Ist das nicht großartig?«

»Ist es, mein Schatz«, sagte ich. »Übrigens geht es June besser, denke ich«, rief ich ihm noch zu, obwohl ich wusste, dass er mir nicht mehr zuhörte.

Nachdem ich die Fensterläden geschlossen hatte, deckte ich June noch einmal richtig zu und empfahl ihr, noch ein wenig zu schlafen. Wenn das Frühstück vorbei war, wollte ich wieder nach ihr sehen. Ihr Husten wäre dann sicher besser, versicherte ich ihr und legte ihr kleines Stoffpferd, das in der Nacht aus dem Bett gefallen war, in ihre zitternden Arme.

Die Männer stürmten in das Chalet, und in der allgemeinen Aufregung war ich froh, dass ich mich in die Küche zurückziehen konnte, da ich in der Nacht aufgrund von Junes Husten nicht viel geschlafen hatte. Üblicherweise bereitete ich neben den gebratenen Eiern in der Pfanne auch eine Mischung aus Haferflocken, Joghurt und frischen Früchten zu, die ich mit Honig, Nüssen und Kastanienmousse vermengte. Da es sich bei Illimité und Madame offensichtlich um wichtige Persönlichkeiten handelte, schnitt ich dünne Scheiben von den Resten des Bündnerfleisches ab – ein luftgetrocknetes Rindfleisch, das Baptiste in der Vorwoche aus Stampa mitgebracht hatte – und legte sie auf mehrere Brote. Sollten sich Illimité und Madame als starke Esser herausstellen, konnte ich immer noch meine Pizzoccheri zubereiten, ein Pastagericht mit Kartoffeln, Grünkohl, Käse und Knoblauch, das vor allem Honoré so liebte. Dazu brühte ich Kaffee, der das ganze Chalet mit seinem Duft in Beschlag nahm, als plötzlich die Tür aufsprang und ich Illimité zum ersten Mal sah.

Illimité war mit seinen vierundzwanzig Jahren um zwei Jahre jünger als ich. Er sah aus, als wäre er aus der Zeit gefallen und würde einer alten Adelsfamilie entstammen. Illimité hatte eine schmächtige und zierliche Statur und war sehr gepflegt und elegant gekleidet. Er hatte helle Augen und blonde Haare, die er mit einem einfachen Haarreif zurückgebunden trug. Sein schmales Gesicht mit dem scharfen Kinn wirkte verträumt, fast ein wenig zurückgeblieben.

Ganz anders war Madame, ein offensichtlicher Künstlername. Sie war einen Kopf größer als Illimité, aber ebenfalls schlank und sehr anmutig. Ihr ovales Gesicht beherbergte große leuchtende Augen und ein offenes Lächeln. Sie hatte dunkle, lockige Haare und einen hellen Teint. Sie trug ein rotes Kleid mit einem weißen Schal um den Hals, den sie über ihre Schultern geworfen hatte. Ihr Haar war hochgesteckt, und in der Hand hielt sie eine Rose, die sie vermutlich auf dem Weg zum Maiensäß gefunden und gepflückt hatte.

Madame war das blühende Leben, und Carpenter, Gotarama, Fichtenberger und Abies verschlug es die Sprache, als sie sie in der Tür stehen sahen. Selbst Baptiste war von ihr angetan und hatte Mühe, dies vor mir zu verbergen.

Ich schämte mich für meinen Aufzug – ich trug nur eine schlichte Leinenhose und eine weiße Bluse – und ärgerte mich, dass ich nicht mehr geschlafen hatte. Sicherlich sah ich müde aus. Schnell fuhr ich mit der Hand durch meine Haare, strich sie zurück und hoffte, dass ich das Feuer, das sonst im mir kochte, mit einem kleinen Strahlen anfachen konnte. Doch meine Angst, dass ich unseren Gästen als farblose Hausfrau entgegentreten würde, verflog in dem Moment, als Illimité auf mich zustürmte und mich mit einer kleinen Verbeugung begrüßte.

»Es ist mir eine große Ehre, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, sagte er und erntete daraufhin verdutzte Blicke seiner männlichen Kollegen.

»Illimité ist der Verfasser der fünf Oden«, sagte Gotarama und freute sich sichtlich über den Besuch des jungen Literaturgenies in unserem Chalet.

»Die fünf Oden?«, fragte ich selbstbewusst, schüttelte Illimités Hand und gab damit zu erkennen, dass ich von ihnen noch nichts gehört hatte.

Illimité lächelte mich an, denn ihm gefiel offensichtlich meine Ehrlichkeit, sodass er mir den Inhalt seines Werkes kurz zusammenfasste. »Wir brauchen in der Zukunft fünf Lobgesänge, die unsere Herzen erfassen sollen, damit wir als Menschen mutig in die Zukunft gehen. Diese Oden sind die der Natur, der Technologie, der Liebe, der Freiheit und der Spiritualität.«

»Die Ode der Liebe?«, fragte ich neugierig nach.

»Kennen Sie Novalis, den großen Dichter der Romantik? Die Hymnen der Nacht? Sie handeln von einer Liebe zu einer unerreichbaren Frau. Heute könnten seine Hymnen der Nacht auch auf andere Formen der Liebe und Beziehung eingehen, wie zum Beispiel die Liebe zur Familie, zu Freunden oder zu sich selbst.«

»Ich verstehe«, sagte ich und sah zu Boden, da ich spürte, wie Illimités Geist in mich eindrang und ich errötete.

»Doch zurzeit arbeitet Illimité an einem neuen Roman, wie ich gehört habe«, mischte sich Baptiste ein und stellte sich zwischen mich und den fast schüchtern wirkenden Mann.

»Die weißen Hirsche«, sagte Illimité und trat einen Schritt zur Seite, um mir wieder ins Gesicht sehen zu können. Ohne dazu aufgefordert zu werden, erzählte er die Geschichte seines noch nicht geschriebenen Buches. »Die Handlung soll mit der Kindheit meiner Heldin beginnen, mit ihrer Liebe zur Poesie. Sie begegnet einem geheimnisvollen Reisenden, der ihr von einem unerreichbaren Land erzählt, das von einer Königin regiert wird und nur über den Weg der weißen Hirsche erreichbar ist. Meine Heldin beschließt, dieses Land zu suchen, und trifft auf ihrer Reise auf verschiedene Menschen, die ihr helfen und sie auf ihrer Suche begleiten. Doch im Grunde geht es um eine Suche nach Identität, dem Streben nach Schönheit, Sinn und Wahrheit«, schloss Illimité.

Madame klatschte in die Hände und reichte Illimité ihre rote Rose. »Über den Titel sind wir uns noch nicht einig«, sagte sie, wobei sie mir einen kurzen feurigen Blick zuwarf. »In meinem Literatursalon in Mailand nennen wir Illimité auch il traghettatore, der – wie sagt man? – Menschen im Boot über einen Fluss auf die andere Seite bringt. Und wir sind sicher, dass ihm der richtige Titel einfallen wird«, sagte Madame lachend und blickte zu den anderen Männern, die an ihren Lippen hingen.

»Il traghettatore also?«, fragte ich und sah Illimité an.

»Der Fährmann, wenn sie so wollen«, lachte der schüchterne Mann und bemerkte nicht, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte.

Nach einem kurzen Schweigen setzten wir uns alle an den Tisch, und sowohl Illimité als auch Madame sahen sich mit großen Augen in unserer »Bibliothek unter dem Himmel« um, wo unsere Bücher bis zur Decke den Essraum umschlossen. »Faszinierend«, sagte Illimité. »Ich sehe, Sie interessieren sich wie ich für Mathematik, Biologie und Physik.«

Fichtenberger zog seinen Schlapphut nach vorne, nickte und sagte, dass Wissenschaft auch wunderbare Heilkräfte besitze, was ihm den Beifall unserer Gäste einbrachte.

»Wie Opiate und LSD«, sagte Illimité und sah verschwörerisch zu Madame, die verstohlen dem etwas abseits sitzenden Honoré zuzwinkerte.

»Im Grunde ist alles Schöpfung und Kunst. Wissenschaft, Malerei, Schriftstellerei. Ja selbst diese neue Form von Computerprogrammen, an denen experimentiert wird.«

»Alles ist eins«, rief Fichtenberger und gab Illimité recht.

Ich hob ein Tablett mit Broten und Schüsseln auf den Tisch und stellte eine Kanne Kaffee daneben.

»Warum setzen Sie sich nicht zu uns?«, fragte Illimité.

»Elia ist gerne in der Küche. Sie ist die Seele unseres Kreises. Sie kümmert sich um alles. Was täten wir nur ohne sie?«, fuhr Baptiste dazwischen und wusste gar nicht, wie sehr ich mich über seine Worte ärgerte.

»Ich kann auch denken, wenn ich stehe«, sagte ich und wandte mich mit einer Antwort Illimité zu. »Ich glaube, dass sich eines Tages die Natur unserem Willen fügen wird. Vorausgesetzt, wir schaffen es, uns als Teil von ihr zu sehen und poetisch zu denken.«

»Ein gewagter Gedanke. Somit werden Sie zu einer Göttin!«, sagte Illimité.

»Mit meiner Vorstellungskraft bin ich das bereits. Tag für Tag. Auch in der Küche.«

Gelächter flutete den Raum, und ich hörte June von oben husten.

»Aber Sie haben recht. Die Poesie führt zur Wahrheit. Je poetischer, desto wahrer«, sagte Illimité. Kurz darauf verdunkelte sich sein Gesicht, als würde er an einen alten Schmerz denken. »Wenn wir begeistert sind, machen wir uns auf den Weg zur Wahrheit. Aber uns muss bewusst sein, dass die Begeisterung die Farbe der Nacht in sich trägt. Erst wenn wir die Nacht in uns entdeckt haben, die auch am helllichten Tage über uns kommen kann, werden wir die Wahrheit erkennen und beginnen, die Dinge zu hinterfragen«, sagte er.

»Il traghettatore ist überzeugt, dass es einen Auslöser braucht, um seine wahre, originelle Stimme zu entdecken«, sagte Madame.

»Einen Auslöser?«, fragte Carpenter, der sich mit seinem karierten Hemd neugierig nach vorne lehnte und ein Brot vom Teller zog.

»Ja, nennen Sie es die ›große Krise‹. Es gibt kaum einen Künstler, der diesen Auslöser nicht kennt. Er ist fast immer eine Krise, die etwas in Bewegung setzt. Und je öfter wir den kreativen Zyklus durchlaufen, umso wahrscheinlicher kommt dieser Auslöser und mit ihm die große Chance originärer Kreativität.« Illimité sah mich mit leuchtenden Augen an. »Es ist der Tod, der uns gesund macht«, sagte der junge Künstler mit offenbar bebendem Herzen. »Meine Damen, meine Herren«, ergriff er wenig später erneut das Wort und erhob sich. »Hatten die Menschen der Aufklärung die Vernunft als Weg zur wahren Menschlichkeit gefunden, so leuchten wir wie einst die großen Romantiker in eine andere Welt. Der Traum wird die Welt, und die Welt wird der Traum. Und der Tod ist der Fährmann zwischen diesen beiden Welten.«

Mir schauderte, als ich Illimités Worte hörte, da sie eine Art neuen Zauber in die Welt brachten.

»Das bedeutet, dass wir das Gewöhnliche so lange herausfordern müssen, bis wir den Tod darin entdecken, der uns die Welt des Außergewöhnlichen zeigt«, schloss Illimité. »Den Auslöser und somit den Übergang in die andere Welt.«

»Auf unser drittes Prinzip«, skandierte Gotarama. »Die Wahrheit ist wichtiger als das Richtige.«

»Auf unser Manifest«, fielen die anderen mit ein und hinterließen bei Illimité und Madame kurz fragende Gesichter. Nur ich blieb still, da Junes Husten immer schlimmer wurde.

»Und auf den Tod, der uns heilt«, sagte schließlich der Fährmann und blickte mit einem ernsten Gesicht zu mir, als wüsste er, was in wenigen Stunden passieren würde.

26

Nach dem Frühstück führte Baptiste unsere Gäste über das Maiensäß und zeigte ihnen stolz unser kleines Künstlerdorf. Ich blieb zurück und kümmerte mich um June. Erst als sie eingeschlafen war, ging ich nach unten und setzte mich auf die Bank. Von dort konnte ich nicht nur beobachten, wie Baptiste die Gruppe wie ein Fremdenführer durch unser kleines Reich geleitete, sondern auch jederzeit bei June sein, wenn ihr Husten wieder stärker wurde.

Nachdem die Gruppe die Chalets von Carpenter, Gotarama und Fichtenberger auf der anderen Seite des Maiensäß besucht hatte, war sie zum Waldrand unterhalb unseres Chalets gegangen, wo Honoré Abies mit großen Gesten seine Werkstätte öffnete, die er liebevoll seinen »Tempel« nannte. Von unserem Chalet aus glich Abies’ heilige Stätte eher einer mit Moos bewachsenen Scheune als einem kreativen Ort.

Danach gingen sie zum Zentrum des Maiensäß: Baptistes Atelier. Ich hörte einige Gesprächsfetzen, die der würzige Wind zu mir trug. Darin war vor allem Baptistes Stimme, die stolz erzählte, dass er das runde Gebäude mit eigenen Händen nach dem Vorbild des berühmten Engadiner Pavillons auf der Pariser Weltausstellung 1900 hochgezogen hatte.

Baptiste schlüpfte in die Holzschuhe neben der Holzbank, die vor dem kreisrunden Gebäude mit seinen blau bemalten Innenwänden stand. Mit erwartungsvollem Gesicht öffnete er die Tür und bat Illimité und Madame, in sein Heiligtum zu treten, wo die Schatten seiner Skulpturen auf erste Bewunderer warteten. Doch zu seiner Verwunderung schlug Illimité vor, dass Madame und die anderen sich sogleich im Atelier umsahen. Er selbst wollte für einen Augenblick allein auf der Bank Platz nehmen und den wunderbaren Ausblick genießen. Enttäuscht willigte Baptiste ein und führte die Gruppe in das vom gestreiften Sonnenlicht durchflutete Atelier. Er bemerkte nicht, dass dies für Illimité nur ein Vorwand war, da er in Wahrheit die Zeit nutzte, um zurück zu unserem Chalet zu gehen und mit mir ein paar Worte zu wechseln, ohne die lehrhafte Begleitung der anderen.

»Sie haben hier ein Paradies geschaffen«, sagte Illimité und setzte sich zu mir. »Wahrlich ein zweites Jena.«

Ich freute mich über das Kompliment. In Wahrheit freute ich mich aber nicht über die Worte des jungen Künstlers an sich, sondern darüber, dass Illimité erkannte, dass ich die treibende Kraft hinter allem war. »Sie sind eine wahre Muse für die Männer, die Sie um sich scharen. All die kreativen Leistungen, die Gedanken, die Werke: Sie hätten ohne Sie vermutlich nie das Licht der Welt erblickt.«

Ich sah zu Illimité, der dicht neben mir saß, und versank in seinen Augen, die mir tief in die Seele blickten.

»Die Künstler, die sich hier versammelt haben, sind wie Männer, die ein Stück Land beanspruchen und nun Pflöcke in die Erde rammen. Sie aber sind der Fluss, der durch das Land fließt und den trockenen Boden bewässert und in fruchtbare Felder verwandelt.«

»Das ist nett von Ihnen«, sagte ich und wischte meine Hände in die Schürze, die ich vergessen hatte abzunehmen.

»Gotarama hat mir erzählt, dass Sie malen?«

»Wenn ich Zeit dafür finde, ein wenig«, sagte ich und sah, ohne es zu wollen, zur alten verfallenen Kirche und zu den Ställen, die hinter Illimités Schulter am oberen Rand des Maiensäß wie stille Beobachter im Abseits standen.

»Dort oben in dieser wackeligen Kirche ist Ihr Atelier?«, fragte Illimité, der meinen Blick richtig gedeutet hatte.

»Es ist kein richtiges Atelier. Nicht so wie das von Baptiste. Ich bin nur manchmal dort oben und male ein wenig. Hier lebte vor lange Zeit eine Sekte, die einem Signur folgte. Sie hat diese Kirche erbaut. Und obwohl sie so schief ist, hat sie den vielen Stürmen getrotzt, die hier in den Bergen durchziehen. Mir gefiel diese Standhaftigkeit, deshalb fand ich es reizvoll, dort im Schatten der Männer zu malen.«

»Die unsichtbare Künstlerin.«

»Wer bin ich verglichen mit den anderen großen Namen hier? Gotarama, Carpenter, Fichtenberger, Abies. Mein Mann Calberg. Und jetzt auch Sie. Ich bin nur ein kleines Licht hier.«

»Aber Sie sind ein Licht.«

Ich schwieg.

»Wollen Sie mir einen Einblick in das Atelier einer unsichtbaren Künstlerin gewähren?«

»Ich habe früher mehr gemalt. Viele Bilder. Aber ich habe noch kein richtiges Werk. Es sind eher Fragmente.«

»Ich liebe Fragmente. Sie stellen eine Verbindung zwischen der Kunst und dem Leben her. Zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, zwischen dem Menschen und der Natur. Es ist wie in der Chemie, wo zwei Elemente eine neue Verbindung eingehen können.«

Ich errötete und vermied es, Illimité anzusehen, obwohl ich ihn am liebsten für seine Worte geküsst hätte.

»Ich will dem Gemeinen einen tieferen Sinn geben, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein. So romantisiere ich die Welt«, sagte Illimité und blickte über die weite Bergwelt.

»Das haben Sie schön gesagt.«

»Das ist nicht von mir, sondern von Novalis.«

Ich schwieg einen Moment, ließ meine Arme sinken und berührte, ohne es zu wollen, die Hand von Illimité, die dort geduldig auf mich gewartet hatte. »Fragmente sind unvollständig. Ich liebe die Unvollständigkeit. Sie lässt dem Betrachter Raum für seine Vorstellungskraft und Phantasie«, sagte ich schließlich. »Durch die Unvollständigkeit wird der Raum dazwischen in unserer Vorstellungskraft erst sichtbar.«

»Zeigen Sie mir diesen Raum dazwischen?«, fragte Illimité, und ich spürte mein Herz unter meiner schlichten Bluse.

Plötzlich erklang die Stimme meines Mannes wie ein Donner an einem warmen Sommertag. Er hatte die Führung durch sein Atelier beendet. Ich warf Illimité einen kurzen Blick zu und sagte leise, fast flüsternd: »Später. Vielleicht später.«

Illimité nickte und sah mich dabei an, als hätten wir beide zwischen den Zeilen ein heimliches Rendezvous vereinbart. »Nichts ist dem Geheimnis des Weltalls näher als die Kunst«, flüsterte jetzt auch er, und ich spürte, wie sich meine Seele in das unsichtbare Boot setzte, das der traghettatore für meine Überfahrt sanft ans Ufer geschoben hatte.

Als Illimité meinen Mann sah, der mit den anderen auf uns zukam, sprang er auf und rief ihnen mit lauter Stimme entgegen. »Wahrlich, das ist der Garten Eden der Kunst! Jetzt wollen wir daraus eine Religion destillieren, die wie ein Opiat alles noch reizender macht, ein Opiat, das unsere Schmerzen und Schwächen stillt und uns endgültig zu Göttern macht!«

»Und zu Göttinnen«, ergänzte Madame, die sich bei Baptiste eingehängt hatte, mit einem breiten, erwartungsvollen Lächeln.

»Und zu Göttinnen«, wiederholte Illimité und sah dabei zu mir und verbeugte sich mit einer adeligen Körperhaltung, die in seinem Blut zu wallen begann.

»Ein Opiat?«, fragte Abies und bemerkte ebenso wie mein Mann die Zuneigung, die Illimité für mich empfand.

»Wir haben heute Nacht das krumme Haus für uns allein. Wir haben Freunde geladen. Es sind viele wichtige Leute dort. Viele einflussreiche Leute. Es würde mich freuen, wenn auch Sie alle kämen«, sagte Illimité.

»Das krumme Haus? Im Lovero-Graben?«, fragte Fichtenberger. »Ich habe mich immer gefragt, was es mit dem Haus auf sich hat.«

»Sie werden es herausfinden, wenn Sie heute Abend kommen.«

Fichtenberger nickte freudig und signalisierte stellvertretend für alle anderen, dass sie gerne seiner Einladung folgten.

»Ich kann leider nicht«, sagte ich leise und wusste nicht, ob mich außer Illimité jemand gehört hatte, da die anderen Männer und Madame einen guten Steinwurf von uns entfernt standen.

»Es ist ein Love-in der Göttinnen, es wäre unverzeihlich, wenn Sie nicht kämen«, sagte Illimité und sah mich erwartungsvoll an.

»June ist krank. Sie braucht mich.«

»Aber June hat auch einen Vater, nicht wahr?«, sagte der junge Mann und blickte zu Baptiste, der schweigend in der Gruppe stand. »He, Baptiste, Sie gewähren Ihrer liebevollen Frau doch diesen Ausflug über die Schwelle, habe ich recht?«

Baptiste wusste offenbar nicht, was er antworten sollte, da er nicht glauben konnte, dass er auf June aufpassen sollte, während ich für eine ganze Nacht in einen für ihn unsichtbaren Raum verschwand.

»Dann haben wir eine Abmachung? Heute im krummen Haus, wenn die Sonne hinter dem zerklüfteten Horizont verschwindet und das feurige Rot in eine Handvoll Finsternis greift«, sagte Illimité und fixierte Baptiste mit einem herausfordernden Blick.

Mein Mann hatte sichtlich Schwierigkeiten damit, sich von einem so schmächtigen jungen Bürschchen, das Illimité in diesem Moment in seinen Augen darstellte, herausfordern zu lassen. Aber als sich auch alle anderen Augen auf ihn richteten, nickte er schließlich und sagte: »Ich werde mich um June kümmern. Natürlich.«

Genau an der Grenze zwischen Italien und der Schweiz lag das krumme Haus. Das zweistöckige Gebäude mit seinen grauen Schieferschindeln und dem flachen, abfallenden Dach war eingezwängt in der schattigen Furche des gespenstisch wirkenden Talgrabens. Von der Ferne sah das Haus aus wie ein Karton mit kleinen Fenstern und ein wenig schiefen Wänden, was ihm seinen Namen eingetragen hatte.

Das krumme Haus war im Besitz eines zwielichtigen Mailänder Unternehmens, dem Verbindungen zur ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, nachgesagt wurden. Doch konnten ihm Kontakte zum Crimine Scognamiglio nie nachgewiesen werden.

Die ’Ndrangheta wurde nicht von einem einzigen Oberhaupt vertreten, sondern von einer Gruppe mächtiger Führungspersönlichkeiten geleitet, den Crimini. Die Crimini bildeten eine Art Führungsrat, der die strategischen Entscheidungen der Organisation traf und über Disziplinarmaßnahmen gegen Mitglieder entschied, die gegen die Regeln der Organisation verstoßen hatten. Die Mitglieder der Crimini waren mit der Organisation oft seit vielen Jahren verbunden und in der Regel Teil von Familien, in denen man auf die Blutsverwandtschaft schwor. Der Einfluss und die Macht jedes Crimine variierte stark und hing von vielen Faktoren ab – der Größe und Stärke der Familie, ihrer Fähigkeit, Gewalt anzuwenden, oder ihrem Talent, politische und wirtschaftliche Macht zu erlangen.

In den letzten Jahren wurde dem Mailänder Unternehmen vorgeworfen, in Grenznähe zwielichtige Etablissements unter dem Vorwand zu betreiben, sie seien Veranstaltungsorte für Kunst und Kultur. Diese Einrichtungen wurden »krumme Häuser« genannt.

Obwohl den krummen Häusern nie etwas nachgewiesen werden konnte, glaubten die Staatsanwaltschaften der Länder Italien, Schweiz, Frankreich und Österreich, dass diese Geschäfte von der Mafia betrieben wurden, die dort unter dem Deckmantel exzessiver Partys illegale Geschäfte tätigte. Die Vorwürfe reichten vom Schmuggel von Waffen, Tabak, Alkohol, Kleidung und Elektronik bis hin zum Menschenhandel, um Frauen zu Zwangsarbeit oder Prostitution zu zwingen. Neben der Geldwäsche und der Erpressung von Schutzgeld florierte vor allem der Drogenhandel in den krummen Häusern – so die ermittelnden Beamten. Zusätzlich zu illegalen Drogen wie Marihuana, Kokain und Heroin, die über die Grenze geschmuggelt wurden, um sie in anderen Ländern zu verkaufen, wurden von einigen Mafiafamilien auch neue synthetische Drogen in sogenannten »Heilstätten«, die in den Bergen versteckt lagen, hergestellt und über die krummen Häuser vertrieben.

Als ich mit meinem Gefolge von Gotarama, Fichtenberger, Carpenter und Abies durch den Wald über den schmalen Pfad in den Lovero-Graben hinabgestiegen war und schon aus der Ferne die fast magisch anmutenden rhythmischen Klänge hörte, die aus dem krummen Haus drangen, dachte ich eher an ein ausgelassenes Fest als an all die Gerüchte rund um diesen geheimnisvollen Ort, die in Castasegna, Soglio oder Stampa die Runde gemacht hatten.

Bei unserem Eintreffen öffnete Madame die Tür. Sie trug leuchtend bunte Kleidung mit Blumendekor und psychedelischen Mustern und schickte uns als Erstes in ein kleines Zimmer neben dem Eingang, wo wir eine große Garderobe mit den ausgefallensten Kleidern fanden. Madame, die unsere verwunderten Gesichter sah, folgte uns in die Umkleide und erzählte uns, dass Illimité für seine ausschweifenden und extravaganten Feste bekannt war, die er regelmäßig in seinem Atelier, seinem Haus in Wien oder an abgelegenen Orten wie einem krummen Haus veranstaltete, weil er den Reiz des Verbotenen liebte. Er wolle seine Gäste damit zwingen, die eingetretenen Pfade zu verlassen und neue Wege hinter der Schwelle zu finden, die er mit Drogen, Musik und Ekstasen zu überwinden versuche. Diese Feste seien eine Gelegenheit für Illimité und seine Freunde, ihre Kreativität und ihre Freude am Leben auszudrücken und zu feiern.

Meine Begleiter entledigten sich mit aufgeregtem Grinsen und tuschelnden Witzen ihrer dezenten Kleidung und schlüpften in breite Schlaghosen und weite Hemden mit Fransen, während ich mein Kostüm sorgfältig auswählen wollte. Ich entschied mich für einen bodenlangen Malerkittel aus wundervoll indigoblauem Leinen, auf das kleine weiße Hirsche gestickt waren, und dachte dabei an das unvollendete Werk, von dem Illimité mir erzählt hatte. Ich hatte so einen Kittel zuvor noch nie gesehen. Er war geschlechtsneutral und blickdicht. Da ich bemerkte, dass sich die anderen Gäste, die das krumme Haus betraten, teilweise freizügiger zeigten, entschied ich mich unter wildem Herzschlag, mich unter dem Kittel vollkommen zu entkleiden – ein Geheimnis, das ich aber niemandem verraten wollte.

»Du siehst aus wie eine Göttin«, sagte Honoré und streckte mir seinen Arm entgegen, in den ich mich einhaken konnte, bevor wir die Garderobe verließen und mit den anderen in den Hauptraum des krummen Hauses gingen.

Als ich den Raum betrat, konnte ich kaum Details wahrnehmen. Ich sah nur, dass er sehr aufwendig gestaltet war und viele exotische Dekorationen enthielt. Der schwere Duft von Kräutern und Patschuli lag wie ein Nebel in der Luft, die in der lauten Musik zu vibrieren schien. Überall tanzten Menschen und schmiegten sich in Ekstase aneinander, teils mit noch viel extravaganteren Kostümen, als wir sie in der Garderobe vorgefunden hatten. Überall standen luxuriöse Speisen und Getränke, und der Champagner schien in Strömen zu fließen.

Hinter einer Wand spielte eine Band Live-Musik, und Künstler schütteten rote Farbe über eine deckenhohe Leinwand. Die Farbe schien allerdings in Wahrheit Tierblut zu sein, wie ich aus dem plötzlich stechenden Geruch schloss.

»Das ist ein Ritual«, sagte mit einem Mal Illimité, der neben mir stand. Er trug einen schlichten weißen Anzug und ein Hemd, dessen oberste drei Knöpfe er offen gelassen hatte. »Der Künstler will uns den Tod nahebringen und uns damit den Weg zur Heilung zeigen.«

Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen, da die Musik der Band so laut war.

»Schön, dass du hier bist«, sagte Illimité und reichte mir die Hand.

»Elia«, sagte ich. »Und wie heißt du mit Vornamen?«

»Il traghettatore«, grinste Illimité. »Der Fährmann.«

Bevor ich antworten konnte, sah ich, dass überall Menschen mit Film- oder Fotokameras standen, die das Fest als eine Art Live-Performance festhalten wollten. Als mir auffiel, dass neben mir Kokain konsumierte wurde, wandte ich mich lächelnd Illimité zu. »Aber Drogen werde ich keine nehmen. Mir reichen die Bilder in meinem Kopf«, scherzte ich.

»Ich halte mich auch von zu viel Alkohol und Drogen fern. Meine Gäste sollen feiern. Ich muss nüchtern bleiben. Schließlich muss ich sie sicher ans andere Ufer bringen«, sagte der Fährmann, und ich wusste nicht, ob ich lachen sollte.

»Ich will, dass die Menschen wild und unkontrolliert sind. Ich will, dass sie über ihre Grenzen gehen und den Raum dazwischen betreten, wo sie ihre Intellektualität und Kreativität zum Ausdruck bringen«, sagte Illimité.

Ich blickte zu Gotarama und den anderen, die sich unter die Leute mischten und sich sogleich angeregt über ihre Werke unterhielten, während sich kaum bekleidete Frauen zu ihnen gesellten und sich rhythmisch zu den hypnotischen Klängen der Band bewegten.

»Meine Feste sind ein wichtiger Treffpunkt der künstlerischen Elite Europas. Die freizügige Atmosphäre ist dabei die Grundvoraussetzung, damit Tabus gebrochen werden. Ich will, dass sich die Menschen hier über die Dinge unterhalten, über die man draußen nicht sprechen darf.«

»Worüber darf man draußen nicht sprechen?«, fragte ich.

»Darüber, dass Sie eine wunderbare Frau sind. Eine Göttin, die, wenn sie freigelassen würde, die Welt verändern könnte.«

Ich spürte, dass ich rot wurde, und sah zur Band, die mit ihrer Musik meine Aufregung immer weiter aufpeitschte. Auf ein Zeichen von Illimité beendeten die Musiker mit einem Mal ihre Jam-Session, und ein asiatisch aussehender Sänger stimmte einen verführerischen Song an.

»Ja, es kümmert mich,

ob sie mir den Frühling bringt,

alles andere ist mir nicht wichtig.

Sie bringt den Regen,

o ja, sie bringt den Regen.

In der Dämmerung des silbrigen Tages

scheinen die Wolken wegzuschmelzen,

Zauberpilze aus Träumen.

Sie bringt den Regen.

So sanft gelb, alles Grau verschwindet,

fliegen auf den Flügeln des Raben.

Sie bringt den Regen,

o ja, sie bringt den Regen.

Es fühlt sich an wie Frühling,

Zauberpilze aus den Dingen.

Sie bringt den Regen,

o ja, sie bringt den Regen.«

Ich wippte im Takt und sang den Refrain mit, während ich spürte, wie Illimité mich von hinten berührte.

»Ich hoffe, die weißen Hirsche unter deinem blauen Himmelszelt führen mich ins Paradies«, flüsterte er mir ins Ohr.

»Ich habe nicht vor, meinen Mann zu betrügen«, sagte ich und sah, wie mich Honoré Abies auf der anderen Seite des Raumes mit ernstem Gesicht beobachtete. Unter dem großen Zylinder, den er trug, quollen seine blonden Locken hervor.

»Die erste Idee von mir selbst ist die Vorstellung als freies Wesen«, sagte Illimité und küsste mich auf den Hals. »Aber mit dem freien Wesen, das ich nunmehr bin, tritt zugleich eine ganze Welt hervor. Wie aus dem Nichts ist sie einfach da.«

»Hör auf damit!«, sagte ich und drehte mich zum Fährmann um, der mich mit halb geöffnetem Mund ansah.

»Du bist so wunderbar, Elia«, sagte, ja flüsterte er. »Entfalte dich in der magischen Aura, die dich umgibt. Beschütz deine wunderbare Geisterfamilie vor den dunklen Wolken und Stürmen, die von allen Seiten heranziehen.«

»Welche Stürme meinst du?«, fragte ich und genoss, dass Illimité meine nackten Brüste unter meinem Kittel berührte.

»Die Stürme, die in dir wohnen. Die Stürme unter dem Schatten der Männer, dort in deinem Jena. Der Sturm, der die Wolken vertreibt und den Auslöser aus seinem Versteck lockt. Er wird alles zerbrechen. Deine Routine aus Neugier, Eifer, Disziplin, Klarheit und deinem ständigen Experimentieren. Er wird alles zerbrechen. Euer Manifest. Es wird zu Staub zerfallen.«

»Du machst mir Angst.«

»Es ist deine Angst. Die Angst vor deiner eigenen Wahrheit.«

Ich schwieg und genoss seine Küsse und seine Hände, die immer weiter zu mir vordrangen.

»Sprich mir nach! Zerstör alles, hinterfrag alles!«, sagte Illimité in einem Mantra. »Zerstör alles, hinterfrag alles! Finde deine Wahrheit! Deinen Standpunkt. Erlöse den stummen Drachen in dir!«

Zerstör alles, hinterfrag alles.

In meinem Kopf drehte sich mit einem Mal die Welt um mich herum. Und als die Band ein neues Lied anstimmte und es wie in einer Endlosschleife wieder und wieder spielte, bohrte sich eine neue Songzeile in meinen Kopf.

Der Wahnsinn ist so rein wie der Mutterhimmel. Der Wahnsinn ist so rein wie der Mutterhimmel. Der Wahnsinn ist so rein wie der Mutterhimmel.

»Was ist der Preis des Lebens?«, fragte mich Illimité mit lustverzerrtem Gesicht. »Der Tod. Er wird dich heilen«, fügte er hinzu und zog mich langsam zur Seite, als wir über Stufen in ein Atelier im ersten Stock gingen, wo ich mich ihm hingab. Der Wahnsinn war so rein wie der Mutterhimmel.

Als der Fährmann in mich eindrang, sah ich vor meinem geistigen Auge eine weite Wüste, die aussah wie ein grauer Planet mit einem stürmischen Plateau, von dem eine geschlängelte Straße zu einem kleinen See führte. Hirsche standen dort und tranken. Sie waren groß und weiß. Ich war glücklich und zog Illimité, der auf mir lag, ganz fest an mich heran. Und ich wünschte mir, dass er wie ich die weißen Hirsche sehen konnte.

Aber ich war allein. Obwohl ich am Ende des Passes, den ich vor meinem geistigen Auge sah, einen Mann ausmachte. Er lag am Boden. Sein Kopf war nach unten gerichtet, als würde er in eine Höhle blicken. Seine Hüften vollzogen seltsame Bewegungen. Wütend. Als wollte er jemanden bestrafen. Ich setzte mich auf. Das Bild verschwand, doch der wütende Mann blieb. Es war ein Mann, der über einer Frau lag und zornig in sie eindrang. In ihrer Hand hielt sie eine rote Rose. Das laute Gebrüll des Mannes ließ den Kopf von Madame zur Seite kippen. Mit einem überlegenen Lächeln hielt sie meinen Blick fest.

»Was ist?«, schrie Baptiste. »Wo siehst du hin?«

Ich erstarrte zu einer Salzsäule, schob Illimité von meinem Körper und war mit einem Sprung bei Baptiste. Mit weit aufgerissenen Augen schrie ich ihn an. »Warum bist du hier? Wo ist June? Hast du sie allein gelassen? WO IST JUNE

27

Nachdem ich June frierend auf der Bank vor dem Chalet gefunden hatte, schloss ich sie in die Arme, so fest ich konnte. Ihr kleiner Körper war kalt und zitterte. Ihre Augen waren leer und starrten in den dunklen Horizont der Berge, die uns ohne Sterne umgaben. Wie hatte ich sie nur allein lassen können, wie hatte ich nur tun können, was ich getan hatte?

Ich pflegte June wochenlang, als sie plötzlich Fieber, Durchfall und Magenkrämpfe bekam. Obwohl ich mit Baptiste seit den Ereignissen im krummen Haus kein Wort gewechselt hatte, schickte ich ihn ins Tal, um einen Arzt zu holen. Alle waren besorgt um die kleine June. Carpenter, Fichtenberger und Gotarama halfen mir bei der Arbeit in den Chalets und stellten die Kunst für eine Zeit lang in den Schatten, in den sie mich zuvor gestellt hatten. Nur Honoré ließ sich nicht mehr blicken. Ich sah ihn bloß manchmal in der Früh, wenn er mit nassen Locken und durchnässtem Mantel von einem Spaziergang im Regen zurück in seine Hütte ging.

Als mir Illimité schrieb und nach dem Zustand der kleinen June fragte, log ich und schrieb ihm zurück, dass es ihr wieder besser ginge. Ich wollte vermeiden, dass er aus Sorge um mich und Junes Gesundheit wieder auf das Maiensäß kam.

Der Arzt aus dem Tal verschrieb June Bettruhe und meinte, dass Schonung und frische Luft ihr jetzt am meisten helfen würden. Ich sollte mich wieder den alltäglichen Dingen widmen, Gott würde meine kleine June heilen. Doch ich glaubte dem Mediziner nicht und weigerte mich, das Zimmer meiner Tochter zu verlassen.

In den nächsten Tagen stieg ihr Fieber immer mehr, und der Durchfall ließ nicht nach. Ich konnte nichts weiter tun, als ihre schweißnasse Hand zu halten und immer wieder ihre Haut mit einem Tuch trocken zu tupfen. Ihr kleines weißes Pferd legte ich ganz dicht neben ihren Körper, als könnte es sie beschützen. Schließlich öffnete ich das Fenster und zog ihr Nachtkleid aus, damit sie etwas abkühlen konnte. Ich hielt ihren Kopf, der immer wieder zur Seite kippte, und flößte ihr Wasser in den trockenen Mund.

June war immer bei mir gewesen, hatte mich durch die schweren Zeiten in Soglio nach dem Selbstmord ihres Vaters begleitet, und auch hier auf dem Maiensäß, als ich mit Baptiste ein neues Leben aufbauen wollte, hatte sie mir stets mit ihren treuen Blicken Kraft gegeben.

Die Tage vergingen, und June wurde immer schwächer. Gotarama, der immer wieder zu uns heraufkam, wollte sie nach Chur ins Krankenhaus bringen. Doch Baptiste war dagegen, weil er sich vor den Fragen fürchtete, die ihm die Ärzte dort wohl gestellt hätten. Und ich? Ich war zerrissen und wünschte mir, dass das kleine Pferd neben meiner armen kranken Tochter ein echter Schimmel wäre. Wir beide hätten es bestiegen und wären davongeritten, dorthin, wo man sie hätte heilen können. Weg von den Gespenstern und den Löchern, die sie in meine Welt rissen.

Sieben Wochen nachdem ich June krank auf der Bank vor dem Chalet gefunden hatte, schloss sie die Augen und wachte nicht mehr auf. Als Gotarama Träger besorgt hatte, um meine Tochter ins Tal zu bringen, war ihr Körper bereits kalt. Über mich brach ein schwarzer Nebel herein. Wie sollte ich nur einen einzigen Tag ohne June leben?

Vier Tage später wurde June in Soglio in jenes Grab hinuntergelassen, in dem bereits ihr Vater mit ausgebreiteten Armen in der Dunkelheit auf sie wartete. Gotarama, Fichtenberger und Carpenter waren in dieser Finsternis für mich da und hielten mich oft nur im Arm, während ich um meine Tochter weinte. Sie versuchten, mir Trost zu spenden. Baptiste hatte sich nach dem Tod von June in sein Atelier eingeschlossen und war nicht mehr herausgekommen. Nur manchmal sah ich ihn mit Honoré sprechen, der mit seinem blauen Mantel wie ein Geist Nacht für Nacht bis zum Morgengrauen durch die Wälder streifte.

Wir alle wussten, dass mit Junes Tod unser kleines Paradies hier auf dem Maiensäß sein Ende finden würde.

Drei Monate nach der Beerdigung brachte mir ein kleiner Junge mit feurigen Haaren einen Brief. Er war von Illimité. Darin fand er tröstende Worte für meinen Verlust und hegte tiefes Mitgefühl für meinen Schmerz. Er schrieb, dass er schon eher schreiben, ja sogar auch auf Besuch hatte kommen wollen, doch er kämpfe selbst mit einer Krankheit, die ihm seine Kraft raube. Am Ende des Briefes fand ich mit zittriger Hand geschriebene Zeilen, die mich tief berührten.

So tief der Schmerz auch in deinem Herzen sitzt, so bist du doch zum ersten Mal frei und unabhängig. Du gehörst zum ersten Mal nur dir selbst. Vielleicht solltest du dies nutzen und zu schreiben beginnen. Ein Werk, das deinem Geist entspringt und das deinen Namen trägt. Der Tod heilt. Nun hat er dich geheilt.

Als Caroline Schlegel, die geistige Mutter der Romantiker, einst in Jena ihren Roman mit dem Namen Lucinde geschrieben hatte, trat sie aus dem Schatten der Männer. Und auch wenn sie fortan von ihren einst treuen Gefolgsleuten wie Goethe, Schiller und Humboldt hinter vorgehaltener Hand Madame Luzifer genannt wurde, hatte sie doch ihre Stimme gefunden.

Caroline Schlegel konnte sich damals nicht durchsetzen. Aber du kannst es, Elia. Erhebe deine Stimme und werde zu Madame Luzifer! Werde zur schwarzen Königin!

Ich ging zurück in Junes leeres Zimmer und starrte auf den gezackten Horizont der Berge, der in einem trüben Herbsthimmel steckte. Illimités Worte klebten in meinen Gedanken. Du gehörst zum ersten Mal dir selbst.

Ich legte meine Hand auf meinen Bauch. Eine Träne lief über meine Wange. Draußen senkte sich die Nacht, und aus den Wäldern kroch der schwarze Nebel. Die Chalets blieben schwarz. Nur im Atelier von Baptiste brannte Licht. Es flackerte wie die Flamme einer Kerze.

Il traghettatore, der Fährmann, hatte mit so vielem recht. Womöglich mit allem. Aber in einer einzigen Sache hatte er sich geirrt. Ich gehörte mir nicht selbst. Ich trug die Erinnerung an das krumme Haus für immer in mir. Und als ich die Kerzen aus der Küche holte, zog ich mich aus, faltete meine Kleider ordentlich zusammen und legte sie auf Junes Bett neben das kleine weiße Pferd.

Ich schlüpfte ein letztes Mal in den bodenlangen Malerkittel mit den weißen Hirschen auf dem satten Indigoblau und trat wie eine Königin aus dem Schatten ans Fenster. Noch ein letztes Mal blickte ich auf unser kleines Paradies, unser kleines Jena, wo die Künstler unsichtbar in den Hütten saßen.

Ich rief Baptistes Namen, so laut ich konnte, in die Nacht. Der Mann, den ich so sehr geliebt hatte und der mir nach dem Tod von Peter einen Weg gezeigt hatte, war mein Schatten geworden.

Als Baptiste mein Rufen hörte und aus dem Atelier wankte, zögerte er einen Augenblick. Ich war mir sicher, dass er die Falle witterte.

»Ich will mit dir über das Manifest reden. Über das vierte und letzte Prinzip«, rief ich und zündete die Fackel an, die ich in meiner Hand hielt.

Das Feuer breitete sich schneller aus, als ich gedacht hätte. Und ich war mir sicher, dass der glühende Himmel bis weit hinunter ins Tal zu sehen war, während sich die Rauchsäulen wie Türme in den Himmel drehten.

»Verzeiht mir alle! Meine geliebte June, mein geliebter Fährmann, verzeih mir, du kleine, ungeborene Gloria in meinem Bauch, verzeih mir!«, sagte ich und starb neben Baptiste in dieser dunklen Flamme meines Herzens.

28

»Verzage nicht, tapferer Rosinante!«, rief Elia und klammerte sich um den dürren Rücken des alten Kleppers. Der stolperte mit steifen, zitternden Beinen über die schattigen Wurzeln des steilen Hanges und über den rutschigen Boden, der sich vor ihm in der Dunkelheit aufrichtete wie der Rücken eines riesigen zornigen Ungeheuers. »Wir werden Hilfe holen!«

Die von der Nacht feuchten Äste der dunklen Tannen am Nordhang peitschten Elia auf ihrer Flucht und hinterließen dunkle Striemen auf der einst weißen und überaus korrekten Reiterkleidung. »Viktor wird auf uns aufpassen und uns den Weg zeigen«, fügte sie hinzu. Vorne auf dem Sattel saß der kleine Stoffbär mit seinem schiefen Kopf und den großen ängstlichen Knopfaugen.

Der Mond hatte die Wolken vom Himmel geschoben und legte sein gespenstisches Licht über das lange Tal, auf das Elia immer wieder mit kurzen Blicken hinabsah, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte. Trotz seines Alters war Rosinante geschickter und schneller, als Elia gedacht hätte. Auf der anderen Seite des Tals kauerte eine riesige Felsenfeste am Berg, die von Elias Blickwinkel aussah wie eine in den Stein geschlagene Mauer. Das Mondlicht fiel daran herunter wie ein lautlos tosender Wasserfall aus bleicher Luft. Am unteren Ende der Mauer stand ein Zweibaum, ein krummer Baum mit zwei Ästen, der aussah wie ein großes Y.

Der Mond wirkte hier oben heller als im Tal, und Elia ärgerte sich, dass, würde jemand sie so antreffen, er sie für eine Landstreicherin hielte, so schmutzig war ihre Kleidung. Da weder Elia noch Rosinante den Weg kannten, folgte der alte Gaul seinem Instinkt und fand so einen scheinbar geheimen Weg durch ein dichtes Labyrinth aus tief hängenden Ästen und widerspenstigen, hoch gewachsenen Sträuchern. Und manchmal, wenn Rosinante über einen für Elia kaum sichtbaren schmalen Pfad wankte und sie sich auf dem Pferd ducken musste, um nicht von einem Ast aus dem Sattel gehebelt zu werden, hatte sie das Gefühl, als würde Pech zäh von den Bäumen auf sie herabtropfen.

Schritt für Schritt stieg Rosinante höher und höher, und seine Hufe gruben sich in den harten, gepressten Schnee vieler alter Winter. Es war gut eine Stunde vergangen, als das Pferd mit seiner Reiterin und dem Stoffbären, der nach weißen Hirschen Ausschau hielt, die Baumgrenze hinter sich gelassen und eine hohe stürmische Ebene erreicht hatte.

Beim Anblick der weiten Wiese verflog Elias Ärger über ihr Äußeres ein wenig, da sich hinter dem Grün ein wunderbarer Ausblick auf ein ihr unbekanntes Dorf öffnete, das im stillen Mondlicht friedlich glitzerte. Ein Stück dahinter lag ein kleiner See in einem Bombenkrater, auf einer Seite umgeben von einem Tannenwäldchen, vor dem eine rote, einsame Bank stand.

In dem Bemühen, sich zu orientieren, suchte Elia den Ort, an dem sie am Tag zuvor mit Rosinante schon einmal auf das Stuhleck geritten war. Sie folgte mit ihren Blicken einem kleinen Weg, der wie eine Schlange zu einer Art Pass führte. Der Ort erinnerte sie an die Beschreibungen, die sie im Buch über den magischen Ort Tannenfall gelesen hatte. Ein ihr bis dahin unbekanntes Gefühl beschlich sie, als sie im aufkommenden Wind einen gespenstischen Klang wahrnahm, als hätte ein Orchester aus kleinen Flöten und Triangeln auf sie gewartet.

Rosinante näherte sich dem See, in dessen Mitte eine kleine Insel mit einem von Bäumen umringten Häuschen im Schatten des Passes lag. Anscheinend hatte der alte Gaul nach dem beschwerlichen Aufstieg Durst und erhoffte sich am Ufer ein wenig Erfrischung. Obwohl es Elia immer mehr mit der Angst zu tun bekam, ließ sie Rosinante gewähren. Sie tätschelte seinen Hals, als er den Kopf senkte, um vom kalten, an manchen Stellen mit Eis durchsetzten Wasser zu trinken. Doch als Rosinante plötzlich wie von der Tarantel gestochen mit lautem Wiehern zurückwich, bemerkte Elia rasch den Grund für seinen Schrecken. Das Ufer des Sees war gesäumt von riesigen Hirschgeweihen. Sie waren haushoch und mit altem, windgepresstem Schnee bedeckt. Die Schädel waren so groß wie Höhlen, und die Rippen ähnelten gebogenen Fahnenstangen.

Elia versuchte, Rosinante zu beruhigen und ihm einzureden, dass nicht nur Elefanten zum Sterben an einen bestimmten Ort kämen, sondern auch Hirsche. Doch Rosinante fiel auf Elias Lügen nicht herein und torkelte ängstlich zurück. Dabei rutschte er an einer gefrorenen Stelle am Ufer aus und krachte mit dem Hinterteil des Körpers in den See.

Sofort war Elia bei ihm und versuchte, den alten Gaul aus dem Wasser zu ziehen. Doch sosehr sie sich auch bemühte und sosehr Rosinante auch versuchte, mit den Hinterbeinen Halt zu finden, so schwer wurde das Unterfangen, da der Klepper immer wieder von Neuem ausrutschte. Erst als Elia selbst ins Wasser stieg und mit aller Kraft Rosinante anschob, gelang es ihr, das Pferd ans rettende Ufer zu bringen.

»Du ruhst dich jetzt hier ein wenig aus«, sagte sie und streichelte Rosinante über die Stirn. Dabei bemerkte sie seine weit aufgerissenen Augen, als müsste er heftige Schmerzen ertragen. Und tatsächlich: Beim Sturz ins Wasser schien er sich ein Bein gebrochen zu haben. Dabei war Rosinante Elia sehr ähnlich. Denn da Pferde Fluchttiere waren, die dazu neigten, Schmerzen oder Unbehagen zu verbergen, um keine Schwäche zu zeigen, war es schwer, Anzeichen von Leiden zu erkennen.

Elia sah sich nach Hilfe um, doch der Pass und der weite Bergrücken waren menschenleer. Nur gewaltige Bergketten umringten den zugigen Ort.

Elia sah zur kleinen Insel und dem Haus darauf. In den Büchern, die sie gelesen hatte, hatte der Autor geschrieben, dass an dieser Stelle vier Schwestern vor der Schwarzen Familie Zuflucht gefunden hatten. Marlene Castor, Greta Erdsegen, Dorothea Almer und Leonora Khalberg. Doch diese Leonora, die der Schriftsteller zu einer Künstlerin gemacht hatte, glich ihr auf den ersten Blick nur wenig. Sie wurde als klein beschrieben, ein Meter sechzig wie Elia. Hübsch. Ihre Haut dunkler als die von Elia, da sie aus der Sonne zu kommen schien. Sie war vom Autor mit braunen Locken bedacht worden sowie mit einem wunderbaren Lächeln und besaß ein feuriges Temperament. Gleichzeitig wurde sie als oft unsicher und neugierig beschrieben. Anders als Elia trug Leonora gerne ein blumiges, intensives Parfüm und bevorzugte modische Kleidung.

Elia setzte sich neben Rosinante und fror. Ihre Reiterkleidung war völlig durchnässt und von oben bis unten mit schwarzem Schlamm überzogen, in den sie bei Rosinantes Bergung eingesunken war.

»Ich bin nicht so böse wie sie. Jakob hat nicht recht«, sagte sie mit einem Mal zu Rosinante, der sie nach wie vor mit großen Augen anstarrte. »Ich habe dem Kätzchen den Hals nicht zugedrückt. Und ich war auch immer eine gute Mutter und Ehefrau. Und auch Laura wollte ich doch nur beschützen. Sie ist noch jung und weiß nicht, wie gefährlich es ist, wenn man seine Gedanken fließen lässt, so frei und unbekümmert. Wenn man beginnt, Dinge zu hinterfragen. Ich bin nicht so wie meine Mutter. Ich war nie so. Deswegen habe ich die Leute auch weggeschickt, als sie fast fünfzig Jahre nach Baptistes Verschwinden zu mir kamen und von einem Erbe erzählten. Zuerst dachte ich, sie würden wegen Baptistes Vermächtnis zu mir kommen. Weil sie nach all den Jahren seine verweste Leiche vielleicht irgendwo gefunden hätten. Seine alte Familie in Stampa hatte nach dem Feuer die Suche nach ihm schließlich nie aufgegeben. Niemals hätte ich gedacht, dass sie wegen ihr kämen. Meine Tante hatte sie nie erwähnt, obwohl ich mir sicher bin, dass sie mehr wusste, als sie zugab. Meine Mutter war keine gute Frau. Eine Teufelin. Sie war anders als ich. Aber jetzt sollte alles mir gehören, sagten sie. Das ganze Vermögen und auch die Forschungsergebnisse, die sie im Lager gesammelt hatte. Sie hatte sie weggesperrt bis zu ihrem Tod.«

Elia sah in Richtung Osten, wo der Horizont mit einem zarten gelblichen Streif auf die Sonne wartete. Obwohl noch tiefe Nacht war und der Morgen erst in einer Stunde aus seinem Versteck kommen würde, schloss Elia die Augen und nahm durch die Nase sechzehn tiefe Atemzüge. Sie hatte Mühe, ihren Kopf freizuhalten, wie sie es über die vielen Jahre in ihrer Morgenroutine auf dem Maiensäß gelernt hatte. Aber am Ende dieser Nacht fiel es ihr schwer, sich nur auf ihren Atem zu konzentrieren, der von den sanften, vom Wind über den See gezogenen Wellen begleitet wurde. Nach dem letzten langen Atemzug versuchte Elia, sich zu erheben. Sie wollte zur roten Bank gehen, um sich zu strecken und sich von den Strapazen der letzten Tage mit ein paar Kniebeugen und Liegestützen erholen. Aber sie hatte keine Kraft mehr.

Elia drehte den Kopf und blickte zum See, wo sie Viktor auf dem Wasser treiben sah. Sie stand mit einem großen Ächzen auf, stieg zurück ins Wasser und rettete mit ausgestrecktem Arm den kleinen Bären aus den Fluten. Sein Kopf war zur Seite gekippt und hing nur noch an ein paar Nähten am schlaffen nassen Körper. Elia setzte den kleinen Bären ans Ufer und legte seinen Kopf, so gut es ging, auf den schlaffen Körper, der immer wieder zusammensank.

»Ich war noch nie am Meer, weißt du das?«, sagte sie zu ihrem sterbenden Pferd, das ganz dicht neben ihr lag und dessen Herzschlag langsam in das Wasser des Sees übertrat, wo es in kleinen Wellen an den Strand schlug.

»Der dritte Teil von ›Tannenfall‹ spielt in Italien. An der Amalfiküste. Direkt am Meer. Ich hätte es gerne gelesen. Aber jetzt kann ich das nicht mehr.«

In dem Augenblick begann es zu schneien. Der Schnee fiel aus der großen Nacht, die sich über Elia und ihren Gefährten ausbreitete.

»Wir haben nur diesen kleinen Strand hier. Und schau doch!«, rief Elia. »Unser Strand ist dafür etwas ganz Besonderes. Auf unserem Strand liegt Schnee«, sagte sie zu Rosinante. Doch seine Augen bewegten sich nicht mehr. Und auch das rasselnde Fauchen seines Atems war verstummt. Das alte Streitross von Elia Leonora Khalberg stand in dieser Nacht nicht mehr auf. Es war im Schatten des Hirschfriedhofes gestorben, den es nur in Elias Gedanken gegeben hatte. So wie die Insel und das Häuschen darauf, in dem sie gemeinsam mit ihren Schwestern gegen das Böse kämpfte.

Und als der Mond hinter Wolken verschwand und das Licht mitnahm, das die große Bühne von Tannenfall ausgeleuchtet hatte, verschwand auch die Hoffnung, dass Elia in dieser eisigen Dunkelheit jemals den Fährmann finden würde. Voller Trauer schloss sie mit der flachen Hand die toten Augen von Rosinante.

Viktor saß regungslos mit seinem schiefen Kopf und den kleinen Knopfaugen am Strand und starrte in Elias trauriges Gesicht.

»Hätte ich dich nicht mitgenommen aus dem Buchladen, wäre vieles vielleicht nicht passiert. Ich hätte meinen Kopf wieder freigehalten, und die Gespenster wären nicht hineingekrochen. Wahrscheinlich wäre Laura noch hier. Und Gloria. Und ich wäre niemals mit diesem armen kranken Kranach auf diese verrückte Reise gegangen. Und Jakob hätte mir niemals vorgeworfen, einem kleinen Kätzchen die Kehle zugedrückt zu haben. Wer weiß, vielleicht steckst auch du mit den Gespenstern unter einer Decke?«

Elia schwieg und sah eine kleine blaue Blume, die im neuen Mondlicht über den See durch die Schneeflocken schwebte. »Ich hätte die Gespenster nicht wieder in meinen Kopf lassen dürfen«, sagte sie.

Der nasse und schmutzige Bär saß am Strand und schwieg.

»Aber das ist jetzt auch einerlei. Es gibt keine Gespenster mehr. Auch nicht den Weg der weißen Hirsche, die einem stillen Rhythmus folgen und über den von Türmen bewachten Königsweg in die andere Welt ziehen. Auch diesen Hirschfriedhof hier gibt es nicht, er ist nur da, weil ich ihn mir vorstelle, weil ich es in den Büchern gelesen habe, in denen es nur so von Gespenstern wimmelte. Ich hätte nie darin lesen dürfen.«

Elia blickte zum Ufer des kleinen Sees, wo die hohen Rippenbogen ebenso verschwunden waren wie die riesigen Geweihe. Und je mehr sie sich umsah, umso klarer wurde ihr Blick, und sie fand sich mit einem Mal wieder an der Stelle, an der sie am Vortag mit Rosinante auf das Stuhleck geritten und umgekehrt war, als sie Kranach am Schutzhaus gesehen hatte.

Alles war verschwunden, was sich Elia vorgestellt hatte: der See mit seinen sanften Wellen, das kleine Häuschen hinter den raunenden Bäumen, der verschlungene Weg zum erhöhten Pass, ja selbst der Pass selbst war verschwunden. Was blieb, war eine Mulde, die eine Bombe im Zweiten Weltkrieg in die Alm gerissen hatte und an deren Rand der Kopf des toten Rosinante in den alten Schnee einer vergangenen Zeit ragte. Und umgeben vom surrenden Geräusch großer Windräder, die mit ihren langen Blättern schwarze Luft aus der Nacht schaufelten, saß die alte, trauernde Elia Khalberg da, in der Hand einen kleinen, schmutzigen Teddybären mit einem zur Seite gekippten Kopf. Sie hustete, und ihre Lippen waren blau von der eisigen Kälte, die der Schnee mitgebracht hatte.

Doch bevor Elias Augen für immer zufielen, sah sie noch einmal zu Viktor, der ihr als stummer Zeuge die Beichte abgenommen hatte.

»Hättest du mir die weißen Hirsche gezeigt, hätten wir vielleicht den Fährmann gefunden«, sagte sie leise zu dem kleinen Stofftier und riss mit einen kurzem Ruck den Kopf vom Körper des Teddybären.

»Es ist der Tod, der uns gesund macht«, sagte die alte Elia mit ihren letzten Worten und dachte an einen jungen Künstler mit bebendem Herzen, den sie vor vielen Jahrzehnten einmal auf dem Maiensäß getroffen hatte. Und als Elia Leonora Khalbergs Hand lautlos neben ihren leblosen Körper in den ersten Schnee fiel, der das Stuhleck mit einem weißen Totentuch bedeckt hatte, griff ein neugieriger Wind nach der letzten blauen Blume. Im sterbenden Schimmer des Mondes schwebte sie vom See hinweg über die tote Elia und ihren bis zum Schluss treuen Rosinante und glitt in einem anderen Licht in eine Welt, die in Elias Augen mit ihrem letzten Herzschlag verschwunden war.

Sie spürte nicht mehr, wie ein großer Hirsch mit einem weißen, von Schnee bedeckten Fell ihre Hand leckte, bevor er weiter über die Alm zog, bis ihn niemand mehr sehen konnte. Auch nicht Merten und Kranach, die mit den Scheinwerfern der Polizisten vom Schutzhaus nach einer verrückten Alten auf einem klapprigen Pferd suchten.