Eingesperrt
Von William Shick
Die Zelle ist dunkel, erleuchtet nur vom schwachen Licht des Fackelscheins, das durch das schmale, vergitterte Fenster in der dicken Eisentür fällt. Unter anderen Umständen würde ich vielleicht den Bedarf nach einer Tür hinterfragen, die mehr dazu geeignet scheint, einen Warjack zurückzuhalten als einen Menschen, aber ich weiß, dass die Stärke der Tür nicht für mich gedacht ist. Sie ist für das gedacht, was mit mir in dieser Zelle ist.
Als wären sie von meinen Gedanken aufgeschreckt worden, kehren die Stimmen zurück. Ihr Flüstern gräbt sich in meinen Geist wie Würmer durch feuchte Erde. Ich lege die Hände über die Ohren, verzweifelt darum bemüht, sie auszusperren, aber sie gehorchen nicht den physikalischen Gesetzen der Welt.
So viele flüsternde Stimmen. Ich kann sie gar nicht alle zählen. Es ist, als würde man in der geschäftigsten Stunde über die Markstraßen von Korsk wandern. Einige dieser Stimmen sind rau und krächzend, wie ein Messer, das über Granit kratzt. Andere sind beinahe klagend. Ihr Tonfall ist langsam und monoton. Wieder andere heulen mit dem Zorn der Verdammten. Diese sind die schrecklichsten. Ihre Stimmen sind so erfüllt von Todesqual und Zorn, dass mir der Klang körperliche Schmerzen bereitet.
Als ich das erste Mal in diese Zelle gesperrt wurde, war das Flüstern noch nicht da. Ich wurde im Dunkel zurückgelassen, mit nichts außer meinen eigenen Gedanken und der unglaublichen Trauer um alles, was ich verloren hatte. Ich, Dmetri Ramanova, war einst der Sohn einer wohlhabenden Kayazy-Familie. Jetzt blicke ich auf meine Kleider herab, dieselben, die ich am Tage meines Urteils getragen hatte. Einst waren es feine Gewänder, die meinem Stand angemessen waren. Jetzt sind sie kaum besser als die Fetzen, die von den Bettlern in Korsk getragen werden.
Ich weiß nicht, wie lange ich saß, allein in der Stille der Dunkelheit, ehe die Graufürsten kamen, um meine Strafe zu bringen, meine Qual. Ich blicke auf den schattenhaften Gegenstand in der Mitte des Raumes. Ich beuge meinen rechten Arm und das vertraute Rasseln der schweren Kette, die von meinem Handgelenk hängt, hallt durch die Zelle. Angefacht von dem Geräusch wird das Geflüster lauter.
Komm zu uns. Befreie uns von diesem Ort.
»Lasst mich in Frieden«, stöhne ich durch aufgesprungene Lippen.
Meine Stimme ist schwach nach … Wochen? Monaten?
Wir können dir helfen, wenn du uns nur lässt. Gib uns Stärke.
»Nein …
Dich zu ihr zurück bringen.
Das Bild von Natasha blitzt durch meinen Verstand. Ich sehe sie an unserem Hochzeitstag. Die Sonne des Nordens leuchtet hinter ihr, ihre Porzellanhaut passt zu ihrem Hochzeitskleid.
»Lügner«, knurre ich. Die glückliche Erinnerung verschwindet unter dem Zorn. Es ist ein Zorn, der aus Frustration erwachsen ist. »Verschwindet, verderbte Teufel!« rufe ich. »Lasst mich in Frieden.«
Die Stimmen lachen. Du wirst keinen Frieden finden.
Ich kann sie nicht verbannen, und sie wissen es. Ein dröhnendes Summen beginnt im Grunde meines Kopfes zu pulsieren, wo der Schädel auf das Rückgrat trifft.
Warum widersetzt du dich uns?
»Ihr habt mir nichts anzubieten.« Das Summen wird lauter. Ich schüttle den Kopf und versuche mich davon zu befreien.
Oh, wir haben viel anzubieten.
Das Summen wird überwältigend stark. Es fühlt sich an, als würde sich mein Gehirn in Gelee verwandeln und aus meinen Ohren laufen. Meine Augen pulsieren in ihren Höhlen. Ich presse die Hände an die Schläfen, falle auf den kalten Boden und krieche von den Geräuschen fort, bis sich mein Rücken an die Steinmauer der Zelle presst.
»Hört auf«, bettle ich. »Hört auf! Hört auf!«
Es ertönt ein lautes Klopfen von Holz gegen Holz. Eine Stimme, schwer vor Autorität, erklingt. Ich erschrecke, als ich begreife, dass sie nicht aus meinem Kopf kommt.
»Wenn der Angeklagte sich nicht beherrschen kann, werde ich ihn gewaltsam fesseln lassen! Jetzt stehen Sie auf und wagen Sie es nicht, dieses Gericht noch einmal zu unterbrechen!«
Ich öffne die Augen und ich kann nicht glauben, was ich sehe. Ich bin nicht mehr in der Zelle. Ich bin in einem großen Gerichtssaal. Drei Offiziere sitzen vor mir auf einem erhöhten Podium.
Ich erkenne den Ort, aber es kann nicht wahr sein …
Ich wende mich um und lasse den Blick über die kleine Gruppe von Zuschauern hinter mir gleiten. Ich sehe Natasha und mein Herz springt in meiner Brust. Ihre Augen sind rot und verquollen, aber sie ist trotzdem in meinen Augen so schön wie eh und je. Ich verspüre den verzweifelten Wunsch, zu ihr zu gehen, aber mein Körper reagiert nicht. Meine Füße sind wie festgefroren, als der oberste Richter weiterspricht.
»Dmetri Ramanova, dieses Tribunal befindet Sie der Versäumnis Ihrer Pflicht und der Verantwortung am Tode Ihres befehlshabenden Offiziers für schuldig.«
Panik erfüllt mich, als ich begreife, was geschieht. Irgendwie bin ich wieder zurück in meiner Verhandlung. »Nein, Sie verstehen mich nicht! Ich war es nicht!« Ich weine.
Ich höre Natasha schluchzen und wende mich um, um zu sehen, wie sie auf mich zuläuft. Zwei hässliche Wachen fangen sie ab, ehe sie zu mir kommen kann. Einer von ihnen nutzt die Gelegenheit, um mit der Hand über ihre zarte Gestalt zu gleiten. Zorn erfüllt mich, aber meine Glieder reagieren nicht.
»Eine solche Schande«, zischt eine Schlangenstimme hinter mir.
Ich drehe mich um und sehe das Gesicht von Gregor Ivar. »Sorge dich nicht, Dmetri«, sagt er. »Ich werde dafür sorgen, dass Natasha gut versorgt ist.« Sein Lächeln zeigt deutlich, was er damit meint. Er wollte sie immer für sich selbst. Es hat ihn rasend gemacht, als sie sich für mich entschieden hatte.
»Du!« rufe ich. »Du warst es, der mich reingelegt hat!« Plötzlich sind meine Glieder wieder frei von der dunklen Magie, die sie gehalten hat. Ich springe nach vorne, die Hände ausgestreckt, um das Leben aus dem Teufel zu würgen, der mir alles genommen hat, weil ich etwas hatte, das er nicht haben konnte. Mein Leben wurde mir geraubt wegen der Eifersucht eines erbärmlichen Mannes.
Gregor lacht, tief und manisch, als sich meine Hände um seine Kehle schließen.
Die Vision schwindet und ich sehe, dass meine Hände nicht um Gregors Kehle gelegt sind, sondern um den Griff der gewaltigen Todesklinge in der Mitte des Raums. Das zähnefletschende Gesicht auf dem Knauf starrt mich an.
Wir können dir alles geben, was du willst, selbst die Dinge, von denen du gar nicht weißt, dass du sie willst.
Ich weiß, ich sollte die verfluchte Klinge loslassen und so weit weglaufen, wie möglich, aber ich halte die Hände fest um den abgenutzten Ledergriff geklammert. Ich denke wieder an Natasha, aber dieses Mal sind die Gedanken nicht fröhlich. Ich erinnere mich an die lasziven Hände des Wachmanns und an Gregors Worte. Mehr Visionen füllen meinen Kopf, Visionen, die die Klinge mir geschenkt hat.
Ich schreie. Ich renne jetzt, stürme über eine grasbedeckte Ebene. Mein Atem klingt schwer in meinen Ohren und ich begreife, dass es daran liegt, dass ein großer Helm meinen Kopf und mein Gesicht bedeckt. Ich bin von Hunderten von anderen mächtig gebauten Kriegern umgeben. Wir alle stürmen vor.
Mein Körper fühlt sich anders an, stärker. Ich fühle, wie dicke Muskelstränge meine Beine und Arme pumpen, während ich nach vorne rase. Die Klinge ist auch bei mir, in meiner Hand. Ich sehe sie an und verspüre weder Abscheu noch Angst. Ich fühle nur Stärke. Mit der Klinge bin ich unbesiegbar.
Ich sehe vor mir eine Reihe von Männern. Ihre Kleider sind wahllos und zusammengeflickt. Sie sind von einer Machart, die ich niemals zuvor gesehen habe. Auch wenn ich sie nicht erkenne, weiß ich doch, dass diese Männer meine Feinde sind. Als wir uns nähern, erheben sie unglaublich archaische Gewehre.
Donner ertönt und die ganze Reihe wird von dickem Rauch umhüllt, als die Männer ihre erste Salve abfeuern. Ich spüre mehr als dass ich es sehe, wie die Krieger, die mich umgeben, fallen. Aber ich laufe weiter. In der Spanne eines Herzschlags bin ich zwischen meinen Feinden, schwinge die Todesklinge weit herum, trenne Glieder und Köpfe von Leibern. Das rhythmische Heben und Senken der Klinge ist wie klanglose Musik in meinen Ohren. Irgendwo tief in mir verstehe ich, wer diese Männer und Frauen sind. Ein kleiner und schrumpfender Teil von mir fährt bei der Erkenntnis zusammen, aber ich zermalme ihn, denn ich weiß, was er wirklich ist.
Schwäche.
Ich bin wieder in meiner Zelle. Meine Hand ist so fest um den Griff der Todesklinge geschlossen, dass meine Knöchel weiß geworden sind. Mein Körper fühlt sich so lebendig an, so voller Stärke. Das Flüstern walzt über mich hinweg wie beruhigende Wellen. Sie umhüllen mich wie die Umarmung einer Geliebten.
So viele Stimmen, aber jetzt machen mir die geifernden Gesichter, die in die Klinge graviert sind, keine Angst mehr. Ich kenne sie alle. Ich grinse, dann werfe ich meinen Kopf zurück und heule, vereine meine Stimme mit den ihren.