Blutschwestern
Von Oren Ashkenzai
Ein kalter Wind wehte durch den Witwerwald. Er trug die süßen Gerüche von Wachstum und Verfall mit sich. Unter dem Geruch des Sumpfs war auch der Gestank von Sprengpulver und ungewaschenen Farrow auszumachen. Prelen atmete tief durch, als sie den Geruch wahrnahm. Die Beute war nah.
Sie konnte hören, wie sie langsam durch den Wald schlichen und sich leise gegenseitig angrunzten. Für eine Blutjägerin der Tharn hätten die Farrow ihre Position genauso gut laut schreiend verkünden können.
Prelen spürte die anderen, die sie umgaben, in den Bäumen und auf dem Boden. Sie konnte die mächtige Gestalt ihrer älteren Schwester Mysha vorne mit Ledren sehen, der Anführerin ihrer Schar. Mysha hatte die Ehre, die erste Kundschafterin zu sein. Prelen war fast ganz hinten. Die kleine Prel , dachte sie, deren Wurfspeere nur töten, anstatt sauber die Beute zu durchschlagen wie die ihrer Schwester.
Sie konnte die Farrow jetzt sehen. Ihre zusammengewürfelten Rüstungen und klobigen Gewehre hoben sich deutlich gegen das Grün und Braun des Waldes ab. Sie reisten in einer kurzen Kolonne, zwei nebeneinander, was für Zielstrebigkeit sprach. Das überraschte Prelen. Die Schweinebriganten waren normalerweise schlecht organisiert und selten drangen sie so weit ins Gebiet der Tharn vor. Etwas Wichtiges musste sie dazu gebracht haben, ein solches Risiko einzugehen. Sie packte ihre Wurfspeere fester und schlich nach vorne. Ihre bemalte Haut verschmolz mit dem Wald. Die Farrow würden nur wenig Zeit haben, um ihr Eindringen zu bedauern.
Die Tharn schwärmten aus, um die zahlreicheren Farrow zu umzingeln. Auf Ledrens Signal hin würden sie Wurfspeere auf den Feind herabregnen lassen, um die Farrow abzuschlachten, ehe sie sich auch nur wehren konnten. Sie wartete, mit dem Wurfspeer in der Hand, doch dann schlug der Wind um und trug einen neuen Geruch heran. Er war wie der der Farrow, aber stärker, urtümlicher. Prelen hatte keine Zeit, über den neuen Geruch nachzudenken. Vor ihr brach Mysha mit einem kreischenden Kampfschrei aus der Deckung und spurtete nach vorne. Ihre Kampfkrallen blitzten im scheckigen Licht. Ein halbes Dutzend weiterer Blutjäger folgte ihr nach. Ledren versuchte, sie zurückzurufen, ehe sie zu kämpfen begannen. Keine von ihnen hörte zu.
Die Farrow kreischten alarmiert auf. Einige nahmen die Gewehre von den Schultern, andere holten die schweren Keulen hervor. Mysha erreichte sie in einem Wirbel aus Stahl. Einen weidete sie mit ihrem ersten Schlag aus, dann schwang sie sich herum, um ihre Klauen in den zweiten zu versenken. Die Farrow zogen sich um sie zusammen, doch die anderen Blutjäger waren ebenfalls in den Nahkampf gegangen.
Was ein effizienter Hinterhalt hätte sein sollen, war nun ein chaotischer Kampf. Blutjäger und Farrow prallten im blutigen Handgemenge aufeinander. Der Feind war in der Überzahl, und, was noch schlimmer war, das Überraschungsmoment war verloren.
Prelen blieb unten und ging dem Nahkampf aus dem Weg. Sie kniete sich neben einen toten Farrow, dem ein Wurfspeer aus der Kehle ragte. Ein schweres Netz war um die Taille des Leichnams geschlungen. Prelen untersuchte einen anderen Leichnam. Sie fand ein identisches Netz und schwere Haken, an denen die beiden Netze miteinander verbunden werden konnten. Der Farrow hatte auch einen triefenden Sack voller Eingeweide über eine Schulter geworfen. Er verströmte einen beißenden Gestank, der meilenweit Aasfresser anlocken würde. Es war deutlich, dass die Farrow selbst auf der Jagd gewesen waren, und allem Anschein nach auf der Jagd nach großer Beute.
Die Geräusche von Gewehrfeuer und panischem Quieken verklangen. Prelen stand rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Mysha mit ihren Klauen dem letzten Farrow die Kehle aufschlitzte. Sie hob den blutigen Handschuh hoch, was zustimmendes Geheul der anderen Jägerinnen auslöste.
Mysha deutete mit einer roten Hand auf ihre Schwester. »Ich habe dich nicht gesehen. Hattest du Angst, dass dich die Schweine beißen?«
Prelen sagte nichts. Sie beugte sich nach unten und hievte eines der Netze der Farrow hoch. Es bestand aus schweren Kettengliedern, die stark genug waren, um eine große Bestie zu halten. Sie bemerkte, dass die anderen Blutjäger still geworden waren, als sie aufblickten. Ledren, ihre Anführerin, lag auf dem Boden. Ihr Blut bildete eine Pfütze auf dem Boden. Zwei Schüsse der Farrow-Gewehre hatten ihren Körper durchschlagen. Die Blutjäger versammelten sich um ihre gefallene Anführerin, als ihr Leben in den Boden sickerte. »Blut für den Wurm«, flüsterte sie und rührte sich nicht mehr. Zwei weitere Tharn-Leiber waren schnell neben ihr aufgebahrt.
Die Tharn standen schweigend über ihren Toten. Minuten vergingen, bis Mysha das Schweigen brach. »Ledren hat uns gut geführt. Schneidet das Fleisch von unseren Gefallenen, so dass die Bestien des Wurms sich an ihrer Stärke laben können.«
Sie sprach voller Stärke und Zuversicht. Die anderen folgten ihrem Befehl. So was es unter den Tharn: die Stärksten führten, die übrigen folgten.
Prelen überraschte sie alle, als sie sprach. »Du kannst nicht führen, Mysha.«
Mysha versteifte sich und ihre Hand krümmte sich unter ihrer Kampfklaue zu einer angespannten Faust.
»Du bist schnell und stark, aber du denkst nicht nach«, sagte Prelen. »Hättest du Ledren gehorcht, hätten wir die Farrow aus dem Hinterhalt töten können. Deine Fehler werden uns alle umbringen.«
Mysha sprang Prelen an. Ihre Klauen schnitten durch die Luft. Prelen machte einen Satz zur Seite und spurtete davon. Hinter ihr war von den anderen Blutjägern nichts zu hören, aber sie wusste, dass sie folgen würden, um die Herausforderung zu beobachten.
Prelen griff einen niedrig hängen Ast und schwang sich hoch in die Baumkronen. Sie kletterte höher und Mysha folgte ihr. Sie sprang von Ast zu Ast.
»Eine Chance, Prel«, rief Mysha. »Beuge das Knie vor mir und ich werde dir nicht den Hals aufschneiden.«
Die Blätter teilten sich lautlos vor Prelen und sie sah ihre Schwester direkt unter sich. Sie stand auf einem dicken Ast. Prelen atmete tief durch und sammelte die Macht des Wurms in sich. Der sumpfige Wald, der sie umgab, wurde schärfer, die Farben nahmen einen lebhaften Fokus an. Sie roch wieder den starken, farrowartigen Geruch. Mysha hatte sie nicht gesehen. Sie hob ihren Wurfspeer und warf ihn mit aller Stärke, die sie aufbringen konnte.
Mysha wirbelte herum und fing den Wurfspeer aus der Luft ab. Dann sprang sie Prelen an. Die Bewegung überrumpelte die kleinere Tharn. Sie sprang zurück und ließ sich fallen. Sie schlug hart mit ihrem Arm und ihrer Schulter gegen die niedrigen Zweige, ehe sie ihren Sturz nahe des Bodens abfangen konnte.
Ein Wurfspeer schlug in den Baumstamm neben Prelens Kopf ein. Über ihr hatte Mysha einen weiteren Wurfspeer in der Hand. Prelen fiel zu Boden und rannte davon, ehe ihre Schwester das Wurfgeschoss schleudern konnte. Mysha war stärker und schneller. Prelen musste die Regeln des Wettkampfs ändern.
Sie ignorierte den instinktiven Wunsch, sich umzudrehen und zu kämpfen. Prelen lief langsamer, um den Wald abzusuchen. Sie suchte nach Zeichen. Die Farrow hatten etwas Großes gejagt. Der Boden war schlammig unter ihren Füßen.
Vor sich sah sie einen Baumstamm, an dem große Rindenstücke abgerissen worden waren, wie von gewaltigen Hörnern oder Klauen. Prelen lächelte und rannte schneller. Sie folgte der Fährte der Markierungen an den Bäumen.
Sie konnte Mysha nicht mehr sehen und war nicht überrascht, als ihre Schwester aus dem Unterholz vor ihr explodierte. Ihre Klauen schnitten durch die Luft.
Prelen parierte den Hieb, dann sprang sie davon und rannte. Myshas Schritte waren kurz hinter ihr.
Vor ihnen wurde das sumpfige Unterholz dichter. Dornen und Sträucher drängten auf den Weg. Der Gestank des Sumpfes wurde ebenfalls stärker. Prelen konnte darunter auch einen starken, sauren Geruch ausmachen, den Geruch, nach dem sie gesucht hatte. Sie rannte schneller, sprang über einen Flecken schwarzer Erde, der sich langsam hob und senkte.
Mysha folgte und trat auf den schwarzen Fleck. Ihre Augen weiteten sich, als sie raues Fell unter ihren Füßen spürte. Der Boden erbebte und explodierte in einem Regen aus Schlamm und Zweigen nach oben und warf Mysha um. Mit einem quiekenden Brüllen erhob sich der große Keiler aus seiner Suhle. Es war eine gewaltige Schweinebestie, doppelt so hoch wie die Tharn. Ihr missgestalteter Kopf war mit langen Hauern bewehrt, die in rasiermesserscharfen Spitzen endeten.
Prelen kletterte zurück in die Bäume, drehte sich um und sah, wie Mysha wieder auf die Beine kam, um nach hinten auszuweichen, fort von dem Toben des großen Keilers. Ihre Schwester zog und schleuderte einen Wurfspeer in einer geschmeidigen Bewegung. Die Waffe versank tief im Fleisch des Keilers. Er grunzte, doch wurde er nicht langsamer. Er warf seinen Kopf von Seite zu Seite und erwischte Mysha mit einem Streiftreffer seiner Hauer. Blut floss Myshas Seite hinab und sie fiel fast zu Boden.
Die anderen Blutjäger versammelten sich in den Bäumen um Prelen. Sie wusste, dass keine Mysha helfen würde. Der Verschlingerwurm duldete keine Schwäche jedweder Art. Ihre Schwester hatte die schweren Äste, die nackten Bäume und den starken Geruch des Keilers nicht bemerkt. Jetzt hatte sie die Folgen zu tragen.
Mysha wurde langsamer und entging gerade so den Angriffen des Keilers. Dann schleuderte sie ein wuchtiger Treffer zu Boden. Es würde bald vorbei sein.
Es war nun Zeit, dass Prelen handelte. Sie zog einen Wurfspeer und ließ sich direkt hinter dem großen Keiler zu Boden fallen. Sie zielte sorgfältig und warf. Der Wurfspeer prallte vom Schädel des großen Keilers ab. Er hinterließ eine gezackte Wunde über seinen Augen. Er wandte sich Prelen zu und stieß ein weiteres quiekendes Brüllen aus.
Blut floss ihm in die Augen, doch ungeachtet der Verletzung senkte der Keiler den Kopf und stürmte los. Prelen machte einen Schritt zur Seite, wich der geblendeten Kreatur problemlos aus, und ließ sie durchs Unterholz brechen.
Sie wartete einen Augenblick, um sicherzustellen, dass der Keiler verschwunden war, und ging dann zu ihrer Schwester. Mysha blickte auf. Ihr Gesicht war gleichgültig. »Mach es schnell«, sagte sie.
Prelen schüttelte den Kopf. »Du denkst immer noch nicht nach. Ich will nicht meine stärkste Jägerin töten.« Sie streckte die Hand nach unten und zog Mysha auf die Füße. Ihre Schwester sagte nichts, neigte aber den Kopf. Es war all die Anerkennung, die Prelen und die anderen Blutjäger, die sich um sie versammelten hatten, brauchten.
Die Geräusche des großen Keilers, der durch den Wald wütete, wurden lauter. Er kam auf die Tharn zu.
»Komm«, sagte Prelen und hob einen Wurfspeer. »Die Bestie Aller Gestalten hat uns heute mächtige Beute geschenkt, die wir jagen können.«