Wer Lateinkenntnisse hat, könnte auf die Idee kommen, dieser Ausdruck, der wörtlich ›vom Ei an‹ bedeutet, verweise auf den ewigen Streit, ob erst das Huhn oder erst das Ei da war. Die Fakten sind aber komplizierter – und interessanter. Eine Erklärung verweist zum Beispiel auf die ausgedehnten römischen Gastmähler, die mit Eiern begannen und mit einem Früchtegang endeten, also ab ovo usque ad mala dauerten – ›vom Ei bis zu den Äpfeln‹. Ein anderer möglicher Ursprung ist eine Stelle in der literaturtheoretischen Schrift »Ars Poetica« des römischen Dichters Horaz. Dort gilt als guter Autor, wer sofort in medias res (›mitten ins Geschehen‹) geht und seine Geschichte nicht ab ovo erzählt. Horaz bezieht sich dabei auf das Vorbild Homers, der in seiner »Ilias« die Geschichte des Trojanischen Krieges im neunten Jahr beginnt. Erst viel später erfährt der Leser, wie die kriegsauslösende schöne Helena und ihr Zwillingsbruder aus Eiern schlüpften, die ihre Mutter Leda geboren hatte, nachdem Zeus sie in der Gestalt eines Schwans geschwängert hatte.
In der Bedeutung ›von Anfang an‹ gelangte die Wendung ab ovo zu Beginn des 17. Jahrhunderts ins Deutsche. In der Übersetzung einer Sammlung von »Diebs-Historien« über »Beutelschneider« und ihre Spießgesellen des Franzosen François de Calvi steht 1627 der Satz: »Last uns anfangen ab ovo, vom Ey / wie die Latiner zu reden pflegen / und last uns die Historien von jhrem anfang recht erzehlen.«
Die Phrase ab ovo drückt jedoch nicht nur Gründlichkeit und Systematik aus, sondern kann – wie schon beim Dichter Ovid – ebenso allzu große Umständlichkeit beschreiben. In Gerhart Hauptmanns Drama »Die Ratten« etwa gehört sie zu den vielen lateinischen Wendungen, mit denen Harro Hassenreuter seine Rede würzt: Damit möchte der verkrachte Theaterdirektor seine Bildung herausstreichen, verrät sich aber unbeabsichtigt als verknöcherter Pedant.
In diesem Buch bildet ab ovo nicht nur alphabetisch den Auftakt. Die Redensart steht zugleich stellvertretend für all die lateinischen Wendungen und Mehrwortlexeme, die uns die Antike, das mittelalterliche Kirchenlatein und die Renaissance bescherten: Es sind so viele, dass sie dieses Buch leicht auf den doppelten Umfang aufblasen könnten. Sub specie aeternitatis wäre vielleicht wünschenswert, doch quod licet jovi, non licet bovi. Ich muss nolens volens auf sie verzichten, gewiss nicht sine ira et studio, aber es gilt nun mal auch hier: Habent sua fata libelli.