Hier haben wir es mit dem gar nicht seltenen Fall zu tun, dass ein Wort durch mehrere Fachsprachen wandern musste, bevor es in den allgemeinen Bildungswortschatz gelangte. Das lateinische Adjektiv brachialis gehörte zunächst der medizinischen Terminologie an und bedeutet bis in die Gegenwart ›zum Arm gehörig‹ im anatomischen Sinne. Es ist abgeleitet von lateinisch bracchium (›Unterarm, Arm‹). In der Übersetzung des Buchs über »Wundt-Arzney« von 1601 des bedeutenden französischen Chirurgen Ambrose Paré kann man sich zum Beispiel über »die Haut des brachialis oder obersten Gelencks der Hand« informieren.
Nach 1800 wurde dann in der Sprache der Juristerei auf Basis des lateinischen Adjektivs die deutsche Zusammensetzung Brachialgewalt gebildet. Wohl nicht ganz zufällig tauchte das Wort erstmals in Gesetzesquellen und Lexika Ungarns auf, wo man bis ins 19. Jahrhundert an Latein als Amtssprache festhielt, um keine der vielen Nationalitäten im Königreich, in dem selbst die Ungarn nur eine Sprachminderheit waren, zu benachteiligen. Das Wort bezeichnete die körperliche Zwangsgewalt, die die Polizei anwenden konnte. Zwar wird es schon 1888 im »Verdeutschungswörterbuch« des Allgemeinen deutschen Sprachvereins (ADSV) weiter gefasst als ›körperliche Gewalt‹ und als »österreichisch« erläutert. Doch bis ins 20. Jahrhundert blieb das Wort auf den Sinn ›Gewalt, die von staatlichen Stellen ausgeübt wird‹ beschränkt. So ist 1929 in Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« von der »Brachialgewalt der Herrschenden« die Rede. Im gleichen Jahrzehnt beklagten kommunistische Reichstagsabgeordnete mehrfach die Brachialgewalt der Schupos, von denen sie bei entscheidenden und hoch emotionalen Abstimmungen aus dem Saal geworfen worden waren. Nach 1933 liest man in NS-Quellen viel von der Brachialgewalt, mit der die überwundene Weimarer Republik angeblich den Nationalsozialismus hatte unterdrücken wollen.
Erst allmählich wurde das Wort dann auf rohe, rücksichts- und bedenkenlose Kraftanwendung im Allgemeinen übertragen. Der berühmte Opernsänger Leo Slezak spricht in seinen 1948 posthum erschienenen Erinnerungen »Mein Lebensmärchen« von der »Brachialgewalt der Möbelpacker«, denen er sein Hab und Gut beim Umzug anvertraut. Heute wird Brachialgewalt selbst in Bundestagsdebatten nur noch selten im alten juristischpolitischen Sinne gebraucht, sondern in erweiterter Bedeutung. Bezeichnend dafür ist eine Aussage der Grünen-Abgeordneten Angelika Graf, die im Oktober 2007 zur Gewalt gegen Frauen innerhalb von Partnerschaften erklärt: »Nicht nur Brachialgewalt, auch Worte können gewalttätig sein, können Menschen sehr verletzen.«
Von der Zusammensetzung Brachialgewalt ausgehend, nahm im 20. Jahrhundert brachial seine heutige allgemeine Bedeutung an und wurde Teil des Bildungswortschatzes; vorher taucht es seit dem 18. Jahrhundert nur gelegentlich in medizinischen Schriften als deutsche Variante des oben genannten brachialis auf. Karl Kraus verwendet das Adjektiv 1928, als er in der »Fackel« Menschen, die ihm anonyme Todesdrohungen schicken, entgegnet: »Mit einem gedruckten Fußtritt nur brauchte ich die tiefbürgerliche Erbärmlichkeit abzutun, die in der Problemstellung als solcher gelegen ist und zumal dort, wo die namenlose Feigheit an brachialen Mut appelliert.«