Im vorbiblischen Griechischen hatte das Wort eine weiter gefasste und weniger spezifische Bedeutung als heute. Charisma wurde dort im Sinne von ›Geschenk‹ oder ›Wohltat‹ gebraucht. Erst Paulus machte es zu einem religiösen Wort: Siebzehnmal steht das Wort im altgriechischen Ausgangstext des Neuen Testaments – ausschließlich in den Briefen des Apostels. Dort wird es zur Beschreibung einer besonderen, von Gott unmittelbar oder mittelbar verliehenen Gabe wie Heilkräfte oder Prophetie gebraucht. Aber es deutet sich schon an, dass Charisma auch etwas sein könnte, das durch die Instruktionen der Gemeinden gewissermaßen in Gottes Auftrag vergeben wird. Außerdem ist nicht mehr nur vom Charisma Einzelner die Rede.
In der Neuzeit wurde das Wort im 17. Jahrhundert zum theologischen Fachbegriff für eine individuelle, von Gott oder dem Heiligen Geist verliehene Begabung. Der keiner Polemik abgeneigte protestantische Theologe Johann Conrad Dannhauer spottet über das aus seiner Sicht angemaßte Charisma katholischer Priester: »Der Mund des HErrn selbst setzt einen gewissen Termin / wie lange solches Charisma wären soll.« Im 19. Jahrhundert verengten Theologen wie Adolf von Harnack den Bedeutungsgehalt auf außerordentliche, außeralltägliche, virtuose Gaben, besonders Wunderkräfte.
Die für den heutigen Gebrauch folgenreichste Neudeutung des Wortes stammt allerdings vom Soziologen Max Weber. 1922 definiert er in seinem Buch »Wirtschaft und Gesellschaft« die »charismatische Herrschaft« als »rein affektuell, durch bloße persönliche Neigung des Beherrschten« begründet. Er unterscheidet sie von zwei anderen Formen der Herrschaft: der legalen Herrschaft, die »durch zweckrationale Erwägungen von Vorteilen und Nachteilen seitens des Gehorchenden« bedingt sei, und der traditionellen Herrschaft, die »durch bloße ›Sitte‹, die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln« bestehe. Weber beschreibt in »Politik als Beruf« Charisma als
[…] die Autorität der außeralltäglichen persönlichen, die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum oder anderen Führereigenschaften eines einzelnen: ›charismatische‹ Herrschaft, wie sie der Prophet oder – auf dem Gebiet des Politischen – der gekorene Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben.
Seit Weber nimmt das Wort Charisma in Bezug auf Politiker einen mächtigen Aufschwung. Vor allem die Faszination, die Adolf Hitler auf große Teile des deutschen Volkes ausübte, wurde durch dessen Charisma erklärt. Dieses versuchen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon 1944 in ihrem im amerikanischen Exil verfassten Buch »Die Dialektik der Aufklärung« zu entmystifizieren, indem sie Hitler lediglich ein technisch produziertes Charisma zugestehen: »Das von der Religionssoziologie erfundene metaphysische Charisma des Führers hat sich schließlich als die bloße Allgegenwart seiner Radioreden erwiesen, welche die Allgegenwart des göttlichen Geistes dämonisch parodiert.«
Dennoch hielt auch der große Soziologe Norbert Elias an diesem Denkmodell fest. Sein Beitrag in einem »Spiegel Spezial«-Sonderheft zum hundertsten Geburtstag Hitlers 1989 trägt den Titel »Der charismatische Herrscher«. Heute ist Charisma längst etwas, das auch Popstars, Schauspielern und Sportlern zugeschrieben wird. Dies ist die letzte Konsequenz der »Veralltäglichung des Charismas durch Anpassung an die Bedingungen der Wirtschaft« in religiös weniger aufgeregten Gesellschaften, die schon Max Weber beobachtet hatte.