Chuzpe

Dies ist das Beispiel für eine der atemberaubendsten Aufsteigerkarrieren im deutschen Wortschatz: Aus dem Milieu marginalisierter Außenseiter, die verachtete und lange Zeit nur von Kriminalisten untersuchte Varietäten sprachen, stieg Chuzpe in den Bildungswortschatz auf. Zwar wird es in den Duden-Wörterbüchern, im DWDS und bei Wiktionary noch als »salopp« oder »umgangssprachlich« gekennzeichnet, doch der Linguist Gerhard Augst rechnet es in seinem Werk über Bildungssprache dieser Stilebene zu – und er hat recht. Chuzpe erfüllt heute die klassischen Voraussetzungen eines bildungssprachlichen Ausdrucks: Einerseits wird es von vielen genauso wenig verstanden wie manche Wörter aus dem Griechischen, Lateinischen oder Französischen. Andererseits verwenden Sprecher mit einem großen Wortschatz den Ausdruck, um eine Nuance auszudrücken, die ihrer Ansicht nach offenbar sinnverwandten Wörtern wie Unverfrorenheit, Dreistigkeit oder Unverschämtheit fehlt.

Chuzpe gelangte über das Jiddische ins Deutsche und lässt sich auf das Hebräische chuzpa zurückführen. Jiddisch ist bekanntlich eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene Sprache, die von aschkenasischen Juden gesprochen wird und vor dem Massenmord, den die Deutschen an dieser Bevölkerungsgruppe verübten, vor allem in Mittel- und Osteuropa weit verbreitet war.

Während viele Ausdrücke aus dem Jiddischen über das Rotwelsch, den Soziolekt nicht sesshafter gesellschaftlicher Randgruppen – Gauner, Bettler, Wanderhändler und -handwerker – ins Standarddeutsche kamen, war der Fall bei Chuzpe komplizierter. Hier spielte wohl eher eine Rolle, dass im 19. Jahrhundert zunehmend Publikationen jüdischer Autoren, die sich an ein breites Publikum wandten, auf Deutsch gedruckt wurden. Ein Beispiel ist der 1856 erschienene Roman »Auf dem Hradschin, oder Kaiser Rudolph II. und seine Zeit« des vom Judentum zum Katholizismus konvertierten Schriftstellers Eduard Maria Oettinger. Dieser legt einem Rabbi, dessen Tochter von einem jungen Christen belästigt wird, den Satz in den Mund: »Ihr seid ein großes Chuzpe ponim!« Erklärt wird der Ausdruck in einer Fußnote mit ›unverschämter Mensch‹. Ähnlich belegt schon 1832 Joseph Karl von Train in seinem Wörterbuch der Gauner- und Diebssprache Chuzpeponim als ›Naseweis‹.

Nichtjüdische Autoren bezogen Chuzpe zunächst noch als Imitation jiddischer Sprechweisen ausschließlich auf jüdische Verhältnisse – häufig mit antisemitischem Tenor, indem man den Juden unterstellte, dass Chuzpe eine ihrer typischen Charaktereigenschaften sei. Es wurde aber auch von Juden selbst in einem kritisch-abwertenden Sinn gebraucht, beispielsweise vom Reformrabbiner und Schriftsteller Adolf (Aron) Jellinek. Dieser schreibt 1869 über einen bestimmten Typus des intellektuellen Dilettanten: »Läßt er sich von den Sprichwörtern leiten: ›Chuzpe (Dreistigkeit) gilt mehr als baares Geld‹ und ›mit Chuzpe setzt man Alles durch‹, dann bringt er es sicherlich zum jüdischen Vorsteher und wird eine wahre Plage für die echte Bildung und das exacte Wissen.«

Seit dem 20. Jahrhundert wird Chuzpe – nachdem es eine Zeit lang noch überwiegend jüdischen Schriftstellern wie Karl Kraus und Lion Feuchtwanger oder aktuell Maxim Biller vorbehalten war – immer häufiger entleert von jedwedem Bezug zum Jiddischen verwendet, etwa bei Martin Walser. Der Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz beispielsweise bescheinigt dem ersten Kanzler der Bundesrepublik, dass dieser bei Normverstößen »mit großer Chuzpe und einer fast nachtwandlerischen Sicherheit wieder und wieder durchkam«. Auch in Publikationen wie der »Zeit« oder dem »Spiegel«, die der Autor Claus Koch einmal zu den »Intelligenzblättern« Westdeutschlands zählte, liest man das Wort nur noch als gewähltes Synonym für Dreistigkeit.