Dieses Wort ist ein geradezu klassisches Beispiel für eine zunehmende Bedeutungsverengung. Im Französischen und im Lateinischen, aus denen es schon im 16. Jahrhundert entlehnt wurde, kann decade beziehungsweise decas mit dem Genitiv decadis jede Zehnereinheit bezeichnen, also von Äpfeln oder Tagen oder im Sinne einer abstrakten mathematischen Rechengröße. So findet man das Wort etwa bei Leonhard Euler in seiner 1738 erschienene »Einleitung zur Rechenkunst«, in der der geniale Mathematiker unser dezimales Zahlensystem und den Umgang damit erklärt:
Da die Zahlen, welche zusammen gesetzet werden sollen, aus Unitaeten, Decaden, Centenariis, und so fort bestehen; so muß die Summ eben so viel Unitaeten und Decaden und Centenarios und so weiter in sich begreiffen, als die gegebenen Zahlen insgesamt in sich enthalten.
Im Mittelalter war eine Dekade zudem eine Maßeinheit für eine Papiermenge, die zehn Bogen umfasste. Und die überlieferten Schriften des römischen Historikers Titus Livius werden seit dem 5. Jahrhundert, als man sie erstmals in Buchform niederschrieb, in Dekaden genannte Abschnitte zu jeweils zehn Büchern eingeteilt. Diese Gliederung längerer Werke in Zehnerabschnitte übernahm man in der frühen Neuzeit auch für andere Autoren. Die Predigten des reformierten Theologen Heinrich Bullinger wurden zum Beispiel unter dem Titel »Decaden« in fünf Büchern zu je zehn Predigten zwischen 1549 und 1552 herausgegeben.
Im 18. Jahrhundert begann der Prozess der Bedeutungsverengung, in dem Dekade immer mehr auf die Bezeichnung von Zeitspannen reduziert wurde. Der Terminus konnte nun zehn Tage, zehn Monate oder zehn Jahre bezeichnen ebenso wie die zehntätige Woche im von 1792 bis 1805 gültigen revolutionären Kalender Frankreichs. In diesem Sinne liest man es bei Friedrich Christian Laukhard, der sich als verkrachter Student eine Zeit lang für das französische Heer verpflichtet hatte:
Am Ende jeder Dekade wurden wir ausgezahlt: jeder erhielt alsdann 22 Livres 10 Sous, und so war ich immer im Stande, nicht nur zu bezahlen, was ich indessen geborgt hatte, sondern es blieb noch so viel übrig, daß ich die Dekade bey Viennot, oder sonstwo ordentlich hinbringen, und Burgunderwein zur Genüge trinken konnte, wovon ich zwar jeden Tag etwas trank.
Doch schon Jean Paul nutzt das Wort 1793 auf eine uns ganz vertraute Weise in seinem Roman »Die unsichtbare Loge«, um das zu feiern, was wir heute Teenagerzeit nennen. Und die Stelle ist so schön, dass es eines der längsten Zitate dieses Buchs wert ist – selbst wenn es vielleicht eine Dekade von Minuten dauert, den Text zu lesen und zu verstehen:
Gustav war jetzt in der Mitte des schönsten und wichtigsten Jahrzehends der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nämlich. Dieses Jahrzehend des Lebens besteht aus den längsten und heissesten Tagen […]. Glücklicher Jüngling! in dieser Minute nehmen alle Grazien deine Hand, die dichterischen, die weiblichen und die Natur selbst und legen ihre Unsichtbarkeit ab und schliessen dich in einen Zauberkreis von Engeln ein. […] O sie kehrt niemals, niemals wieder, die zweite Dekade des armen Lebens, die mehr hat als drei hohe Festtage: ist sie vorüber, o so hat eine Todeshand unsre Brust und unser Auge berührt; was noch in diese dringt, was noch aus ihnen dringt, hat den ersten Morgenzauber verloren und das Auge des alten Menschen öfnet sich dann bloß gegen eine höhere Welt, wo er vielleicht wieder Jüngling wird!
Dieser Gebrauch in der Bedeutung ›Jahrzehnt‹ war wegweisend. Selbst wenn der Duden und andere Wörterbücher noch heute angeben, eine Dekade könne genauso einen Zeitraum von zehn Tagen oder Monaten bezeichnen, lässt die Beleglage doch nur den Schluss zu, dass das Wort in der Gegenwart fast ausschließlich für eine Spanne von zehn Jahren verwendet wird. 2016 etwa initiierte die Bundesregierung eine »Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade)«, die bis 2026 andauern soll. Daneben wird Dekade im Rahmen einer weiteren Bedeutungsverengung häufig auf ein ganz bestimmtes Kalenderjahrzehnt bezogen. Beispielsweise heißt es in einer Geschichte der deutschen Lyrik: »Die sechziger Jahre waren eine Dekade der Umbrüche und scharfen Schnitte.«