Hier handelt es sich um den jüngsten Neuzugang im deutschen Bildungswortschatz. Disruption steht seit 2020 im Rechtschreibduden, man findet es weder im Grimm’schen Wörterbuch noch im »Deutschen Fremdwörterbuch«. Im »Wörterbuch der Gegenwartssprache« aus der DDR taucht das feminine Substantiv genauso wenig auf wie im zehnbändigen Duden »Das große Wörterbuch der deutschen Sprache« aus der alten Bundesrepublik. Auch in den Belegsammlungen des DWDS ist es vor 2000 nicht vertreten. In den Millionen Digitalisaten von älteren Zeitungen und Büchern in der Bayerischen Staatsbibliothek in München erscheint Disruption nur als Zitat aus dem Englischen; gemeint ist dabei fast immer die »Great Disruption«, die große Glaubensspaltung, die 1843 zur Entstehung der »Free Church of Scotland« führte. Selbst im Englischen war disruption, das ›Abbrechen (beispielsweise eines Felsen oder Eisbergs), Unterbrechen, Zerbrechen, Störung‹ bedeuten kann, vor dem Ende des 20. Jahrhunderts nicht sehr häufig; das »Oxford English Dictionary« führt nur wenige ziemlich alte Belege für das Wort, das aus dem spätlateinischen disrumpere (›auseinanderbrechen, zerbrechen‹) abgeleitet ist.
Erst um die Jahrtausendwende tauchte disruption sowie das zugehörige Adjektiv disruptive in amerikanischen Publikationen als viel genutztes Fachwort auf. Man beschrieb damit den Bruch mit Konventionen und vor allem das Aufkommen innovativer Technologien und Geschäftsmodelle, die ihre Vorgänger komplett überflüssig machten. In dieser Bedeutung wurde das Wort ins Deutsche übernommen. Seinen Aufstieg verdankte es eindeutig der digitalen Revolution: Der Onlinehandel etwa war die große Disruption im Verkauf, die Suchmaschinen machten auf disruptive Weise Lexika, Wörterbücher und vieles andere überflüssig.
Auch wenn Disruption aus dem Englischen zu uns kam, wurde seine Weltkarriere durch einen Franzosen befördert. Der international tätige Werbemanager Jean-Marie Dru veröffentlichte 1996 zunächst in den USA das Buch »Disruption. Overturning Conventions and Shaking Up the Marketplace«, ein Jahr später erschien es auf Französisch und Deutsch – hierzulande unter dem Titel »Disruption. Regeln brechen und den Markt aufrütteln«. So gilt Dru als derjenige, der Disruption in der internationalen Sprache der Ökonomie und Werbung etablierte.
Das Duden-Fremdwörterbuch definiert Disruption als ›einschneidende (meist zerstörerische) Veränderung‹. In Zeitungsquellen ist das Wort in diesem neuen Sinn seit 2002 nachweisbar, zunächst noch mit Bezug auf die USA. In einem Artikel in der »taz« über einen Reklamefilm der Jeansmarke Levis, der erstmals klassische Musik verwendete, wird eine Werberin zitiert: »Cathrin Robertson von Levis spricht von ›disruption‹, einem Durchbrechen des Erwartbaren.« In der »Zeit« erscheint Disruption 2013 und wird als ›schöpferische Zerstörung‹ erklärt; dieser Ausdruck war schon von dem 1950 verstorbenen Wirtschaftstheoretiker Joseph Schumpeter geprägt worden und ist tatsächlich weitgehend synonym mit dem neuen Anglizismus.
In der deutschen Politikersprache kommt Disruption in der Mitte der Nullerjahre an. Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa sieht im Oktober 2016 »Kräfte der Disruption, wie man heute sagt,« am Werk, »die unsere Zukunft mit allen Chancen und Risiken prägen werden«. Seitdem verwendeten sie und ebenso Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Wort häufiger in Reden.
Heute ist das Wort bildungssprachlich und halbbildungssprachlich so allgegenwärtig, dass bei seinem Gebrauch Vorsicht walten sollte. Bezeichnend ist, dass 2022 in der Krimikomödie »Glass Onion« mit Daniel Craig eine Gruppe zwielichtiger Entrepreneure von sich selbst stolz als »the great disruptors« spricht – im Film dient das eindeutig dazu, sie als aufgeblasen zu charakterisieren.