Dystopie

Damit wir dieses Wort brauchten, musste uns erst der optimistische Blick auf die Zukunft abhandenkommen. Die Zahl der Dystopie n, die heute fürs Kino, in der Literatur oder im Pop produziert werden, übertrifft die Zahl der Utopien bei Weitem – und selbst die Utopien sind oft nur kaum versteckte gruselige Dystopien.

Das Wort ist eine Lehnübersetzung des englischen Substantivs dystopia, das seit den 1950er-Jahren als Gegenwort zu utopia nachweisbar ist: Utopia bezeichnet im Englischen nicht nur das fiktive Land mit einer demokratischen Gesellschaft in einem Buch, das der Engländer Thomas Morus 1516 auf Lateinisch publizierte, sondern – kleingeschrieben – auch ein Produkt der Gattung optimistischer Zukunftsvisionen, die Morus mit seinem Werk begründete.

Der älteste Beleg für dystopia im »Oxford English Dictionary« stammt von den Professoren Glenn Negley und J. Max Patrick, die 1952 ihr Buch »The Quest for Utopia« veröffentlichten und darin den Anspruch anmelden, das Wort geprägt zu haben. Die aus dem Griechischen entlehnte Vorsilbe dys- hat die Bedeutung ›schlecht‹, und so ist dystopia der schlechte, kaum erstrebenswerte topos (›Ort‹), an dem man lieber nicht sein möchte.

Wenig bekannt ist außerhalb von Fachkreisen, dass Dystopie seit dem 19. Jahrhundert in der Sprache der Medizin beschreibt, dass sich ein Organ nicht am üblichen Ort im Körper befindet; häufig ist davon eine Niere betroffen. Dieser fachsprachliche Gebrauch hat jedoch keinen Einfluss auf die Verwendung des Wortes in der heutigen Bildungssprache.

Im Deutschen ist Dystopie im Sinne von ›Anti-Utopie‹ seit den 1980er-Jahren nachweisbar. 1989 wird es zum Beispiel in einer Dissertation über »Probleme der Utopie bei Christa Wolf« von Schoro Pak verwendet, 1998 dann in einem Buch des Science-Fiction-Experten Torben Schröder, der es folgendermaßen erklärt: »Die Dystopie, auch Anti-Utopie genannt, ist eine ins Negative verkehrte Spielart der Utopie. Statt eine positive Vision, ein Leitbild zu vermitteln, wird in der Dystopie anhand eines Warnbildes dargestellt, wie es im schlimmsten Falle sein könnte.«

Doch erst nach 2000 steigt der Gebrauch des Wortes steil an. Es wird ein typischer Feuilletonistenausdruck, der kennerisch Werke wie George Orwells »1984« oder Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«, aber ebenso aktuelle Romane von Juli Zeh oder Lauren Goff sowie Filme wie »Die Tribute von Panem« charakterisiert.