enigmatisch

Die meisten Gebildeten wissen heute, was enigmatisch heißt – aber was um alles in der Welt ist änigmatisch? Walter Benjamin schreibt in seinem Buch »Der Ursprung des deutschen Trauerspiels« von »änigmatischen Hieroglyphen«, mit denen sich die Gelehrten der Renaissance und des Barockzeitalters beschäftigten. Tatsächlich war die Schreibweise mit ä eine Zeit lang üblich neben der mit e, die 1538 in einem Buch des protestantischen Theologen Georg Witzel erstmals belegbar ist. Dieser bezeichnet eine Bibelstelle im Lukasevangelium als »eins teils enigmatisch« – also teilweise rätselhaft –, wenn Jesus seinen Jüngern rät: »Aber nun, wer einen Geldbeutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch eine Tasche, und wer’s nicht hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert.«

Die Variante mit ä orientiert sich am lateinischen Wort aenigma (›Rätsel, Geheimlehre‹), das auf das gleichbedeutende griechische ainigma zurückgeht. Benjamin schreibt also philologisch gesehen korrekter. Trotzdem ist enigmatisch mit e von Anfang an die häufigere Form, während das neutrale Substantiv Enigma, das erst im 18. Jahrhundert in deutschen Texten auftauchte, zunächst noch überwiegend Aenigma geschrieben wurde.

Enigmatisch wie Enigma waren bis in die jüngere Zeit relativ selten. In die Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuchs wurde das Adjektiv ebenso wenig aufgenommen wie ins »Deutsche Fremdwörterbuch«; selbst in den mehrbändigen gegenwartssprachlichen Wörterbüchern der DDR und der Bundesrepublik fehlt es noch. Jedoch stieg sein Gebrauch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – möglicherweise unter dem Einfluss des englischen enigmatic. Zum Beispiel überlegt in Ingeborg Bachmanns Roman »Malina« von 1971 eine verwirrte Sängerin, die sich vom Gehilfen des Intendanten ein Textbuch erbeten hatte: »Er und alle anderen lächeln enigmatisch, sie wissen etwas, was ich nicht weiß, was wissen die alle nur?« Lustigerweise wird Bachmann dann selbst 2017 in einem Artikel für die »Zeit« von der Schriftstellerin Eva Menasse als »enigmatische Dichterin« bezeichnet.

Zu diesem Zeitpunkt ist enigmatisch längst eine allgegenwärtige Vokabel der Feuilletons, die für die Charakterisierung von Wagners Bühnenwerken, Mahlers Symphonien und den Sänger David Bowie ebenso verwendet wird wie für die Regierungstätigkeit des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer.