In Woody Allens wunderbarem Spätwerk »Midnight in Paris« reist ein amerikanischer Drehbuchautor, der lieber künstlerisch wertvolle Romane schreiben will, mit seiner Verlobten nach Paris. Dort wird ihm aber umso schmerzhafter bewusst, dass er nur ein Epigone ist und für die wirklich großen Zeiten der Moderne fast ein Jahrhundert zu spät kommt. Als er aufgrund eines unerklärlichen Phänomens nächtliche Zeitreisen in das Paris der Zwanzigerjahre antreten kann und dort Hemingway, Gertrude Stein, Picasso, Dalí und F. Scott Fitzgerald kennenlernt, bemerkt er, dass es auch in jener Epoche Menschen gibt, die mit dem Gefühl leben, eine viel bedeutendere Ära versäumt zu haben. Mit einer jungen Muse, in die er sich verliebt und die sich nach der Belle Époque um die Jahrhundertwende sehnt, zeitreist er um weitere Jahrzehnte zurück. Dort offenbaren ihm drei Künstler, die wir heute als Riesen ansehen – Henri de Toulouse-Lautrec, Edgar Degas und Paul Gauguin –, dass sie sich ebenfalls als Epigonen empfinden und selbst lieber in der Renaissance gelebt hätten.
Das Wort epigonos bedeutet im Griechischen ›Nachkomme‹ und wurde in mythologischen Erzählungen für die Söhne der »Sieben gegen Theben« gebraucht, die zehn Jahre nach der Niederlage und dem Tod ihrer Väter die Stadt eroberten. In deutschen Texten liest man Epigone seit dem späten 18. Jahrhundert, zunächst noch im neutralen Sinne von ›Nachfolger‹. Eine nachhaltige Bedeutungsverschlechterung erfuhr das Wort 1836 durch Karl Immermanns Roman »Die Epigonen«. Darin plagen sich ein junger Mann und eine Adelsfamilie mit dem Leben in überholten Verhältnissen und der Wiederholung der Vergangenheit als Farce. Der Autor erklärt sein Werk in einem Brief:
»Die Epigonen« behandelt den Segen und Unsegen des Nachgeborenseins. Unsere Zeit, die sich auf den Schultern der Mühe und des Fleißes unserer Altvorderen erhebt, krankt an einem gewissen geistigen Überflusse. Die Erbschaft ihres Erwerbes liegt zu leichtem Antritte uns bereit, in diesem Sinne sind wir Epigonen. Daraus ist ein ganz eigentümliches Siechtum entstanden.
Seither werden das Wort Epigone und das Adjektiv epigonal zur Beschreibung ähnlich empfundener Zustände genutzt. Aus der Mode kam es aber nie: Einerseits, weil Neuheit in der europäischen Kultur spätestens seit dem Geniekult der Sturm-und-Drang-Epoche einen höheren Wert hat als Nachahmung und Regelhaftigkeit. Andererseits, weil das Gefühl vorherrscht, dass seit dem Höhepunkt der künstlerischen Moderne im 20. Jahrhundert sowie dem Ende der großen Welterklärungsmodelle in der Zeit nach 1989 nichts grundlegend Neues mehr in Kunst und Politik hinzukommt – im krassen Gegensatz zu den rasenden technischen Entwicklungen.
Typisch für den Gebrauch des Wortes ist das Urteil, das Willy Brandt in seinen Erinnerungen über die CDU-Politiker nach dem ersten Kanzler der Bundesrepublik fällt: »Was bei Adenauer noch Grund und jedenfalls Format gehabt haben mag – auch wenn es auf eine Goldwaage schon damals nicht paßte – wurde durch wiederkäuende Epigonen zum puren Ärgernis.«
Das Dilemma des Epigonentums, das – siehe Woody Allen – manchmal nur ein eingebildetes ist, bringt Ernst Bloch in »Das Prinzip Hoffnung« auf den Punkt: »Der Epigone befindet sich stets nur auf den gangbaren Straßen, welche Produktivität vor ihm gebaut und geschmückt hat, in der Notierung des Neuen verhielt sich aber auch die bisherige Produktivität so, als kenne sie nur Epigonentum.«